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Jeden Abend ein wenig länger – Ecuador Jazz 2022

Es lebt wieder, das Zentrum von Quito. Am Freitagabend um kurz nach sechs schieben sich die Menschen durch die enge Calle Guayaquil, eilen mit Einkäufen und Kindern beladen über den Theaterplatz. Es dämmert schon, und im wiedereröffneten Café gegenüber dem Teatro Sucre trinken Bildungsbürger und Kunstschaffende den ersten Rotwein des Abends aus Plastikbechern.

Wer im Parkhaus einen Block weiter für das Auto keinen Platz mehr gefunden hat, dem bleiben noch die düsteren Katakomben an der Ecke zur Calle Manabí. Aussteigen im Dämmerlicht, die Tasche fest im Griff, einmal in alle Richtungen umsehen, und dann zügigen Schrittes zum Ausgang. Oben hat sich in einer Ecke des Theaterplatzes ein Streifenwagen positioniert, unübersehbar und mit blinkenden Lichtern. Aus gutem Grund. Denn das größte Problem für die Kultur im Zentrum der Stadt ist mittlerweile nicht mehr die Corona-Pandemie, sondern die Angst der Bürger vor Diebstählen und Überfällen. Die fast zwei Jahre lange Paralysierung des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens führte in der Innenstadt dazu, dass sich schon am frühen Abend kaum noch jemand ohne Not auf der Straße bewegte. Das historische Zentrum wurde zu einer Art rechtsfreiem Raum – einem Raum, den sich die Ladenbesitzer, Theater, Restaurants und Institutionen nun Schritt für Schritt, gewissermaßen Minute für Minute zurückerobern. Dass mit „Ecuador Jazz 2022“ ein wichtiges Festival nun wieder genau hier, im Herzen der Stadt, stattfindet, ist ein gutes Zeichen.

Das Theater bei Tag – ganz ohne Jazz

Im hell erleuchteten Foyer des 1879 – 1886  im Stil des Neoklassizismus erbauten Teatro Sucre stellt der Caterer Soft Drinks und Häppchen auf. Eine Gruppe von Frauen verkauft Naturprodukte und fair produzierte Kleidung sowie Werbematerial rund um das Festival. Die Komponistin und Pianistin Lyzbeth Badaraco mit ihrer Band präsentiert heute Abend ihr zweites Album „Bucle“; anschließend steht ein Konzert der Banda Metropolitana de Quito unter Leitung des amerikanischen Gastdirigenten Matthew Westgate auf dem Programm. Ein spannender Abend – nur die Zuhörer lassen auf sich warten. Lediglich die Hälfte der fast 800 Plätze ist am Ende besetzt, viele wohl mit Freunden und Verwandten der Musiker. „Unsere zentrale Lage ist im Moment unser größtes Problem“, berichtet Stalin Lucero, der Produktionsleiter der Spielstätte. „Wir haben bieten ein wirklich abwechslungsreiches Programm, haben tausend Ideen, aber die Leute fürchten sich zu kommen.“ 

Angst macht taub und blind – und ein Abend im Zentrum lohnt sich

Dabei lohnt es sich. Lyzbeth Badaraco hat neben ihrer Band eine Reihe von Musikerinnen mitgebracht, darunter die bekannte Liedermacherin Grecia Albán und die wirklich spektakuläre Sängerin Alejandra Cabanilla. „Soleá“, eine traurige Ballade zu Worten von Federico García Lorca, widmet Cabanilla der jungen Anwältin María-Belén Bernal, die vor zwei Wochen in den Räumen der hiesigen Polizeiakademie ermordet wurde. Ihr Fall bewegt seitdem das Land; Frauenorganisationen gehen täglich gegen die Missachtung von Frauenrechten und die zunehmende Zahl an Femiziden auf die Straße. Der im Hintergrund laufende Videoclip zu „Soleá“ interpretiert das Lied als Hoffnungsbotschaft an alle Frauen, die sich in ihrem Leben und in ihren beschränkten Möglichkeiten gefangen fühlen.

Wer diese und andere Kompositionen Badaracos nicht nur einmal hören möchte, kann in der Pause am Verkaufstisch ein Set von handbemalten hölzernen Matrjoschkas erwerben, die über einen am Fuss einer Puppe aufgeklebten Barcode das Herunterladen erlauben – auch hier bleibt das Frauenthema präsent.

Nicht CD, nicht Spotify, sondern Matrjoschka – das neue Album von Lyzbeth Badaraco

Anschließend Szenenwechsel. Mit schmissigen Rhythmen holen die „Banda Sinfónica Metropolitana de Quito“ und der brasilianische Saxofonist Felipe Salles das Publikum in den Saal zurück. Das 1990 gegründete Blasorchester hat sich in den letzten Jahren unter Leitung des jungen venezolanischen Dirigenten Luis Alberto Castro trotz Pandemie zu einer festen Größe im musikalischen Leben Quitos entwickelt. Der US-amerikanische Gastdirigent Matthew Westgate von der Massachusetts University ist bereits zum zweiten Mal in Ecuador, um mit dem Ensemble zu arbeiten. Er ist von der Entwicklung des Orchesters sichtlich begeistert. „Ich bin sehr dankbar dafür, mit diesen wunderbaren Musikern zusammenzuarbeiten!“ Die Schlagzeuger beeindrucken gleich zu Beginn des Konzerts mit virtuosen Soloeinlagen; in der zweiten Programmhälfte mit viel „Westside Story“ sind vor allem die langen Linien der Klarinetten ein Genuss. Und was Musikalität und Zusammenspiel angeht, ist die „Banda Metropolitana“ dem Nationalen Sinfonieorchester im Moment sicherlich überlegen. Als wir nach Beifall und Vorhang zufrieden wieder auf dem Theaterplatz ankommen, hat die Bar gegenüber tatsächlich noch geöffnet für ein zweites Glas…

Die selbstproklamierte „Band der Gegenkultur“, Dozenten der Universidad Central, eine kubanische Frauenband – an Vielfalt mangelt es nicht bei Ecuador Jazz 2022

Das Ecuador Jazz Festival 2022 hat seit dem 15. September zehn Tage lang das Zentrum Quitos bespielt. Konzerte im  ehemaligen Kinosaal des Teatro Variedades und eben im Teatro Sucre, Jam Sessions im Restaurant Caponata und der Lounge Curuba mit Gruppen aus Puerto Rico, Kuba, Frankreich, Peru und Argentinien haben zahlreiche Besucher angelockt. Das kostenlose Abschlusskonzert auf dem Theaterplatz leidet am Sonntag zwar unter strömendem Nachmittagsregen, aber das motivierte Publikum zückt die Regenschirme und bleibt – erst einmal. Erst wenn der Abend kommt, wird der Platz wieder verlassen sein, und der blinkende Streifenwagen umso sichtbarer.

27. September 2022

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