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Leben und Gesellschaft

„Ich wollte Sie auch schon lange ansprechen“. Wie man als Flüchtling sein Schicksal selbst in die Hand nimmt 

„Déle nomás, déle! Weiter!“ Energisch winkt Edison Caiza (Name geändert)  einen weißen Geländewagen aus der Parklücke. „Fahren Sie ruhig, da kommt keiner! Und noch ein bisschen. Jetzt das Lenkrad einschlagen!“ Die zierliche Besitzerin des großen Autos tut, wie ihr geheißen. Reicht eine Münze aus dem Autofenster, erhält ein Lächeln und ein „Danke, Gott segne Sie“. Und fährt davon. Edison steht derweil schon an der Kasse des Obst- und Gemüsegeschäfts, der „Frutería“, vor der er arbeitet. Packt Ananas, Kochbananen und Kartoffeln in Plastiktüten, schleppt die prallen Tüten auf den Parkplatz, lädt ein. Schließt den Kofferraum, wünscht alles Gute, winkt das nächste Auto heran. Schon von Weitem ist er in seiner orangenen Warnweste zu sehen.

Leben von den Trinkgeldern der Kunden

Vor vier Jahren kam der 53-jährige Venezolaner nach Quito. 23 Tage brauchte er für die Strecke vom heimischen Guajíra, an der Grenze zu Kolumbien, über Cúcuta weiter südlich bis nach Ecuador. Das meiste davon lief er zu Fuß, fast ohne Gepäck, nur mit den Kleidern, die er anhatte. Mit Unterstützung der jüdischen Hilfsorganisation HIAS und der Caritas fand er nach seiner Ankunft in Quito das Notwendigste zum Überleben. Eine Zeitlang verkaufte er, wie so viele venezolanische Flüchtlinge, Bonbons auf der Straße, immer an derselben Kreuzung; darüber lernten ihn die Bewohner des Viertels kennen. Seit zweieinhalb Jahren betreut er die Einkaufenden in dieser Straße, ist er regelmäßig auf dem winzigen Parkplatz vor dem Obstladen zu finden. Die Besitzer der Frutería freuen sich über sein Engagement. Im kleinen Supermarkt gegenüber darf er seinen Rucksack unterstellen. Leben tut der große Mann mit grauem Bürstenhaarschnitt von den Trinkgeldern der Kunden.

Wer in Ecuador kiloweise Obst nach Hause transportieren muss, ist für Hilfe dankbar.

Sechzig Prozent der ecuadorianischen Bevölkerung verdienen ihr Geld ähnlich wie Edison: als „informales“, ohne feste Anstellung, Versicherung und geregelte Arbeitszeiten. „Wenn es regnet, geht niemand einkaufen, dann ist der Tag für mich gelaufen.“ Zum Glück regnet es in Quito selten einen ganzen Tag lang. Aber Edison hat noch ganz andere Probleme: Seine Frau, die ausgebildete Krankenschwester ist, leidet an einer Herzkrankheit. Immer wieder muss sie zu Untersuchungen und Behandlungen ins Krankenhaus. „Das alles ist sehr kostspielig, und ich kann an solchen Tagen nicht arbeiten.“ Außerdem besuchen zwei seiner drei Kinder noch die Schule, auch die kostet Geld. Die älteste Tochter hat mit zwei kleinen Enkeln Ecuador mittlerweile wieder verlassen, auf dem hier bekannten und gefährlichen Weg Richtung USA, wo sie nun „mehr schlecht als recht“ in der Nähe von New York lebt.

Endlich regelt die ecuadorianische Regierung den Aufenthaltsstatus der Flüchtlinge

Stolz zeigt mir Edison sein frisch erworbenes „certificado migratorio“, eine von den ecuadorianischen Behörden ausgegebene Karte, mit der er nachweist, dass er seit März dieses Jahres als Flüchtling offiziell registriert ist. Seit Beginn der Krise in Venezuela sind rund 1,8 Millionen Venezolaner nach Ecuador gekommen. Damit ist Ecuador nach Kolumbien und Peru das drittgrößte Aufnahmeland in der Region. 73% der Geflüchteten kamen irregulär, ohne Registrierung oder Papiere, über die grüne Grenze zu Kolumbien ins Land. Viele  von ihnen sind bereits in andere Staaten Lateinamerikas oder die USA weitergezogen. Die „International Organisation for Migration“ IOM rechnet mit rund 450.000 Flüchtlingen, die sich aktuell noch in Ecuador befinden. Aber erst vor einem Jahr entschloss sich die hiesige Regierung auf Drängen der internationalen Gemeinschaft und zahlreicher Hilfsorganisationen, die Regelung des Aufenthaltsstatus’ aller Flüchtlinge anzugehen. Nach Daten des Netzwerks Relief Web vom 27. Juni dieses Jahres haben mittlerweile 158.000 Venezolaner das certificado migratorio erhalten, das ihnen die Beantragung eines Visums für zunächst zwei Jahre gestattet. Dieses Visum haben bisher  66.000 venezolanische Staatsbürger erhalten. Internationale Beobachter sind zufrieden mit dem Verlauf des Prozesses, der sich zurzeit recht dynamisch entwickelt. 

Die hiesige Gesellschaft tut sich mit der Akzeptanz der Flüchtlinge schwer

Für viele der Geflüchteten ist diese Entwicklung grundsätzlich positiv, verbinden sie damit doch die Hoffnung, im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten des ecuadorianischen Arbeitsmarkts legal arbeiten zu können. Allerdings stellt schon die Visumsgebühr von 50$ für viele der Migranten eine hohe Hürde dar. Und bis zu ihrer Akzeptierung durch die ecuadorianische Gesellschaft ist es noch ein weiter Schritt. Ecuadorianer und Venezolaner waren sich schon vor  der Flüchtlingskrise nicht besonders nahe, und unfreundliche Kommentare gegenüber „diesen Flüchtlingen, die entweder auf den Straßen betteln oder uns die Arbeit wegnehmen“ sind hierzulande in allen Schichten gesellschaftsfähig. Eine Bekannte berichtet von einer begabten venezolanischen Schülerin, der als Jahrgangsbester an ihrer staatlichen ecuadorianischen  Schule das Halten der Abiturrede verweigert wurde, denn „sie sei ja nicht von hier“.  Die von Nachbarn bei einem Bier gerne geäußerte Vermutung, die jungen venezolanischen Männer seien überproportional häufig  in Drogen- und sonstige Delikte verwickelt, lässt sich statistisch nicht belegen. 

Immer wieder überrascht die Energie, mit der die geflüchteten Männer und Frauen ihr Schicksal trotz aller Widrigkeiten selbst in die Hand nehmen. Die junge Kellnerin in der Pizzeria, die nach monatelangem Suchen endlich eine Schule für ihren behinderten Sohn gefunden hat. Der fünfundzwanzigjährige Mechaniker, der mit seinen vier Brüdern von einer eigenen Motorradwerkstatt träumt und sich auf dem Weg dahin durch nichts aufhalten lässt. Und ein Mann wie Edison, der zum Abschluss unseres Gesprächs einfach sagt: „Wissen Sie, ich wollte Sie auch schon lange ansprechen, aber ich traute mich nicht. Danke, dass Sie mir zugehört haben!“. 

30. Juni 2023

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Leben und Gesellschaft

„Kollektive Gedächtnisstütze?“ Zum Schutz des Kulturerbes in Ecuador

Es waren Baggerführer, die die Reste der rund 5000 Jahre alten Siedlung entdeckten. Beim Bau einer neuen Straße zwischen Valdivia und San Pedro stießen sie im Jahr 1957 auf zahlreiche Tonscherben. Nur ein Jahr zuvor hatte der Archäologe Emilio Estrada wenige Kilometer entfernt, an der ecuadorianischen Pazifikküste, erste Spuren derselben, heute unter dem Namen „Valdivia“ bekannten Kultur gefunden. Keine großen Tempel, keine Königsgräber – aber riesige Mengen an Gefäßscherben sowie unzählige kleinere und größere Figuren aus Ton und Stein. Heute wird von Fachleuten vermutet, dass es sich bei der Valdivia-Kultur um die älteste des amerikanischen Kontinents handelt.

Was auf diese Entdeckung folgte, charakterisiert der Altertumswissenschaftler Karl Dieter Gartelmann als für Ecuador typische „Wochenendarchäologie“: Jeder, der wollte, kam nun nach Valdivia, sah und grub, wann und soviel es ihm seine Zeit erlaubte. Im besseren Fall erfassten diese Hobbyarchäologen gewissenhaft alle Fundstücke, bewahrten sie in ihrer privaten Sammlung auf, machten sie vielleicht sogar Dritten zugänglich. Im schlechteren boten die Kinder der umliegenden Dörfer interessierten Strandtouristen ihre Fundstücke mit den Worten, „Möchten Sie auch ein Püppchen?“ zum Verkauf an.

Kulturerhalt zwecks Schaffung einer nationalen Identität

Vor dem Hintergrund dieser und ähnlicher Erfahrungen wird auch in Ecuador immer mehr  vom Schutz des Kulturerbes gesprochen. Die unter dem Präsidenten Rafael Correa 2016 erlassene Ley Orgánica de Cultura, sozusagen das „Kulturgrundgesetz“ des Landes, versteht darunter Kulturgüter, die „aufgrund ihrer historischen oder künstlerischen Bedeutung…eine soziale Funktion erfüllen…und als kollektive Gedächtnisstütze bei der Schaffung und Stärkung unserer nationalen Identität dienen“.  Eine sehr weite Definition. Welches aber ist die nationale Identität, die hier geschaffen und gestärkt werden soll? Welches sind die historischen Ereignisse, und welches die Kunstwerke, auf die man sich gemeinsam als Staatsvolk beziehen möchte? In einem Land, dessen Geschichte die wirtschaftliche Elite ganz anders erzählen würde als jene über sechzig Prozent der Bevölkerung, die keiner vertraglich geregelten Arbeit nachgehen? Und wo die bedingungslose Hingabe an die Familie, die Begeisterung über die Schönheit der einheimischen Natur und die Liebe zum hiesigen Essen vielleicht der einzige gemeinsame Nenner sind, auf den sich die Gesellschaft einigen könnte?

