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Ich bin dann mal in Miami

In ihrem Bemühen, das heutige Ecuador zu verstehen, führen sich Europäer meist die koloniale Vergangenheit des Landes vor Augen. Unübersehbar prägt das spanische Erbe weiterhin den Alltag der hier lebenden Menschen, oft gegen ihren Willen. Spanisch bleibt die Sprache des Staates und seiner Schulen (das vor allem von Indigenen als Muttersprache gesprochene Quechua ist als Unterrichtssprache de facto nicht anerkannt). Auf den im spanischen Hacienda-Stil erbauten Landsitzen der alteingesessenen Familien frieren so manche Nachkommen der Eroberer in zugigen Zimmern weiter vor sich hin. Und viele Indigene blicken bis heute einem „Weißen“, den sie automatisch als Teil der herrschenden Elite wahrnehmen, niemals in die Augen, weil der direkte Blick in früheren Zeiten als aufmüpfig galt.

Längst haben die USA Europa als Bezugspunkt und Traumort der lateinamerikanischen Eliten abgelöst

Aber wohl gerade wegen der jahrhundertealten erzwungenen Verbindung zu Europa haben die Vereinigten Staaten seit dem zweiten Weltkrieg den „alten Kontinent“ als Orientierungspunkt und Traumort der hiesigen Eliten abgelöst. In der städtischen Oberschicht ist es gang und gäbe, die Kinder auf eine amerikanische oder zumindest englischsprachige Schule zu schicken, damit das anschließende Studium in den Staaten umso leichter fallen möge. Auch in weniger begüterten Familien finden sich fast immer Verwandte, die zu irgendeinem Zeitpunkt auf die eine oder andere Weise in die USA ausgewandert sind. Der wochenendliche Bummel im amerikanisch inspirierten Einkaufszentrum zählt in Quito, ebenso wie der obligatorische Einkauf im viel zu teuren Supermarkt „MegaMaxi“, zu den Statussymbolen jener wenigen Bürger, die über ein regelmäßiges Einkommen verfügen.

Anlässlich einer Reise in das nur dreieinhalb Flugstunden entfernte Miami wird die ganze Dimension dieser Beziehung konkret. Fünf Direktflüge dorthin gibt es täglich von Guayaquil und Quito aus. Über 50.000 Ecuadorianer leben allein in Florida, rund 750.000 sind es offiziell in den gesamten Vereinigten Staaten; zehn ecuadorianische Konsulate kümmern sich dort um die Belange ihrer Landsleute. Der Mitarbeiter der Autovermietung am Flughafen von Miami entspannt sich sichtlich, als wir vom Englischen ins Spanische wechseln. Wer auf dem Weg vom Flughafen nach Miami Beach die Mautgebühren vermeiden will und deshalb über kleinere Seitenstraßen fährt, fühlt sich optisch Lateinamerika sehr nahe: Die Dächer der niedrigen Häuschen am Straßenrand sind mit Ziegeln nach spanischer Manier gedeckt; neben den Haustüren finden sich die vertrauten Ansammlungen von alten Möbeln, kaputtem Hausrat und Müll. Ein verblichenes Ladenschild preist mit „fiestas de niños“ Zubehör für Kindergeburtstage, an.

Shoppen wie daheim in Quito – aber größer, schicker, hoffentlich billiger

Die teureren Privatschulen Ecuadors verlangen von ihren Abiturientinnen, zur Abschlussfeier nach Opernball-Manier im langen, weißen Kleid zu erscheinen. Was läge da näher, als den Kauf des Festgewands und der passenden Schuhe mit einer Reise nach Miami zu verbinden? „Ich war da schon ewig nicht mehr, aber viele meiner Freundinnen kennen sich bestens aus in den Einkaufszentren von Florida, die wissen genau, was es wo am günstigsten gibt“, erzählte eine Bekannte in Quito kürzlich beim Kaffee. Ein Besuch in der riesigen „Dolphin Mall“ außerhalb Miamis fühlt sich deshalb an wie der im heimischen „Quicentro“: „Diego, ven acá!“, herrscht eine genervte Mutter ihren kleinen Sohn an. „Estoy de compras, te llamo en seguida!“, wehrt ein mit Papiertüten bepackter Mittvierziger den Anruf eines Bekannten auf dem Handy ab.

