„Pancho, Pancho, komm her!“ Aber Pancho lässt sich lange bitten an diesem regennassen Morgen. Erst nach einer guten Stunde Wartens erklingt sein Ruf, der eher an ein dunkles Hundebellen erinnert als an einen Vogelschrei. Und dann kommt er höchstpersönlich. Auf starken grauen Beinen läuft er heran und widmet sich sofort den fetten Regenwürmern, die unser Begleiter Diego extra für ihn gesammelt, zerschnitten und in einer alten Waschpulverdose zum Futterplatz transportiert hat.
Pancho und seine etwas schüchterne Frau Bibi gehören zur seltenen Art des Jocotoco Antpitta (Grallaria Ridgelyi) – eines Vogels, der fast ausschließlich im Reservat Tapichalaca im Südosten Ecuadors auf einer Höhe zwischen 2250 und 2700 Metern vorkommt. Rund 25 Paare leben hier, dazu noch einmal etwa zehn im benachbarten Nationalpark Podocarpus. Erst 1997 entdeckte der amerikanische Ornithologe Robert Ridgely diesen großen, fast schwanzlosen Vogel, der kaum fliegt und dennoch rund 30 Hektar Lebensraum für sich und seine Partnerin benötigt. Um diese Art zu schützen wurde 1998 die Stiftung Jocotoco gegründet, die heute 16 Reservate in ganz Ecuador verwaltet.
In 20 Minuten in die nächste Klimazone
Wir sind auf einer mehrtägigen Reise rund um den Podocarpus Nationalpark. Ein Park, der sich über fast 150.000 Hektar in zwei Provinzen Ecuadors erstreckt und dabei vom subtropischen Urwald auf 900 Metern über Nebelwälder bei 2500 Metern Höhe bis zur kargen Landschaft des Páramo auf 3800 ein ganzes Spektrum von Klimazonen umfasst. Verbindendes Element in dieser Zeit des Jahres ist der Regen, der täglich mehrmals auf uns niederströmt. Der aber auch für die unendlichen Schattierungen an sattem Grün sorgt, wohin man auch blickt – hier ist nichts blass, zurückhaltend, diskret, sondern knallig, intensiv, raumgreifend.
Kakao wurde vor 5500 Jahren bereits in Ecuador kultiviert
Nicht nur der ständige Wechsel von Höhe, Temperatur, Flora und Fauna raubt uns den Atem – es gibt auch faszinierende Geschichte zu entdecken. Von Tapichalaca ist es nicht weit bis zu den Ruinen von Santa Ana-La Florida nahe dem Dorf Palanda. Diese Begräbnis- und Kultstätte einer 5500 Jahre alten Kultur, der Mayo-Chinchipe-Marañón, wurde in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts durch Zufall bei Straßenbauarbeiten entdeckt. Zeugnisse derselben Kultur, die Beziehungen zur weit entfernten Küste Ecuadors pflegte, sind auch auf peruanischer Seite der heutigen Grenze an mehreren Orten zu finden. Am meisten Aufsehen erregte bei den 2002 begonnenen Forschungsarbeiten die Entdeckung von Kakaospuren in den als Grabbeigaben gefundenen Gefäßen. Anders als bis dahin angenommen, ist die Kakaopflanze wohl zuerst im heutigen Ecuador kultiviert worden und erst später nach Mittelamerika gelangt.
Entspanntes Leben in Vilcabamba
Ganz andere Eindrücke erwarten die heutzutage wenigen Touristen im südlich gelegenen Städtchen Vilcabamba, wo den Gerüchten zufolge die ältesten Menschen Ecuadors leben. Zu dem Bild einer Stadt der fröhlichen Alten trägt vor allem die Präsenz zahlreicher amerikanischer Rentner bei, die das angenehme Klima, die niedrigen Lebenshaltungskosten und nicht zuletzt die Schönheit der Natur hierher gebracht haben. Da sind sie gerne bereit, auf die Annehmlichkeiten eines entwickelten Gesundheitssystems zu verzichten, und verlassen sich lieber auf tägliches Yoga, das obligatorische Amulett um den Hals und gesunde Ernährung. Kein Vier-Quadratmeter-Lädchen, in dem nicht neben den üblichen Bergen frischer Früchte lokal produziertes Müsli und organisches Kokosöl angeboten werden. „Und wissen Sie, die Coronamaßnahmen sind hier einfach nicht so strikt, das tägliche Leben ist viel angenehmer!“ So erzählt es ein älteres Ehepaar im arabischen Restaurant UFO, einem beliebten Treffpunkt der Internationalen, zentral neben der katholischen Kirche im ehemaligen Pfarrhaus samt Garten gelegen.
Und dann ist da noch der Podocarpus Nationalpark selbst. Seine zwei Zugänge liegen gut drei Fahrstunden und 1.600 Höhenmeter voneinander entfernt in zwei Welten. Der Nordeingang Cajanuma nahe Vilcabamba erweist sich als schwierig: „Montags sind wir wegen Desinfektion geschlossen“. Aber der Mittwoch ist nicht besser: „Nein, so spät – es ist viertel vor zwei am Nachmittag – dürfen Sie nicht mehr in den Park, wir haben neue Regelungen wegen der Pandemie“. Es reicht schließlich für eine kurze Runde durch wunderschöne Alleen, mit weiten Blicken in das angrenzende Tal – die Lagunenwanderung muss bis zum nächsten Mal warten.
Rüde Rückkehr in die Wirklichkeit
Den Podocarpus-Baum, die einzige endemischen Konifere Ecuadors, die eigentlich Blätter und keine Nadeln hat, sehen wir hier überraschend nicht, sondern erst einen Tag später am tropischen Ostrand des Parks bei Zamora. Während wir am Abend zuvor noch fröstelnd vor dem Ofenfeuer kauerten, begrüßen uns in Copalinga, dem jüngsten Reservat der Stiftung Jocotoco, sommerliche Temperaturen. Rote und gelbe Baumwurzeln durchziehen den Waldboden, leuchtend blühende Bromelien besiedeln jeden Ast. Nur mit den Vögeln haben wir hier weniger Glück – weder den erhofften Weißbrustsittich noch den Graufußtinamou bekommen wir zu Gesicht. Und auch ein Ausflug zum leider abseits aller Hauptstraßen gelegenen Informationszentrum des Volkes der Shuar endet unerwartet vor verschlossenen Türen.
Den Nationalpark verlassen wir schließlich nach Überwindung eines wenige Minuten zuvor gespannten gelben Absperrbandes: „Gefahr, Zutritt verboten“. Wieder neue Maßnahmen gegen die Pandemie, augenblicklich umgesetzt. Die Vertreibung aus dem Paradies geht nur allzuschnell.
08. April 2021