Wie viele früher von Kolonialmächten beherrschte Staaten hat Ecuador ein gebrochenes Verhältnis zu seiner Geschichte. Die Auseinandersetzung darüber, wer hier die Geschichtsbücher schreibt, hat sich zwar längst von der internationalen Ebene in die eigene Gesellschaft verlagert. Unstrittig ist glücklicherweise auch seit langem, dass zahlreiche Werke der präkolumbianischen Kunst ebenso einen „außergewöhnlichen universellen Wert“ (so die Definition der UNESCO-Konvention zum Schutz des kulturellen Erbes von 1972) besitzen, wie die von europäischen Vorbildern und Lehrern beeinflussten Gemälde und Skulpturen der „Schule von Quito“ des 17. und 18. Jahrhunderts. Aber der Regierung Rafael Correas ging es in ihrem Gesetz weniger um die Bewahrung von Zeugnissen der Vergangenheit um ihrer selbst willen, sondern ausdrücklich um die Zukunft, um die Schaffung von nationaler Identität.

Alles bewahren, um nichts zu verlieren – Anspruch und Wirklichkeit

Und so entschied man sich dafür, prophylaktisch alles unter staatlichen Schutz zu stellen, was vielleicht einmal als „kollektive Gedächtnisstütze“ dienen könnte. Gemäß dem Gesetz von 2016 sind archäologische Fundstücke automatisch Eigentum des Staates. Jedes Kunstwerk oder Gemälde, welches der gesetzlichen Definition von „Kulturerbe“ entspricht, jedes Dokument, das älter als 50 Jahre alt ist, darf nur mit ausdrücklicher Genehmigung des „Instituto Nacional de Patrimonio Cultural“ INPC verkauft, vererbt, im Ausland ausgestellt werden. Der Staat erklärt sich damit zum Stifter und Hüter kultureller  Identität – aber kann er dieser Rolle auch gerecht werden? Viele Kunsthistoriker im Land zweifeln daran, und erzählen Geschichten wie diese: 

In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts befand sich in der öffentlich verwalteten Casa de la Cultura in Guayaquil eine einzigartige Goldsammlung aus der Zeit der Inka. Schmuckstücke, eine wertvolle Totenmaske. Im Zuge der notwendigen Neugestaltung der Museumsvitrinen sei dieser Schatz eine Zeitlang schlichtweg im Büroschrank der Kuratorin in einem der oberen Stockwerke aufbewahrt worden. Ein Vorgehen, dass niemanden überrascht, der länger in Ecuador lebt. Eines Tages sei ein Brand just in diesem Büro ausgebrochen, und als man die zu einem traurigen Goldklumpen zusammengeschmolzene Sammlung später gewogen habe, sei sie um zwei Kilogramm leichter gewesen als früher. Im Zuge  der polizeilichen Untersuchung des Vorfalls habe sich dann herausgestellt, dass der Pförtner des Gebäudes ein lukratives Geschäft mit dem Verkauf von Gold an einen ihm bekannten Zahnarzt betrieb, das er durch die Brandstiftung habe vertuschen wollen. 

Solche „Anekdoten“ werden in Ecuador zuhauf kolportiert. Es wird von zahllosen Kunstwerken gemunkelt, die sich seit Jahren ungeordnet und ungeschützt in den Magazinen des Hauptsitzes der Casa de la Cultura in Quito befinden. In den historischen Archiven des Landes sieht die Realität trübe aus: Allerorten begegnet der Historiker wild durcheinanderliegenden, teils zerrissenen oder geknickten Dokumenten. Bindungen, die beim Berühren zerfallen, alte Partituren, die immer wieder von Forschenden direkt vor Ort mit der eigenen Kamera abfotografiert werden. Stapel von Akten, die zum Schutz vor dem Smog der Innenstadt schlichtweg in Plastiktüten aufbewahrt werden, den Insekten zur Freude. Nicht zu reden von jenen Dokumenten, die, nun ja, irgendwann einfach nicht mehr aufzufinden sind. Bei der Digitalisierung ihrer Bestände, die zum Schutz der Originale beitragen würde, stehen viele Bibliotheken und insbesondere das Nationalarchiv erst am Anfang. Es fehlen die Mittel, es fehlt die Ausbildung, es fehlt das Personal.

Was wollen wir vergessen, was sollen wir erinnern?

Fehlt vielleicht manchmal auch die Identifizierung mit dem, was da zu bewahren wäre? Dem Komponisten Luis Humberto Salgado, der als erster Ecuadorianer  umfangreiche symphonische Werke schrieb, wurde und wird zuweilen vorgeworfen, er habe nicht nur zu kompliziert, sondern auch zu europäisch, zu „kolonial“ geschrieben. Von einem hiesigen Musikwissenschaftler wird dies als ein Grund dafür gesehen, dass sich die staatliche ecuadorianische Kulturpolitik mit der Anerkennung und Verbreitung von Salgados Werken bis heute schwer tut. Welches ist die Geschichte, deren Zeugnisse es zu bewahren gilt, und wofür? „Bei der Fortbildung junger Museumsmitarbeiter merke ich immer wieder, dass sie meinen, zwischen zwei Geschichten wählen zu müssen“, kommentiert ein Historiker. „Früher galt all das als gut und nachahmenswert, was uns die Spanier hinterlassen haben, und unsere eigene Kultur war nicht von Bedeutung. Heute möchten manche am liebsten alles vergessen machen, was zwischen der Ankunft Francisco Pizarros 1531 und der Schlacht am Pichincha 1822 geschehen ist.“

Die Begegnung einer Bevölkerung mit der eigenen Kunst- und Kulturgeschichte setzt voraus, dass deren Zeugnisse auch der Öffentlichkeit zugänglich sind. „Wenn wir unsere Kulturgüter bewahren, ist das doch kein Selbstzweck! Es geht darum, dass unsere Bevölkerung sie sehen, sich mit ihnen auseinandersetzen kann!“, erklärt derselbe Interviewpartner enthusiastisch den Sinn seiner Arbeit. Aber genau hier stößt der ecuadorianische Staat an seine Grenzen. Zum einen gelingt es ihm nicht, das zu schützen und angemessen auszustellen, was sich bereits in seinem Besitz befindet. Zugleich droht er den privaten Sammlern mit der Quasi-Verstaatlichung ihrer Kollektionen und hindert sie damit effektiv, diese ihrerseits einer breiten Öffentlichkeit zu zeigen. Die Schaffung eines kollektiven kulturhistorischen Gedächtnisses, die das erklärte Ziel der „Ley orgánica“ war, wird dadurch unmöglich gemacht.

Der Staat kann nicht effektiv schützen, die privaten Sammler dürfen es eigentlich nicht

Die eindrucksvollste Sammlung von Valdivia-Skulpturen findet sich heute im privat betriebenen Museo del Alabado direkt neben der Kirche von San Francisco in Quito. Wer das eine oder andere Haus von Angehörigen der wirtschaftlichen und intellektuellen Elite des Landes besucht, kann seine Kenntnis dieser Kultur noch beträchtlich erweitern. In dem von Ehrenamtlichen betreuten kleinen Museum von Valdivia jedoch bleibt es bei der gut gemeinten Aufforderung: „Bitte nichts anfassen!“

21. Februar 2023

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Leben und Gesellschaft

Die heimliche Nationalbibliothek

„Warum müssen Sie überhaupt Bücher anschaffen?`, hat uns das Kulturministerium allen Ernstes gefragt! Genauso gut können Sie einen Bäcker fragen, warum er eigentlich Mehl braucht!“ Die Mitarbeiter der „Biblioteca Ecuatoriana Aurelio Espinosa Pólit“, der größten Ecuadors, sind verärgert. In den vergangenen zwei Jahren ist ihnen die staatliche Unterstützung um rund 70% gekürzt worden. Ein aus dem Jahr 1995 datierendes Gesetz bestimmt jedoch, dass von allen im Land publizierten Büchern zwei Exemplare dieser Bibliothek übergeben werden müssen, und der Bibliothek die zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigen Mittel seitens des Staates zur Verfügung gestellt werden. Laut Gesetz wären dies mindestens 1500 Mindestgehälter, nach jetzigem Stand 637.500 Euro.

Von der seit 2021 amtierenden Regierung des bekennenden Katholiken Guillermo Lasso hatte die von Jesuiten begründete und geführte „BEAP“ anderes erwartet.  Denn die 1930 gegründete Einrichtung ist laut dem Gesetz von 1995 eine „Institution von nationalem Interesse“, und mit ihrer umfangreichen Sammlung die heimliche Nationalbibliothek Ecuadors. Über 600.000 Bücher besitzt die Bibliothek. Dazu kommt im historischen Archiv rund eine halbe Million an Originaldokumenten zur Geschichte des Landes. Die ältesten Veröffentlichungen stammen aus dem 16. Jahrhundert und gelangten über die spanischen Kolonialherren in die damalige „Real Audiencia de Quito“. Die im Zentrum der Hauptstadt gelegene „Biblioteca Nacional Eugenio Espejo“, die dem ecuadorianischen Kulturministerium unterstellt ist, verfügt im Vergleich über deutliche geringere Bestände.

Vom Noviziat des Jesuitenordens zur Bibliothek

Wer die BEAP in Cotocollao im Norden Quitos besucht, merkt auf den ersten Blick von der aktuellen Mangellage wenig. Die vier Flügel des 1949 im neokolonialen Stil erbauten Gebäudes umschließen, einem Kloster ähnlich, den großen begrünten Innenhof. „Unser Gebäude ist größer als der Präsidentenpalast in Quito, aber wir bezahlen hier nur 18 Angestellte, nicht 400“, scherzt Padre Iván Lucero, der die Bibliothek seit fünf Jahren leitet. Der klösterliche Charakter der Anlage kein Zufall:  Von 1949 bis Ende der Sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts beherbergte der Komplex das „Colegio Loyola“, ein Internat für die Novizen des Jesuitenordens. Mit der Schließung des Noviziats im Jahr 1969 fanden hier die Bestände der von Padre Aurelio Espinosa Pólit begründeten „Biblioteca de Autores y Temas Ecuatorianos“ ihre Heimat.