Natürlich sind zum Einkauf in der abseits des Stadtzentrums gelegenen Mall alle mit eigenem oder gemietetem Auto angereist. Der Preis für eine Gallone bleifreien Benzins liegt mit rund 3,60 Dollar zwar höher als der in Ecuador mit 2,40 Dollar, ist aber gemessen an den amerikanischen Lebenshaltungskosten bescheiden. Und spätestens beim irgendwann fälligen Imbiss wird zwischen Styroporschalen, Plastikbechern und Papierservietten offensichtlich, warum alle individuellen und kollektiven Anstrengungen innerhalb Europas den weltweiten Klimawandel nicht aufhalten werden. Der Hunger ganzer Kontinente nach Teilhabe am Konsum der Industriestaaten ist so überwältigend, dass er sich durch Appelle an die Vernunft kaum sättigen lassen wird. 

Längst orientiert sich die Ästhetik der großen ecuadorianischen Städte am nordamerikanischen Vorbild

Die nordamerikanischen Vorstädte mit ihren gleichförmigen braun-beige gestrichenen Bauten, wo Einfamilienhaus, Burger-Restaurant, Kirche und Einkaufszentrum äußerlich kaum zu unterscheiden sind, prägen auch in den Städten Ecuadors Geschmack, Ästhetik und Einkaufsvorlieben. Die grellgelb bemalten Bordsteinkanten, die grünen Hinweisschilder auf den Autobahnen, alles bekannt von zu Hause. Das Supermarktsortiment der großen US-amerikanischen Ketten hat Einzug in die vergleichbaren Lebensmittelgeschäfte des südlichen Amerikas gehalten, und dasselbe gilt für die Preisgestaltung. Wer nie verstanden hat, warum Toilettenpapier in Ecuador so exorbitant teuer ist, wundert sich nicht mehr, nachdem er im Anschluss an den Besuch von Disney World in  Orlando „zwei Rollen dreilagig“ erstanden hat. Und sehnt sich kurz nach den ecuadorianischen Straßenverkäufern, wenn er im Zentrum von Miami Beach für eine geschnittene Mango sagenhafte zehn Dollar anstelle der gewohnten Dollarmünze auf den Tresen legen soll.

Ob Urlaubsland, Fluchtziel, Ort des Exils – die USA und Miami sind Teil des ecuadorianischen Kosmos‘

Die Sehnsucht ist groß: Über ein Jahr beträgt in Quito zurzeit die Wartezeit auf ein Touristenvisum für die Vereinigten Staaten. Wer weiß, dass er mangels finanzieller Rücklagen keine Einreisegenehmigung erhalten wird, und sich die dafür fällige Gebühr oder gar den Flug ohnehin nicht leisten könnte, versucht es immer häufiger zu Fuß: Allein in den letzten drei Monaten des Jahres 2022 wurden mehr als 35.000 Ecuadorianer bei dem Versuch, illegal in die Vereinigten Staaten einzuwandern, an der mexikanisch-amerikanischen Grenze  aufgegriffen. Angesichts der sich rapide verschlechternden Sicherheitslage in Ecuador und eines Arbeitsmarktes, der fast nur noch informelle Arbeitsverhältnisse kennt, dürfte der Auswanderungsdruck weiter zunehmen. Sollte das im ecuadorianischen Parlament betriebene Verfahren zur Amtsenthebung von Präsident Guillermo Lasso wegen Korruption Erfolg haben, könnte bald wieder ein anderer, typisch lateinamerikanischer Aspekt des USA-Tourismus’ aktuell werden: Immer schon waren Miami und andere größere US-amerikanische Städte beliebte Exilorte ehemaliger hiesiger Regierungsmitglieder oder anderer von Prozessen bedrohter Bürger.

Zwischen Quito und Miami liegen rund 2900 Kilometer Luftlinie. Das ist viel oder wenig, je nach Perspektive und Transportmittel. Die auf Shoppen und Genuss gepolten Wochenend-Touristen werden bei der Ankunft in Florida begrüßt von heimischen Reggetón-Klängen im Flughafenhotel, Salsa in den Bars von Wynwood, und kubanischer Live-Musik in Little Havana. Studenten, Exilanten und Migranten hoffen auf schnelle Integration in das Netzwerk der vielen Landsleute vor Ort. Ob kultureller Bezugspunkt, Stadt der Träume oder Zufluchtsort – Miami ist aus dem ecuadorianischen Kosmos nicht wegzudenken.

15. Januar 2023

2 Antworten auf „Ich bin dann mal in Miami“

Ein sehr interessanter Artikel, der an einem beiläufigen Detail deutlich werden läßt, wie wenig die moralische (werteorientierte) Sichtweise der Europäer und insbesondere der Deutschen an den globalen Problemen ändern werden.

Toller Einblick! In Bolivien kannte kaum ein betuchter Bolivianer die Cuevas de Torotoro, war aber schon mehrfach mit Mann und Maus in Disney!
Toll geschrieben!

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