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Musik

„Manuela y Simón“ in der Casa de la Cultura

Am 24. Mai 2022 feiert Quito sein „Bicentenario“, den 200. Jahrestag der Schlacht am Vulkan Pichincha, in der die Aufständischen unter Antonio José de Sucre das spanientreue Heer schlugen und damit die Unabhängigkeit Ecuadors von der spanischen Krone besiegelten. Simón Bolivar, der „Befreier Lateinamerikas“, nahm an der Schlacht nicht teil, da er durch Kämpfe in Pasto, im Süden des heutigen Kolumbiens, aufgehalten wurde, zog aber wenig später umjubelt in Quito ein. Bei diesem Aufenthalt lernte er Manuela Sáenz kennen, uneheliche Tochter eines spanischen Edelmannes und engagierte Freiheitskämpferin, die alsbald seine Geliebte wurde. Unter dem Titel „Manuela und Simón – Musik aus der Zeit, als Quito seine Unabhängkeit erklärte“, präsentieren Studenten der Universidad Central am Tag der Schlacht von Pichincha in der Casa de la Cultura Ecuatoriana ein Gesamtkunstwerk, dessen Inspiration Melodien aus dem Quito der 1820er Jahre bilden.

In dem mit 1500 Zuschauern vollständig gefüllten Saal ist auch auf der Bühne an diesem Abend nur wenig Platz: Rund 60 Studierende des Fachbereiches für Musik bilden das eigens formierte „Orchester der Unabhängigkeit“, das unter der Leitung von Juan Carlos Panchi und César Santos Tejada symphonische und einheimische Instrumente wie Quena und Zampoña vereint. Dazu ein zwanzigköpfiger Chor, ein interdisziplinär genanntes Tanzensemble, und das Ganze moderiert von den souverän agierenden Schauspielern und Dozenten Santiago Rodriguez und Madeleine Loayza.

Zwei musikalische Welten treffen aufeinander

Das musikalische Quito zu Beginn des 19. Jahrhunderts war geprägt durch zwei Welten, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Die traditionelle, pentatonisch geprägte Musik der Andenbevölkerung, meist von Blas- und Schlaginstrumenten interpretiert, war das, was die einfache Bevölkerung außerhalb der katholischen Gottesdienste hörte und spielte. Die bereits in Lateinamerika geborenen spanischstämmigen Siedler und Mestizen dagegen hatten Kontakt zur religiösen und zunehmend auch weltlichen Musik der europäischen Kolonialherren, die von Komponisten vor Ort aufgenommen und in ihrem eigenen Stil weiterentwickelt wurde. 

Beide Elemente vereinen sich in der 1848 in Quito zusammengestellten Ausgabe von „Alten und neuen Toccaten für Violine“, deren tänzerische Melodien die Grundlage der meisten symphonischen Arrangements von „Manuela y Simón“ bilden. Keine leichte Aufgabe, dieser Schritt von der ganz kleinen zur ganz großen Form. Die meisten der so entstandenen „symbiotischen“ Orchesterstücke entstammen der Feder von Pablo Guerrero Gutiérrez, einem unermüdlichen und präzisen Forscher zur ecuadorianischen Musikgeschichte. Der Abend beginnt mit volkstümlichen, eher mystischen Klängen, die laut dem exzellenten Programmheft die musikalische Vielfalt Ecuadors evozieren sollen. Aber schon die nächsten Stücke schlagen die Brücke zwischen Neuer und Alter Welt, zwischen revolutionären Ereignissen auf zwei Kontinenten. „Der Jakobiner“ und „Die Guillotine“ nennen sich die beiden Kompositionen, von denen letztere ganz unverhohlen auf Melodie und Duktus der Marseillaise anspielt, um sich anschließend in ein eher leichtfüßiges Tanzstück zu verwandeln.

Melodien, die den Kampf um die Unabhängigkeit begleiteten

Viele der hier bearbeiteten Kompositionen tragen Originaltitel, die auf Ereignisse des Unabhängigkeitskampfes von Quito verweisen: „Die Niederlage am Panecillo“ oder „1° Pichincha“, vermutlich eine Referenz an ein so benanntes Batallion der Unabhängigkeitskämpfer. Und es wird noch konkreter: „Diesen Walzer spielten die Soldaten, als Simón Bolivar in Quito einzog“, heißt es in dem Manuskript von 1848. Neben dem modernen Walzer zählte offenbar auch der schon etwas altmodische Kontratanz zu den bevorzugten Tänzen der Quiteños: In der Netflix-Serie „Bolivar“ tanzt Manuela Sáenz mit ihrem zukünftigen Liebhaber, den sie gerade erst persönlich kennengelernt hat, diesen Gruppentanz – so wie es auch aus ihren Briefen an Bolivar überliefert ist.

In der Casa de la Cultura aber wird es jetzt lebhaft: Mit der „Bomba“, einem traditionellen Tanz der afroamerikanischen Bevölkerung des Chota-Tals, der bis heute in Ecuador populär ist, steigt das Tempo auf der Bühne wie auch die Begeisterung im Zuschauerraum. Eine der Tänzerinnen balanciert eine Flasche auf dem Kopf, ohne dabei im Hüftschwung innezuhalten – das Publikum applaudiert lautstark. Und auch der folgende „Kapuziner“ (Capuchino), eigentlich ein Walzer mit Salonmusik-Anklängen, trägt deutlich zur Stimmung bei. 

Von den Tänzern war bisher noch nicht die Rede. Die zwölf jungen Leute aus ganz  Ecuador geben der Aufführung die Lebendigkeit, der bei einem so wissenschaftlich angegangenen Konzert sonst vielleicht gefehlt hätte. Sie rennen, springen, rollen über den Boden, machen das Gehörte konkret und plastisch, schaffen eine Verbindung zwischen Musik und Zuschauern, die in ihrer Körperlichkeit an Aufführungen des „Sacre du Printemps“ von Strawinsky erinnert.  Und bilden so auch einen lebendigen Kontrast zu den etwas blutleer wirkenden Bildprojektionen im Bühnenhintergrund.

Die Universidad Central ist die älteste Universität Ecuadors – und eine der ärmsten

1100 Studenten hat die Fakultät für Bildende und Darstellende Kunst an der traditionsreichen Universidad Central, der ältesten Universität Ecuadors. „Wichtiger als alles ist die Bildung“, lautet ihr Motto. „Unsere Studierenden kommen aus den ärmsten Gegenden des Landes“, erläutert die Dekanin der Fakultät, Carmen Jijón. Was für viele Studierende teurer Privatuniversitäten selbstverständlich ist, eine gute Ausbildung, Zugang zu Kunst, Musik und Tanz, haben sich diese jungen Leute hart erarbeitet. 

„Da me la fuerza para luchar, Manuela“ (Gib mir den Mut zu kämpfen) singen sie in dem für den Anlass geschriebenen Schlusschor des Komponisten Luis Rodríguez Pazmiño. Ein Schelm, wer sich dabei klanglich an die Carmina Burana erinnert fühlt. An Emotionen jedenfalls mangelt  es nicht an diesem Abend. Dieser Tage kursieren in der Presse Kommentare zu einer angeblichen Kampagne der neuen Leitung der „Casa de las Culturas“, wie sie sich in den sozialen Medien nun nennt,  gegen Eurozentrismus und koloniale Erblasten. Nennen wir es pragmatisch einfach eine Äußerung von Selbstbewusstsein. „Adelante, adelante, adelante Universidad Central“ (Vorwärts, Universidad Central), ruft der Saal, als sich die Musiker und Tänzer verbeugen. Da kann man nur mit einstimmen.

25. Mai 2022

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