Die katholisch-konservative Familie von Aurelio Espinosa Pólit (1894 – 1961) hatte im Jahr 1895, während der sogenannten „liberalen Revolution“, aus politischen Gründen Ecuador verlassen. Ihren Patriotismus und den katholischen Glauben jedoch vermittelten die Eltern ihren Kindern auch im europäischen Exil ungebrochen. Der junge Aurelio trat mit 17 Jahren in Spanien dem Jesuitenorden bei, ebenso wie seine fünf Brüder. Nach einem Jahr des Studiums in Cambridge kehrte er 1929 auf Anweisung seiner Oberen aus Europa nach Ecuador zurück, um am Noviziat in Cotocollao Philosophie zu lehren. Bereits im Mai 1930 begann der junge Padre mit seinem Projekt einer Bibliothek, die das gesamte ecuadorianische Schrifttum vereinen sollte, einer Sammlung „unserer nationalen, religiösen, historischen, wissenschaftlichen und literarischen Tradition“

Bibliophile und kunsthistorische Raritäten an einem Ort

Was zuerst nur drei einfache Bücherregale umfasste, füllt heute das gesamte ehemalige Internatsgebäude. Eine Bibliothek, die zugleich Kunstmuseum und Kulturzentrum ist, und in der man gut und gerne einige Stunden verbringen kann, ohne überhaupt ein einziges Buch zu öffnen. Überall gibt es besondere Dinge zu sehen. So findet sich im Kartensaal eine handgezeichnete Darstellung der Amazonasregion, die 1895 zur Vorbereitung der zweiten französischen Geodäsiemission erstellt wurde: eine aus 25 gleichmäßigen Rechtecken zusammengesetzte, reisetaugliche Kopie der 1750 von Pedro Vicente Maldonado für die Condamine-Mission angefertigten Karte. Aber auch eine Schulkarte des damaligen Ecuador, gedruckt zu Beginn des 20. Jahrhunderts im deutschen Westermann-Verlag, hängt an der Wand.

In zwei der ecuadorianischen Malerei gewidmeten Sälen stößt der Besucher, wie so oft in Ecuador, immer wieder auf Darstellungen des heiligen Joseph als hingebungsvollen Vaters: Er hält gemeinsam mit Maria den jungen Jesus an der Hand, trägt ihn auf dem Arm, wendet sich ihm wie im Spiel zu. Im Skulpturensaal gibt es eine Rarität: Eine Darstellung der „Entschlafung Mariens“, wie sie sonst vor allem in den orthodoxen Kirchen üblich ist: die „entschlafene“ Maria auf einem Prunkbett liegend, umringt von den 12 Jüngern (eine lebensgroße Darstellung derselben Szene kann übrigens in Quito im Konvent von Carmen Alto besichtigt werden).

Gleichberechtigte Eltern: Eine Darstellung der Heiligen Familie von Manuel Samaniego (1767 – 1824), einem der bekanntesten Maler der „Schule von Quito“
…ebenso wie Reliquien der ecuadorianischen Geschichte

In dem der Geschichte Ecuadors gewidmeten Raum schließlich befinden sich zahlreiche Reliquien zum Gedenken an den  1875 ermordeten erzkatholischen Präsidenten Gabriel Garcia Moreno. Im Jahr 1883 war der Leichnam des umstrittenen Politikers aus der Kathedrale von Quito in den Konvent von Santa Catalina verbracht worden. Da die neue Begräbnisstelle von Garcia Moreno nicht öffentlich bekannt war, entdeckte man den Sarg dort erst im Jahr 1975. Die historischen Dokumente, aus denen die Fundstelle erkennbar gewesen wäre, fanden sich erst nachträglich im historischen Archiv der BEAP; die Reste des hölzernen Sarges sind heute hier ausgestellt.

Aber zurück zu den Büchern: Neben den ecuadorianischen Werken des 19. und 20. Jahrhunderts findet man hier zahlreiche Schriften europäischer Produktion, die bis zur Vertreibung der Jesuiten im Jahr 1767 ins Land gebracht worden waren. Der deutsche Jesuit Adam („Adán“) Schwartz leitete ab 1755 die erste Buchdruckerei Ecuadors in Ambato; einige der dort gedruckten Exemplare sind in der „antiken“ Sammlung der BEAP zu finden. Und schließlich verfügt die Bibliothek über 26 Nachlässe bedeutender Persönlichkeiten des Landes. Jede für sich sind sie in den früheren Klassenräumen untergebracht, oft gemeinsam mit Möbeln und persönlichen Gegenständen der früheren Besitzer. In manchen Räumen hat man den Eindruck, als habe der verstorbene Eigentümer seine Privatbibliothek nur kurz verlassen.

Der Nachlass des Kunsthistorikers José Gabriel Navarro

Im Arbeitsalltag wird vor allem der kleine Lesesaal der BEAP ständig genutzt. Vor allem unter der Woche ist der Saal bevölkert von Schülern der umliegenden staatlichen Schulen, die hoffen, hier in Ruhe arbeiten zu können. Auch am heutigen Samstag sitzt eine Abiturientin vertieft an einem der Tische. Die Mutter, in indigener Tracht und mit dem Hut auf dem Kopf, wartet geduldig auf einem Stuhl dahinter. Viele der am meisten nachgefragten Zeitungen und Nachschlagwerke sind hier auf den großen Computerbildschirmen direkt einsehbar. Seit vierzehn Jahren arbeitet die BEAP an der Digitalisierung ihrer Bestände; rund ein Viertel davon ist bereits verfügbar, insbesondere große Teile des Zeitungsarchivs.

Und die Mutter schaut geduldig zu. Lernen für den Schulabschluss im Lesesaal der BEAP

„Unsere Besucher wundern sich immer, dass das Haus trotz der schwierigen Finanzlage in einem so guten Zustand ist. Hier ist nichts schmutzig, heruntergekommen, vernachlässigt“, erzählt Padre Iván nach dem Rundgang nicht ohne Stolz. „Ich sage dann immer: Wir drehen jeden Centavo dreimal um und investieren ihn dann dort, wo er am meisten Wirkung entfaltet. Wir wollen diesen Ort, der in gewisser Weise das Gedächtnis unseres Landes ist, bewahren.“

Centro Cultural Biblioteca Ecuatoriana Aurelio Espinosa Pólit

José Nogales N69-22 / Francisco Arcos, Cotocollao, Quito

Tel. 00593 – 2 – 2491-156/157, www.beap.ec

geöffnet Dienstag bis Samstag von 08.00 bis 17.00

15. Januar 2022

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Leben und Gesellschaft Musik

Konzertflügel made in Ecuador

Ein befreundeter Dirigent erzählte einmal, dass er während eines Familienkonzerts in einer ecuadorianischen Stadt fragte, welche Instrumentenfamilien die anwesenden Kinder kannten. Die Antworten kamen wie aus der Pistole geschossen – aber ganz anders als erwartet: „Paccha, Gallegos, Godoy…“. Die Kinder wussten zwar nicht unbedingt alle Orchesterinstrumente mit Namen zu nennen, aber sehr wohl diejenigen Familien, aus denen fast alle ihnen bekannten Musiker stammen. Familientraditionen haben bis heute eine immense Bedeutung in Ecuador: Wie der Vater, und ab und zu die Mutter, so häufig Sohn und Tochter, Enkel und Urenkel. Bei der Klavierbauerfamilie Verdugo ist es nicht anders. 

Daniel Verdugo Álvarez stellte in den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in der im Süden des Landes gelegenen Stadt Cuenca Tasteninstrumente her: Er produzierte Harmonien für den Gebrauch im Gottesdienst, und Pianolas, selbstspielende Klaviere. Sein 1931 geborener Sohn Luis wuchs gewissermaßen in der Werkstatt des Vaters auf, war von den Tasten und Saiten fasziniert, lernte selbst das Handwerk des Klavierbauers. Aber Cuenca war zu jener Zeit klein, die Zahl der Klaviere begrenzt und die Arbeitsbedingungen prekär. Mit 19 Jahren zog Luis Verdugo deshalb nach Quito, in die Hauptstadt des Landes. Dort gab es viele Tasteninstrumente in den wohlhabenden Häusern der Stadt, oft in einem katastrophalen Zustand.

Verdugos Durchbruch als Klavierstimmer kam mit einem Konzert von Arthur Rubinstein

Der junge Luis stimmte, reparierte, restaurierte, und erwarb sich allmählich einen gewissen Ruf unter den Musikern Quitos. Sein eigentlicher Durchbruch aber kam, als er im September 1953 anlässlich eines Konzerts von Arthur Rubinstein im letzten Moment zu Hilfe gerufen wurde, um den Flügel des Teatro Sucre, damals der Hauptkonzertsaal der Stadt, zu stimmen. Gastspiele weltbekannter Pianisten waren, damals wie heute, rar in Quito, und Rubinstein hatte mit Abreise gedroht, weil das Instrument in der Probe nicht seinen Erwartungen entsprach. Verdugo kam und widmete sich dem Flügel, der Solist war zufrieden, und das Konzert wurde ein großer Erfolg. Auf einmal war der Name Luis Verdugo auch breiteren Kreisen in der Stadt bekannt.

Aber erst zu Beginn der Neunziger Jahre wagte er sich, zusammen mit seinem wiederum Daniel genannten Sohn, an den Bau eines eigenen Instruments. Der erste Flügel aus dem Familienbetrieb Verdugo wurde 1994 fertiggestellt. Seitdem haben in Sangolquí bei Quito, wo die Familie seit einem Vierteljahrhundert direkt neben der Werkstatt lebt, 26 Instrumente das Licht der Welt erblickt. Das Sinfonieorchester des kleinen Loja besitzt ein Verdugo-Klavier, ebenso wie das Nationale Konservatorium in Quito oder die Technische Universität von Ambato. Als 2006 die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland stattfand, reiste nicht nur das ecuadorianische Nationalteam zum Turnier nach Europa, sondern auch ein Verdugo-Konzertflügel. Der ecuadorianische Pianist Boris Cepeda, der heute in Weimar lebt, gab auf dem Instrument Konzerte in jenen fünf Städten, in denen das ecuadorianische Team spielte.

Geburtstagskonzert auf den Instrumenten aus der eigenen Werkstatt

An einem Abend im November dieses Jahres sitzt der gerade 91 Jahre alt gewordene Luis Verdugo in der ersten Reihe bei dem Konzert, das in der „Villa Celia“, dem Haus der 2014 verstorbenen Pianistin Celia Zaldumbide, zu seinen Ehren gegeben wird. Wie fast immer trägt er sein Markenzeichen, die dunkelblaue Schirmmütze. Der verstorbene Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt, selbst ein begeisterter Pianist, grüßt aus dem Off. Alle Generationen der Familie Verdugo sind anwesend: Die beiden Enkelinnen Daniela und Carolina arbeiten bereits seit einigen Jahren in der Werkstatt mit, der wenige Monate alte Urenkel gluckst auf dem Arm seiner Mutter. Zwei Flügel stehen auf der Bühne für die Darbietung bereit, der eine davon fertiggestellt im Hause Verdugo im Jahr 2020. 

Luis Verdugo im Kreise von Musikern und Familie im November 2022 ©Fundación Zaldumbide Rosales / Villa Celia

In den nun folgenden zwei Stunden geben sich an den Instrumenten Pianisten aus ganz Ecuador die Klinke, nein, die Tasten in die Hand, einmal quer durch das Land und die Klaviermusik. Die jungen Preisträger des zweiten Kammermusikwettbewerbs Ecuadors beginnen mit Clara Schumann; Beethoven und Debussy folgen. Eine der Pianistinnen ist Emilia, die begabte sechzehnjährige Enkelin von Luis Verdugo. Paco Godoy aus Riobamba, selbst einer ecuadorianischen Musikerdynastie entstammend, interpretiert zusammen mit der Sängerin Andrea Condor drei volkstümliche Boleros, „von denen wir wissen, Maestro, dass Sie sie besonders mögen!“. Der in Loja geborene Komponist Juan Castro geht es mit einem eigenen Pasillo und einem in der Pandemie entstandenen „Vaterunser“ eher besinnlich an. Ganz anders die von Paulina Alemán begleiteten zwei Tenöre: Das von Marco Catena und José Cárdenas enthusiastisch geschmetterte „O sole mio“ gilt persönlich dem hochbetagten Jubilar. Und vor lauter Rührung verfällt der Italiener Catena bei seinen Dankesworten an den „Maestro Luis“ unwillkürlich in seine Muttersprache. Alex Alarcón und Andrés Torres musizieren an den beiden Flügeln gemeinsam Piazolla und Milhaud. 

Die Familie, der Beruf, der Glaube – eine unauflösbare Verbindung

Dann kommt endlich die Torte. Und mit ihr alle, Familie und die lange Reihe der Musiker, die jetzt nun wirklich gratulieren wollen. Aber zuvor dankt auch der jüngste Klavierspieler des Abends, der fünfjährige Angelito („Engelchen“), dem Geburtstagskind. Den Segen des „Papito Diós“ („Väterchen Gott“), wie man hier so gerne sagt, wünscht er ihm feierlich, dreht sich zum Flügel und stimmt mit vollen Akkorden das gemeinsame Geburtstagslied an. Und während sich allmählich alle Pianisten um die beiden Tastaturen scharen und zum Gesang schmückendes musikalisches Beiwerk liefern, brennen die Kerzen, wird umarmt und geküsst, vergrößert sich die Gruppe rund um die Instrumente immer weiter. Bis eines in das andere übergeht und die Musiker gemeinsam mit dem Sohn, der Schwiegertochter, den Enkeln und Urenkeln Verdugo eine einzige große Familie bilden. 

29. November 2022

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Leben und Gesellschaft Reisen

Das grüne Gold von Ecuador

Zwei Frauen sitzen in Tumbaco bei Quito an einem großen Glastisch und sortieren Vanille. Der betörende Duft der braunen Schoten erfüllt den ganzen großen Raum. Neben sich haben die Arbeiterinnen ein Lineal liegen, das sie eigentlich nicht mehr brauchen. Sie wissen aus Erfahrung genau, welche Schotengröße in welche der drei schwarzen Plastikwannen gehört. Je eine für die großen, mittleren und kleinen Vanillestangen. Rund sechzig Prozent der Ernte machen die besonders langen und dicken Exemplare aus, die beim Verkauf den besten Preis erzielen.

Vor 20 Jahren begann Eduardo Uzcátegui in der Provinz Santo Domingo de los Tsachilas, rund zwei Autostunden westlich der ecuadorianischen Hauptstadt Quito, mit dem gezielten Anbau der zur Familie der Orchideen zählenden Vanille. Zunächst nur aus Neugier, wie er erzählt: „Ein Belgier hatte versucht, sie hier zu züchten, aber das funktionierte irgendwie nicht. Als er das Land etwas frustriert wieder verließ, schenkte er mir eine Pflanze. Ich bin zwar selbst Biologe, hatte mich aber eigentlich immer mehr mit Tieren beschäftigt, insbesondere mit der Zucht von Wachteln, seit 26 Jahren habe ich da ein Unternehmen. Aber dann wollte ich sehen, ob das mit der Vanille nicht doch geht!“

Pro Hektar Anbaufläche ist die Produktion in Ecuador größer als in Madagaskar und Indonesien

Nach fünf ersten erfolgreichen Jahren erlitt aber auch seine eigene Vanilleproduktion einen herben Rückschlag. Das feuchte Tropenklima von Santo Domingo ließ nicht nur die Pflanzen wachsen, sondern begünstigte auch alle Arten von Schädlingen. Erst als Uzcátegui begann, die Vanille im Gewächshaus zu züchten, wo sich Feuchtigkeit, Sonneneinstrahlung und Schädlinge besser kontrollieren ließen, hatte er dauerhaft Erfolg: Seine Vanillepflanzen trugen bereits nach zwei Jahren das erste Mal die begehrten grünen Schoten. Nur zwei Hektar ist die Plantage seiner Firma „VAINUZ“ heute groß, aber der Ertrag ist eindrucksvoll: Auf jedem Hektar stehen 10.000 Pflanzen, die im Jahr etwa 1000 kg frischer Vanille liefern. In Indonesien, dem zweitgrößten Exportland nach Madagaskar, sind es nur 400 kg pro Hektar.

Das „grüne Gold“ hat in Ecuador, wo mehrere wild wachsende Vanillesorten vorkommen, in den letzten Jahren einen großen Aufschwung genommen. Nicht nur in Santo Domingo wird die Pflanze angebaut, auch am Napo-Fluss im östlichen Tiefland und in der Provinz Manabí am Meer gibt es immer mehr meist kleine Produzenten. Denn Ecuador ist privilegiert: Die Zahl der Sonnenstunden am Äquator ist über das Jahr im Vergleich zu anderen Ländern wie Mexico, dem Ursprungsland der Vanille, oder Madagaskar,  äußerst stabil. Das erlaubt auch bei anderen landwirtschaftlichen Produkten mehrere Ernten im Jahr; beim Brokkoli beispielsweise sind es bis zu vier. Ein großer Wettbewerbsvorteil für die hiesigen Exporteure. Während es in anderen Anbauländern für die Vanille nur eine einzige jährliche Reifeperiode gibt, kann die kostbare Ware hier das ganze Jahr hindurch geerntet werden.

Die Bestäubung der Blüten ist Frauensache

Dieser paradiesische Zustand verursacht allerdings ein unerwartetes Problem: Von außen lässt sich kaum erkennen, welche der wie grüne Bohnen anmutenden Vanilleschoten bereits reif sind. Nur mit Hilfe eines detaillierten Kalenders kann sichergestellt werden, dass die Ernte jeweils zur richtigen Zeit erfolgt. Eine andere Herausforderung teilen alle Vanilleproduzenten weltweit: Das systematische Bestäuben der Blüten ist ausschließlich von Hand möglich, und nur in den Vormittagsstunden eines jeden Tages. Dafür beschäftigen VAINUZ und andere in Ecuador produzierende Unternehmen ausschließlich weibliche Angestellte.  „Frauen arbeiten viel sorgfältiger und haben eine bessere Feinmotorik;  wenn wir Männer das machten, würden wir die empfindlichen Blüten der Orchidee zerstören, und ein Großteil der Pflanzen würde wahrscheinlich niemals tragen“, schmunzelt Uzcátegui. 

Eduardo Uzcátegui mit einem Kilo seiner Vanille, bereit für den Versand

Der Ernte folgt in der Regel ein rund zweieinhalb Monate dauernder Prozess von Reinigung, Fermentierung und Trocknen der Schoten, zunächst in der Sonne, dann im Schatten. Wenn Uzcáteguis Vanille nur noch 18% ihres ursprünglichen Feuchtigkeitsgehalts besitzt, reist sie von Santo Domingo nach Tumbaco. Dort wohnt der Unternehmer, der zweiundzwanzig Jahre lang Dekan der landwirtschaftlichen Fakultät an der „Universidad San Francisco de Quito“ (USFQ) war. „Das Sortieren und Verpacken haben wir früher noch an meinem Küchentisch gemacht, bis ich dann auf meinem Grundstück gegenüber diese neue Halle hier gebaut habe“.

Vom wertvollen „Kaviar“ bis zum schlichten Vanilleextrakt

Nach dem Sortieren am Glastisch werden die Schoten in dicken Kilopaketen verpackt. Für den schnellen Verbrauch in der Gastronomie wird nur das Mark der Vanille, der „Kaviar“, benötigt. Wie Goldbarren liegen die Pakete, die jeweils ein Pfund wiegen, im hölzernen Regal. Über 500$ war ein solches Päckchen vor der Pandemie wert, im Moment ist es weniger. Geradezu obszön wirken daneben die großen Vier-Liter-Plastikflaschen mit dem preiswerten Vanilleextrakt, einem Abfallprodukt, das für den Export nach Kanada bestimmt ist. 90% seiner Vanille liefert Uzcátegui nach Europa, Nordamerika, Japan und Hawaii. Nur ein kleiner Teil verbleibt im Land. Anders als die von ihm weiterhin vermarkteten Wachteln: Zwei Millionen der winzigen Vögel verkauft der emeritierte Professor jährlich an Restaurants in Ecuador, tiefgefroren in Paketen zu je zehn Stück. Eine Kreuzung aus einer kleinen japanischen und einer größeren deutschen Art hat sich dabei als besonders erfolgreich erwiesen. Die kleinen, hübsch gefleckten Wachteleier, die man hier in jedem noch so winzigen Supermarkt bekommt,  sind nicht nur bei Schulkindern ein beliebter und vergleichsweise preiswerter Snack. 

Was den Wachteln recht ist, ist der Vanille billig

Wachteln und Vanille – selbst im instabilen Ecuador, wo man möglichst immer mehrere Geschäfte gleichzeitig führen muss, um gegen jede Wirtschaftskrise gewappnet zu sein, erscheint eine solche Verbindung überraschend. „Es gibt aber tatsächlich Parallelen! Wir haben vor einiger Zeit begonnen, mit unseren eigentlich für die Wachteleier gebauten Brutschränken zu experimentieren, um sie als Trockenschränke für die Vanille zu weiterzuentwickeln. Jetzt können wir in einem solchen Schrank 100 kg Vanille in viel kürzerer Zeit als zuvor verarbeiten!“ Vielleicht ist es auch einfach nur die stete Neugier eines begeisterten Biologen und Tüftlers, die Zusammenhänge schafft, wo vorher keine waren. Im Laden in Tumbaco jedenfalls können beide Delikatessen zugleich mit einem einzigen Einkauf erworben werden.

Verkauf von Vanille und Wachteln in Tumbaco (auch in küchentauglichen Mengen): VAINUZ, Gonzalo Pizarro #N5-683/ Machala, Öffnungszeiten Mo-Fr von 8-12 und 14-18 Uhr. Cel. 0998 374 783, 0995 656 016, E-mail vainuzecuador@hotmail.com

5. November 2022

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Leben und Gesellschaft Reisen

Zwischen Arbeiterbewegung und Santo Domingo – das konsequente Leben der Isabel Robalino

Bücher überall. Die Juristin, Gewerkschaftsaktivistin und Laiendominikanerin Isabel Robalino nutzte ihre Hacienda „La Merced“ zeitlebens als großes Arbeitszimmer. Eine Festschrift der von ihr gegründeten ersten katholischen Arbeitergewerkschaft CEDOC liegt in unmittelbarer Nachbarschaft einer Gesetzessammlung zum ecuadorianischen Strafprozessrecht. Eine Reflexion über das Leiden Jesu teilt sich den Raum mit einer rosa leuchtenden Studie zur Teilhabe von Frauen am politischen Leben. Die Zeitschrift „Shalom“ findet sich dort ebenso wie Fachartikel zur katholischen Kirchengeschichte. „Die Wissenschaft und mein Beruf, das war das, was mich immer interessiert hat“, konstatierte sie mit 100 Jahren in einem Fernsehinterview

„Bildung schafft Freiheit“. So lautete das Motto einer anderen, in den 1960-er Jahren von ihr ins Leben gerufenen Institution, des „Instituts für gesellschaftliche Bildung“ (INEFOS). Auch der Zusammenschluss mehrerer Gewerkschaften zur FUT, der „Vereinigten Arbeiterfront“, ging auf ihre Initiative zurück. Über lange Jahre beriet sie die als besonders radikal bekannte FUT in rechtlichen Fragen. Der großen Bevölkerungsmehrheit einfacher Arbeiter und Angestellter in Ecuador Stimme, Rechte und Kenntnisse zu verschaffen war Isabel Robalinos selbstgewähltes Lebensziel. Ihre Tätigkeit empfand sie als Berufung und in ihrem Glauben begründete Verpflichtung. „Die Arbeiterbewegung und Santo Domingo (der Heilige Dominicus) waren die Konstanten von „Isabelitas“ Leben“, sagt ihr langjähriger geistlicher Weggbegleiter, der Dominikanerpater Roberto Fernández.

Bildung schafft Freiheit – das „Institut für gesellschaftliche Bildung“ war eine der vielen Gründungen Robalinos

1917 wurde Isabel Robalino Bolle als Tochter des Diplomaten Luís Robalino Dávila und seiner Frau Elsbeth Bolle geboren. Der aus einer vermögenden ecuadorianischen Familie stammende Luis und die aus Berlin gebürtige Elsbeth hatten sich in Paris kennengelernt, der Wunschheimat vieler ecuadorianischer Landbesitzer jener Zeit. Die folgenden zwei Jahrzehnte verbrachte Luís Robalino mit seiner Frau zwischen diplomatischen Missionen in Europa und Lateinamerika, und den Haciendas seiner Familie; zwischen historischen Forschungen und politischem Engagement. 1922 gründete er das Ecuadorianische Rote Kreuz, 1929 verhandelte er die Mitgliedschaft Ecuadors im Völkerbund. 1931 kaufte er die im Jahr 1643  vom Orden der Mercedarier begründete Hacienda „La Merced“ für sich und seine Familie. 

Die Tochter wuchs als Einzelkind, aber im Kontakt mit einer großen Schar von Cousins auf. Geprägt wurde sie vor allem durch ihre gebildete, sozialen Fragen gegenüber aufgeschlossene Mutter. Als eine der ersten weiblichen Schülerinnen schloss sie das renommierte Colegio Mejía in Quito mit dem Abitur ab. Schon früh beschäftigte sie sich mit den Themen der katholischen Soziallehre, die in Ecuador vor allem in den Kreisen um Padre Inocencio Jacome diskutiert wurden. Wie Isabel entstammte dieser aus eher großbürgerlichen Verhältnissen. An der staatlichen Universidad Central erlangte Robalino als erste Frau den Abschluss in Rechtswissenschaften. „Als erste Frau“ waren Worte, die ihr weiter folgen sollten, wohin sie auch ging: Erste weibliche Stadtverordnete Quitos im Jahr 1946, erste weibliche Abgeordnete der verfassunggebenden Versammlung 1966, erste Senatorin Ecuadors 1968. 

1938 hatte sie gemeinsam mit anderen anderen Mitgliedern der katholischen Studentenbewegung den ersten katholischen Arbeiterkongress Ecuadors organisiert. Die Themen der Arbeiterbewegung waren fortan immer auch ihre eigenen, Arbeitsrecht wurde zu einem ihrer Spezialgebiete: geregelte Arbeitsverhältnisse, gerechte Löhne, Möglichkeiten zu Aus- und Fortbildung. Im Jahr 1944 nahm Isabel Robalino aktiv an der von Arbeitern getragenen „glorreichen Revolution“ gegen den konservativen Präsidenten Carlos Arroyo teil. 1947 leitete sie persönlich den Sturm auf den Präsidentenpalast, der die kurze Diktatur von Carlos Mancheno beendete.

Nie akzeptierte sie die in Ecuador herrschenden Wirtschafts- und Machtverhältnisse als gegeben, was ihr immer wieder Konflikte mit der sogenannten „guten Gesellschaft“ des Landes eintrug. Präsident Velasco Ibarra erließ sogar einen Haftbefehl gegen sie – der, da der Präsident ein guter Freund von Luís Robalino war, aber nie vollstreckt wurde. „Die Wohlhabenden Quitos haben sie dann doch immer respektiert“, erinnert sich Isabels Nichte Laura Terán. Ebenso wie die einfachen Arbeiter und alle anderen, die ihren Weg kreuzten. „Sie fand“, beschreibt Terán, „irgendwie bei allen immer den richtigen Ton“.

Als Isabel um die Jahrtausendwende aus ihrer Stadtwohnung wieder nach „La Merced“ umsiedelte, wollte sie die Hacienda zu einem Zentrum der Begegnung machen. „Die von der Geschichte gerissenen Wunden des Landes zu heilen, das war ihr Ziel“, beschreibt Padre Roberto diese Vision. Die Haciendagebäude hatte sie bereits 1986 dem Orden der Dominikaner überschrieben, sich aber dort ein lebenslanges Wohnrecht gesichert. Ihre Angst davor, im Falle ihres Todes die Dinge ungeregelt zu hinterlassen, war groß. Die Ländereien hatte sie ihren eigenen Angestellten übergeben. Zu ihrer Enttäuschung jedoch funktionierte die von ihr propagierte gemeinschaftliche Verwaltung des Bodens nicht, so dass am Ende jeder Arbeiter sein eigenes Stück Land erhielt.

Sie selbst lebte noch rund 10 Jahre in den zugigen Räumen rund um den säulenumstandenen Innenhof. Das Telefon, ihr Draht nach Quito, steht noch heute dort im Gang, das Adressbuch dahinter geklemmt. Regelmäßig fuhr die inzwischen Hochbetagte zu ihren zahlreichen Treffen alleine mit dem Auto nach Quito und überhörte das Drängen der um ihr Leben fürchtenden Padres, doch bitte einen Fahrer anzustellen: „Was soll ich mit einem Fahrer, der schafft das doch gar nicht, mich zu all meinen Terminen zu bringen, vor allem am Abend!“, kommentierte sie das aus ihrer Sicht überflüssige Ansinnen.

Konsequent bis ins Private: Das Schlafzimmer von Isabel Robalino auf La Merced

Als ihr mit Mitte Neunzig das Gehen unmöglich wurde, zog sie schließlich ganz in den Konvent von Santo Domingo im Herzen Quitos. Zwar war sie von nun an auf den Rollstuhl angewiesen, aber die tägliche Arbeit ging für sie weiter: 2015 wurde sie aktives Mitglied der Nationalen Anti-Korruptions-Kommission (CNA). Die von der Kommission gegenüber dem Generalstaatsanwalt Carlos Pólit erhobenen Vorwürfe hätten ihr im Alter von 100 Jahren beinahe noch eine einjährige Gefängnisstrafe wegen angeblicher Verleumdung eingebracht In einem Interview im Anschluss an die Verhandlung sprach sie von „einem politischen Spiel“ – und war dabei analytisch, entspannt, mit lebhaften Handbewegungen und voller Aufmerksamkeit für ihre Gesprächspartner.

„Das war ein politisches Spiel“. Isabel Robalino als Mitglied der Anti-Korruptions-Kommission im Interview 2017

Isabel Robalino Bolle starb am 31. Januar 2022 im Konvent der Dominikaner. Wer heute ihre Hacienda La Merced besucht, sieht das in Stein gemeißelte Wappen der Mercedarier über dem Eingang, und das der Familie von Luis Robalino Dávila über dem Kamin. Aber er sieht auch das Schlafzimmer der letzten Bewohnerin: Ein einfaches metallenes Bett, eine ländliche Matratze, der Rosenkranz am Bettrahmen, das Foto von Papst Benedikt XVI. auf der Kommode, Bücher und Notizzettel auf dem Nachttisch. Das Bild einer Frau, die bis zuletzt sie selbst war, konsequent und überall. 

Die Hacienda La Merced kann leider nicht privat besucht werden; die Dominikanerpadres arbeiten an einem Zukunftskonzept.

18. Oktober 2022

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Leben und Gesellschaft Musik

Jeden Abend ein wenig länger – Ecuador Jazz 2022

Es lebt wieder, das Zentrum von Quito. Am Freitagabend um kurz nach sechs schieben sich die Menschen durch die enge Calle Guayaquil, eilen mit Einkäufen und Kindern beladen über den Theaterplatz. Es dämmert schon, und im wiedereröffneten Café gegenüber dem Teatro Sucre trinken Bildungsbürger und Kunstschaffende den ersten Rotwein des Abends aus Plastikbechern.

Wer im Parkhaus einen Block weiter für das Auto keinen Platz mehr gefunden hat, dem bleiben noch die düsteren Katakomben an der Ecke zur Calle Manabí. Aussteigen im Dämmerlicht, die Tasche fest im Griff, einmal in alle Richtungen umsehen, und dann zügigen Schrittes zum Ausgang. Oben hat sich in einer Ecke des Theaterplatzes ein Streifenwagen positioniert, unübersehbar und mit blinkenden Lichtern. Aus gutem Grund. Denn das größte Problem für die Kultur im Zentrum der Stadt ist mittlerweile nicht mehr die Corona-Pandemie, sondern die Angst der Bürger vor Diebstählen und Überfällen. Die fast zwei Jahre lange Paralysierung des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens führte in der Innenstadt dazu, dass sich schon am frühen Abend kaum noch jemand ohne Not auf der Straße bewegte. Das historische Zentrum wurde zu einer Art rechtsfreiem Raum – einem Raum, den sich die Ladenbesitzer, Theater, Restaurants und Institutionen nun Schritt für Schritt, gewissermaßen Minute für Minute zurückerobern. Dass mit „Ecuador Jazz 2022“ ein wichtiges Festival nun wieder genau hier, im Herzen der Stadt, stattfindet, ist ein gutes Zeichen.

Das Theater bei Tag – ganz ohne Jazz

Im hell erleuchteten Foyer des 1879 – 1886  im Stil des Neoklassizismus erbauten Teatro Sucre stellt der Caterer Soft Drinks und Häppchen auf. Eine Gruppe von Frauen verkauft Naturprodukte und fair produzierte Kleidung sowie Werbematerial rund um das Festival. Die Komponistin und Pianistin Lyzbeth Badaraco mit ihrer Band präsentiert heute Abend ihr zweites Album „Bucle“; anschließend steht ein Konzert der Banda Metropolitana de Quito unter Leitung des amerikanischen Gastdirigenten Matthew Westgate auf dem Programm. Ein spannender Abend – nur die Zuhörer lassen auf sich warten. Lediglich die Hälfte der fast 800 Plätze ist am Ende besetzt, viele wohl mit Freunden und Verwandten der Musiker. „Unsere zentrale Lage ist im Moment unser größtes Problem“, berichtet Stalin Lucero, der Produktionsleiter der Spielstätte. „Wir haben bieten ein wirklich abwechslungsreiches Programm, haben tausend Ideen, aber die Leute fürchten sich zu kommen.“ 

Angst macht taub und blind – und ein Abend im Zentrum lohnt sich

Dabei lohnt es sich. Lyzbeth Badaraco hat neben ihrer Band eine Reihe von Musikerinnen mitgebracht, darunter die bekannte Liedermacherin Grecia Albán und die wirklich spektakuläre Sängerin Alejandra Cabanilla. „Soleá“, eine traurige Ballade zu Worten von Federico García Lorca, widmet Cabanilla der jungen Anwältin María-Belén Bernal, die vor zwei Wochen in den Räumen der hiesigen Polizeiakademie ermordet wurde. Ihr Fall bewegt seitdem das Land; Frauenorganisationen gehen täglich gegen die Missachtung von Frauenrechten und die zunehmende Zahl an Femiziden auf die Straße. Der im Hintergrund laufende Videoclip zu „Soleá“ interpretiert das Lied als Hoffnungsbotschaft an alle Frauen, die sich in ihrem Leben und in ihren beschränkten Möglichkeiten gefangen fühlen.

Wer diese und andere Kompositionen Badaracos nicht nur einmal hören möchte, kann in der Pause am Verkaufstisch ein Set von handbemalten hölzernen Matrjoschkas erwerben, die über einen am Fuss einer Puppe aufgeklebten Barcode das Herunterladen erlauben – auch hier bleibt das Frauenthema präsent.

Nicht CD, nicht Spotify, sondern Matrjoschka – das neue Album von Lyzbeth Badaraco

Anschließend Szenenwechsel. Mit schmissigen Rhythmen holen die „Banda Sinfónica Metropolitana de Quito“ und der brasilianische Saxofonist Felipe Salles das Publikum in den Saal zurück. Das 1990 gegründete Blasorchester hat sich in den letzten Jahren unter Leitung des jungen venezolanischen Dirigenten Luis Alberto Castro trotz Pandemie zu einer festen Größe im musikalischen Leben Quitos entwickelt. Der US-amerikanische Gastdirigent Matthew Westgate von der Massachusetts University ist bereits zum zweiten Mal in Ecuador, um mit dem Ensemble zu arbeiten. Er ist von der Entwicklung des Orchesters sichtlich begeistert. „Ich bin sehr dankbar dafür, mit diesen wunderbaren Musikern zusammenzuarbeiten!“ Die Schlagzeuger beeindrucken gleich zu Beginn des Konzerts mit virtuosen Soloeinlagen; in der zweiten Programmhälfte mit viel „Westside Story“ sind vor allem die langen Linien der Klarinetten ein Genuss. Und was Musikalität und Zusammenspiel angeht, ist die „Banda Metropolitana“ dem Nationalen Sinfonieorchester im Moment sicherlich überlegen. Als wir nach Beifall und Vorhang zufrieden wieder auf dem Theaterplatz ankommen, hat die Bar gegenüber tatsächlich noch geöffnet für ein zweites Glas…

Die selbstproklamierte „Band der Gegenkultur“, Dozenten der Universidad Central, eine kubanische Frauenband – an Vielfalt mangelt es nicht bei Ecuador Jazz 2022

Das Ecuador Jazz Festival 2022 hat seit dem 15. September zehn Tage lang das Zentrum Quitos bespielt. Konzerte im  ehemaligen Kinosaal des Teatro Variedades und eben im Teatro Sucre, Jam Sessions im Restaurant Caponata und der Lounge Curuba mit Gruppen aus Puerto Rico, Kuba, Frankreich, Peru und Argentinien haben zahlreiche Besucher angelockt. Das kostenlose Abschlusskonzert auf dem Theaterplatz leidet am Sonntag zwar unter strömendem Nachmittagsregen, aber das motivierte Publikum zückt die Regenschirme und bleibt – erst einmal. Erst wenn der Abend kommt, wird der Platz wieder verlassen sein, und der blinkende Streifenwagen umso sichtbarer.

27. September 2022

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Leben und Gesellschaft

„Ein wunderschönes, liebenswertes und verrücktes Land“ – Ludwig Bemelmans und Ecuador

Mehrfach besuchte der deutsch-österreichisch-amerikanische Zeichner und Autor Ludwig Bemelmans, bekannt vor allem durch seine „Madeline“-Bilderbücher für Kinder, Ecuador. Von der Hafenstadt Guayaquil aus bereiste er im Jahr 1937 gemeinsam mit Frau und Tochter Barbara drei Monate lang das Land. Er lernte Esmeraldas an der Küste, Baños und das östliche Tiefland, vor allem aber Otavalo im bergigen Norden und die Hauptstadt Quito kennen. Darüber berichtete er in der amerikanischen Wochenzeitschrift „New Yorker“ und in der „New York Times“, und er verfasste im Anschluss an seine Reisen insgesamt drei Bücher.

Der in Wien geborene Bemelmans wuchs nach der Trennung seiner Eltern bei seiner deutschen Mutter in Regensburg auf. Regeln und Autoritäten waren ihm von jeher ein Greuel, und so verließ er die Schule schon mit 14 Jahren ohne Abschluss. Nach einer begonnenen Hotellehre, die angeblich in einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit einem Oberkellner endete, schickte seine Mutter den inzwischen Sechzehnjährigen in die USA. In New York fand er zunächst eine Anstellung als Hilfskellner; nach dem ersten Weltkrieg arbeite er sich zum stellvertretenden Manager des Ritz-Carlton hoch. Seine eigentliche Liebe jedoch galt von jeher dem Zeichnen, so dass er 1929 seine lukrative Stellung kündigte und zunächst mehr schlecht als recht als Illustrator und Autor lebte. 1934 erschien sein erstes Kinderbuch „Hansi“; später begann er auch Romane für Erwachsene zu verfassen.

Ein Buch wie eine Sammlung von Karikaturen – bildhaft und auf den Punkt gebracht

Direkt nach seiner ersten Ecuadorreise 1937 veröffentlichte Bemelmans mit „Quito Express“ ein Bilderbuch, das die unfreiwillige Zugfahrt des kleinen Pedro von Otavalo nach Quito und zurück beschreibt. Das Buch war jedoch in den USA kein Publikumserfolg. In Ecuador erschien es erst vor wenigen Jahren in einer dreisprachigen Ausgabe. Auch „The Donkey Inside“, in dem der Autor 1941 seine Reisen nach Ecuador und in andere lateinamerikanische Staaten in einer Art fantastischem Roman zusammenfasst, ist heute weitgehend vergessen. Zu Unrecht. Zwar mag manches im Tonfall des Autors, insbesondere die Beschreibung der indigenen Bevölkerung, aus heutiger Sicht recht chauvinistisch klingen. Aber der scharfe Beobachter Bemelmans zeichnet zugleich ein liebevolles, nuancenreiches und eindrückliches Bild von Land und Leuten, das seinesgleichen sucht und deswegen auch heute noch eine Lektüre lohnt.

The Donkey Inside – Titelblatt der Londoner Ausgabe von 1947

„Im Inneren des Esels“ ist farbig, bildhaft und oft hemmungslos karikierend. Es berichtet von den reichen Familien der Hafenstadt Guayaquil, die es bis in die Dreißiger des 20. Jahrhunderts häufig vorzogen, in Frankreich zu leben, und nur von Zeit zu Zeit auf den Haciendas ihrer Heimat nach dem Rechten schauten. Von den alteingesessenen Bürgern Quitos, die viel Mühe darauf verwenden, ihre Töchter standesgemäß zu verheiraten. Von den zahlreichen Söhnen eines nicht ganz so vermögenden Landbesitzers, die davon träumen, eines Tages in den USA zu leben. Und von europäischen Glücksrittern und deutschen Auswanderern, die zwischen großer Freiheit und der Sehnsucht nach Ordnung und Gründlichkeit schwanken. 

„Jeden Donnerstag Nachmittag um halb drei haben wir hier eine Revolution“

Bemelmans bewegte sich während seines Ecuadoraufenthalts viel unter Diplomaten und anderen Ausländern. Vor allem diese bekommen im „Inneren des Esels“ ihr Fett weg: Der britische Abenteurer Allan Ferguson, der unermüdlich nach dem Goldschatz des letzten Inka-Herrschers Atahualpa sucht, wird mit den lapidaren Worten kommentiert, „solchen Menschen ist einfach nicht zu helfen“.Vom Botschafter des Deutschen Reiches heißt es mit bitterer Ironie, er sei, „in diesem Land voller Überraschungen“ tatsächlich „ein freundlicher und kultivierter Herr.“ Aber auch die kleine einheimische Elite nimmt Bemelmans gerne aufs Korn: „Hier in Quito haben wir nicht so viel an Unterhaltung zu bieten wie in den großen Städten“, zitiert er einen imaginären früheren Staatspräsidenten. „Hier in Quito müssen Sie ihre Frau lieben; oder Sie gehen nach New York, oder, wenn Sie ganz viel Glück haben, nach Paris.“

Jede der fiktiven Persönlichkeiten des Buchs ist eine Zuspitzung in sich: Der exzentrische Historiker Juan de Palacios charakterisiert sein Heimatland Ecuador mit den Worten: „Geschichte…ist eine Fabel, die von einer Mehrheit als wahr angesehen wird. Bei uns ist es eine blutige, farbenfrohe Fabel – mit Gewalt, Gold, Inkas, Verrat (…) Unsere Archive sind größtenteils unzuverlässig, und unsere Statistiken reine Schätzung (…) Jeden Donnerstag Nachmittag um halb drei haben wir hier eine Revolution“. 

Ein Schelm, wer sich bei der Lektüre an die ecuadorianische Gegenwart erinnert fühlt

Vieles klingt den heute in Ecuador Lebenden nicht unbekannt. Das entspannte Verhältnis vieler Einheimischer zu Terminen und Abfahrtszeiten ist ein wiederkehrendes Thema des Eisenbahnliebhabers Bemelmans: „Nach dem Sonnenstand ist es jetzt halb acht; die Glocken der Kathedrale läuten gerade Dreiviertel sieben, und auf der Bahnhofsuhr ist es zehn Minuten vor sieben. Es gibt eine Sternwarte in Quito, die die richtige Uhrzeit kennt, aber die können wir von hier aus gerade nicht sehen.“ Die Deutsche Schule, 1937 unter enger Kontrolle der Nationalsozialisten, gilt zwar als „die beste Schule des Landes“, aber auf Schulbildung allgemein wird im damaligen Ecuador nicht allzu viel Wert gelegt: „Die Feste aller Heiligen der Katholischen Kirche und diverser lokaler Madonnen, die zahlreichen Feiertage aus Anlass der Unabhängigkeit und wichtiger Schlachten, und die Geburtstage von Sucre und Bolívar sowie des jeweiligen Präsidenten sorgen dafür, dass in Quito immer Festtagsstimmung herrscht, und reduzieren die Zahl der jährlichen Schultage auf 79.“ 

„denn hier habe ich mehr als anderswo die Dinge gefunden, die ich für Südamerika typisch fand“

Ecuador ließ Bemelmans lange nicht los. „Now I lay me down to sleep“, 1943 veröffentlicht, beschreibt die turbulente Reise eines gealterten ecuadorianischen Generals von Biarritz über Casablanca bis zu der heimatlichen Hacienda seiner Familie in Ecuador. Sechs Notizbücher und mehr als einhundert Zeichnungen entstanden auf den Reisen des Autors und Zeichners. „The Donkey Inside ist in gewisser Weise ein Porträt eines Kontinents, aber es spielt in Ecuador, denn hier habe ich mehr als anderswo die Dinge gefunden, die ich für Südamerika typisch fand“ schreibt der Autor im Nachwort zu seinem Buch. „Es ist ein wunderschönes, liebenswertes und verrücktes Land.“

2. September 2022

„The Donkey inside“ lässt sich antiquarisch, wie auch einige andere Romane von Ludwig Bemelmans, im Internet erwerben. Eine deutsche Übersetzung gibt es leider nicht. „Quito Express“ ist in Quito im Buchhandel erhältlich.

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Leben und Gesellschaft Reisen

Christkindfiguren und geflügelte Schweine – der Pfarrer und Künstler Tito Heredia

Tito Heredia würde im Publikum nicht auffallen, wenn in einem europäischen Opernhaus Benjamin Brittens „Tod in Venedig“ gegeben wird: Schwarze Brille, beigefarbene Leinenhose, das hellblaue Hemd hängt lässig darüber, Schiebermütze.  Seit acht Jahren ist er Pfarrer der Gemeinde von San Marcos im historischen Zentrum Quitos. Und er ist Künstler, war es schon immer. „Ich wollte die Kunst eigentlich zum Beruf machen. Und dann wurde es doch Theologie. Aber nachdem ich die ersten harten Jahre des Studiums hinter mir hatte, habe ich parallel begonnen, auch Kunst zu studieren.“ Dabei ist es geblieben. „Durch meine Kunst habe ich regelmäßig meine Pfarrgemeinden mitfinanziert. Hier, diese Figur des Jesuskindes („Niño Jesús“) ist seit dreißig Jahren einer meiner Verkaufsschlager. Der jetzige Erzbischof von Quito bestellt zu Weihnachten immer einige davon für seine Kontakte, sogar dem Papst hat er eine geschenkt!“. 

Pfarrer mit einem Faible für Kunst und Geschichte

Im Pfarrhaus hat der Geistliche nicht nur sein Atelier, sondern auch einen eigenen Verkaufsraum eingerichtet. Ihn faszinieren vor allem traditionelle Druck- und Gießtechniken. Für seine Arbeiten benutzt er alte Stempel, selbst gefertigte hölzerne Druckstöcke oder traditionelle ländliche Gussformen aus Ton. Ganz besonderes gern verwendet er auch dekorative Elemente aus Zinnblech, die er nach eigenen Entwürfen in Mexiko herstellen lässt. Damit dekoriert er unter anderem die hölzernen Kreuze, die eines seiner Markenzeichen sind. Sie leuchten in bunten Farben, lila, rosa, grün und rot.  Konventionell ist wenig an Heredia Werken. Eine Serie von Holzschnitten widmet sich den traditionellen Teufelsdarstellungen in unterschiedlichen Regionen Ecuadors. Die tönernen Schweine, die er mithilfe einer aus der Kleinstadt Pujilí stammenden Gussform anfertigt, tragen entgegen der Tradition goldene Engelsflügel. „Ein Käufer hatte mich darum, gebeten, und Sie wissen, Sterbenden und Kunden erfüllt man jeden Wunsch…“

Die Calle Junín, Straße von Künstlern und Intellektuellen

Das Pfarrhaus von San Marcos wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts errichtet, um die Zeit der Unabhängigkeit Ecuadors im Jahr 1822. Die Calle Junín, an deren Ende Haus und Kirche liegen, war bis in die Sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine Wohngegend des wohlhabenden Bürgertums. In den folgenden Jahrzehnten jedoch zogen sich die großbürgerlichen Familien immer mehr aus dem zunehmend als gefährlich geltenden Zentrum Quitos zurück und bauten sich großzügigere Einzelhäuser in den rasch wachsenden Vororten der Stadt. Die historischen Wohnhäuser in der Straße verfielen, bis zu Beginn des neuen Jahrtausends Intellektuelle wie der Sprachforscher Matthias Abram und der frühere Dirigent des nationalen Sinfonieorchesters, Álvaro Manzano, die Calle Junín für sich entdeckten. Dennoch wurden die Bewohner des Viertels im Durchschnitt immer älter, und viele von ihnen überlebten die ersten Monate der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 nicht. „So viele meiner älteren Gemeindemitglieder sind damals gestorben, als es noch keine Impfung gab, es war dramatisch!“, erzählt Tito Heredia, „Mindestens sechs Häuser in der Nachbarschaft stehen jetzt deshalb leer.“

Kunst und Theologie gehen Hand in Hand: Tito Heredia in seinem Atelier

Als Heredia vor acht Jahren sein denkmalgeschütztes Pfarrhaus bezog, war es in einem erbärmlichen Zustand. Mithilfe der städtischen Denkmalschutzbehörde konnte der kunsthistorisch interessierte Pfarrer binnen dreier Jahre die notwendigen Mittel für die Restaurierung beschaffen. Die Arbeiten beaufsichtigte er persönlich und legte selbst Hand an, wo notwendig. Das Haus ist heute ein Schmuckstück. Die hölzernen Fußböden sind nur in Teilen original erhalten, wohl aber die von der Zeit gezeichnete Treppe zum oberen Stockwerk. Von den langen Fluren zweigen die Räume ab wie Klosterzellen. Das Esszimmer ist mit eindrucksvollen Gemälden ausgestattet, unter anderem mit einer für Quito typischen Darstellung des Heiligen Joseph mit dem Jesuskind. Natürlich kam eine solche Einrichtung nicht mit dem Haus: Tito Heredia ist ein fanatischer Sammler. Selbst in der Küche finden sich in jedem Winkel religiöse Kunstwerke unterschiedlicher Provenienz, direkt neben Haushaltsutensilien und einer Schale mit schrumpligen Mandarinen.

Für Kunsthistoriker gibt in San Marcos noch einiges zu entdecken

Auf einem Stuhl neben der Tür liegt das letzte Buch der US-amerikanischen Kunsthistorikern Susan Webster: „Lettered Artists and the Languages of Empire: Painters and the Profession in Early Colonial Quito“. „Susan ist eine gute Freundin, und dieses Buch ist eine wahre Fundgrube, es liefert so viele interessante Fakten! Hier in Ecuador versteht man unter Geschichte ja eigentlich immer nur eine Sammlung von Legenden und Traditionen, es gibt kaum wissenschaftlichen Werke wie dieses, auch nicht zur Kunstgeschichte!“ Auch in der um 1680 errichteten Pfarrkirche San Marcos gibt es für kunsthistorisch Interessierte einiges zu entdecken: Dort findet sich zum Beispiel ein weiterer Joseph in Lebensgröße, mit silberner Krone. Der Altar ist, verglichen mit anderen in der Stadt, dagegen recht schlicht gehalten. Auffallend sind die zwei auf Zinnblech gemalten knienden Engel, präraffaelitisch angehaucht, die ihn zieren. Hinter dem Hochaltar befindet sich ein nicht sichtbarer Vorgängeraltar, der mangels Geld schlicht auf die Wand gemalt worden war. Auch an den übrigen Wänden verstecken sich unter mehreren Farbschichten Bemalungen aus früheren Zeiten, die freizulegen eine Aufgabe für die Zukunft bleibt. 

Jährlich am Karsamstag organisiert der Geistliche in seiner Gemeinde die kleine, aber feine „Prozession der Einsamkeit Mariens“ („Procesión de la Soledad de Maria“): Nach sorgfältig geplanter Choreographie ziehen auffällig geschmackvoll gekleidete Folkloregruppen mit den Gemeindemitgliedern durch die Straßen, weit weg vom lärmenden Trubel der bekannteren Karfreitags-Prozession. Wie lebt es sich mit diesem permanenten ästhetischen Anspruch, zwischen Kunst und Theologie? „Ach wissen Sie, ich gelte ja in Kirchenkreisen so ein bisschen als Verrückter. So lange man mich in Ruhe meine Arbeit machen lässt, bin ich zufrieden.“ Tito Heredia winkt zum Abschied von der Türschwelle, sichert die Haustür zusätzlich mit einer soliden Eisenstange, und verschwindet im Innern seines Refugiums. 

Pfarrkirche und Gemeindehaus San Marcos, Plaza de San Marcos, Ecke Javier Gutierrez/Junín. Der Verkaufsraum ist zu folgenden Zeiten geöffnet: Dienstag bis Freitag von 9 bis 12 und 15 – 17 Uhr. Außerhalb dieser Zeiten ist Pfarrer Tito Heredia per WhatsApp unter 00593 98 535 8069 zu erreichen.

8. Juli 2022

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Leben und Gesellschaft

„Unser Motto ist die Tat“ – der Hilfsverein der „Damas Alemanas“

Patricia und Joselyn kichern und sind bester Laune. Die beiden Dreizehnjährigen haben von ihrer Schulleiterin die Erlaubnis bekommen, für eine Stunde die Schule zu schwänzen. Denn die „Damas Alemanas“ sind heute da mit der monatlichen Essenskiste. Obst, Gemüse, Milch, Hülsenfrüchte, Eier. Über zwanzig Kilo, die können nur mit dem Geländewagen bis zu dem an einem steilen Hang gelegenen Häuschen transportiert werden, in dem Patricia mit ihrer neunköpfigen Familie wohnt. Und die „Damas“ kennen den Weg noch nicht. Also setzt sich Patricia hinten ins Auto, und Joselyn gleich mit, denn sie lebt mit Mutter, Großmutter und zwei kleinen Geschwistern nur etwas weiter unten am Berg.

Die „Damas Alemanas“ sind ein kleiner Hilfsverein von rund fünfzig deutschsprachigen Frauen in Ecuadors Hauptstadt Quito, die sich vor allem die Unterstützung von besonders benachteiligten Kindern und Familien zum Ziel gesetzt haben. Ehrenamtliche Hilfsorganisationen von Deutschen haben in Lateinamerika eine lange Tradition: Die „Deutsche Wohltätigkeitsgesellschaft“  in Argentinien beispielsweise blickt auf eine über hundertjährige Geschichte zurück; auch in Bolivien gibt es seit langem die „Deutschen Freiwilligen“, die in vielfältiger Weise das dortige staatliche Kinderkrankenhaus unterstützen. In Ecuador sind es die „Deutschen Damen“.

Solch ein Name scheint aus der Zeit gefallen. Aber in den Sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts waren es in Quito eben die „Damen der besseren Gesellschaft“, die sich zunächst informell zusammenschlossen:  die Ehefrauen des Leiters der Deutschen Schule und des deutschen Botschafters, die Frau des aus Deutschland eingewanderten Firmenbesitzers. In dem vom Großgrundbesitz weniger Familien und Besitzlosigkeit fast aller übrigen geprägten Ecuador, drei Jahre vor der Landreform von 1964, wollten sie vor allem die Not der Kinder lindern helfen. 1978 wurde, auf Initiative der aus dem nationalsozialistischen Deutschland über Italien nach Ecuador emigrierten Ärztin Ilse Grossmann, aus dem losen Grüppchen ein eingetragener Verein. Die Damen unterstützten das erste SOS-Kinderdorf in Ecuador bei der Renovierung eines Hauses, halfen in entlegenen Bergdörfern und an der Küste mit Schulmaterial und Uniformen, kümmerten sich um Kinder mit angeborenen Behinderungen.

Ohne Geld keine Hilfe

Wer helfen will, braucht neben gutem Willen und engagierten Mitgliedern zunächst eines: Geld. Großes Vermögen war in der kleinen deutschen Gemeinschaft aus Emigranten und vorübergehend im Land lebenden Familien jedoch kaum vorhanden. Mit dem zu Ende der Sechziger Jahre einsetzenden Erdöl-Boom aber eröffneten immer mehr deutsche Unternehmen Vertretungen in Quito, die – zuweilen nach intensivem Klinkenputzen – bereit waren, die Projekte der Damas Alemanas zu unterstützen. Und natürlich wurden die Frauen auch den Erwartungen gerecht, welche die ecuadorianische Oberschicht an sie stellte:  Sie backten „diese wunderbaren deutschen Kuchen“ und verkauften sie, insbesondere bei dem jährlichen Weihnachtsbasar, der über die Jahre zu einer festen Institution in Quito und zu einer Haupteinnahmequelle des Vereins wurde. Aber auch Konzerte und sogar ein immer im Mai organisierter Ball waren nicht nur Attraktionen für die bürgerliche Gesellschaft von Quito, sondern eben auch „fundraising events“.

Was die Damen mit dem verdienten Geld taten, wurde in der Öffentlichkeit lange nur am Rande wahrgenommen. „Wir hatten so einen Kaffeeklatschruf“, erinnert sich eines der aktiven Mitglieder, „dabei bin ich vor zwanzig Jahren vor allem beigetreten, um mich hier sozial zu engagieren.“ Die Frauen arbeiteten diesem Ruf entgegen, schufen spezialisierte Arbeitsgruppen für Medizin, Schulwesen, Veranstaltungen, modernisierten ihre Arbeitsabläufe. „Unser Motto ist die Tat“, zitierte eine Broschüre zum dreißigjährigen formellen Bestehen im Jahr 2008 die langjährige Präsidentin des Vereins Beatriz Schlenker. 

Heute entscheidet nicht Herkunft, sondern das Engagement über die Mitgliedschaft

Beatriz Schlenker, aus Kolumbien stammend, hat ihr Herz an den Verein verloren. 1980 kam sie mit ihrem Mann, einem deutsch-schweizerischen Biologen, nach Ecuador, wurde aber erst zwanzig Jahre später Mitglied. „Ich wollte da eigentlich gar nicht mitmachen, ich hatte mit den Kindern und mit der Arbeit – auf ihrem Grundstück leitete sie lange eine Rettungsstation für Wildtiere – genug zu tun.“ Im Jahr 2001 stieß sie dann doch zu den deutschen Frauen. In Vielem steht sie für eine Generation, die eine neue Epoche bei den Damas einleitete. Zunehmend waren unter den damals fast neunzig Mitgliedern damals nicht mehr nur Deutsche, sondern auch Frauen aus anderen Ländern, die über persönliche Bindungen, Arbeit oder Sprache eine Beziehung zu Deutschland hatten. Immer mehr von ihnen standen selbst im Beruf, brachten neue Erfahrungen und Kontakte mit – aber weniger Zeit. Dennoch fanden sich Mitglieder, die wöchentlich für bedürftige Kinder in einer Kirchengemeinde kochten; die in einer Zwergschule nahe dem Wallfahrtsort El Quinche regelmäßig Musikunterricht erteilten, oder immer wieder persönliche Gespräche mit Familien führten, die um finanzielle Unterstützung bei der Behandlung ihrer schwerkranken Kinder gebeten hatten.

In Portoviejo an der Küste beginnt in diesen Tagen das neue Schuljahr. Hefte und Stifte hätten diese drei Geschwister ohne die Damas Alemanas nicht. ©Cristhian Almeida

Mit jeder Generation ändern sich die Frauen, gibt es andere Erwartungen, werden neue Formen der Kommunikation erprobt. Aber die wirtschaftliche Lage breiter Bevölkerungsschichten ist über die Jahre weitgehend unverändert geblieben. Schon nach dem schweren Erdbeben von 2016 sammelte der Verein Erfahrung mit Nothilfe, half schnell und unbürokratisch zahlreichen Erdbebenopfern mit Lebensmittel- und Kleiderspenden. Mit der Corona-Pandemie erreichte diese Form der Arbeit im Frühjahr 2020 eine neue Dimension. Unzählige im informellen Sektor Beschäftigte verloren binnen Wochen ihre Arbeit, mit der Schließung der Schulen über zwei Jahre fiel auch die oft so notwendige Schulspeisung für bedürftige Kinder aus. Dank intensiver Werbung um Spenden in Deutschland verdreifachten sich binnen kürzester Zeit Budget und Projekte der Damas, und so zogen einige der Frauen vorübergehend fast wöchentlich aus, um Lebensmittelkisten zu packen und für deren Verteilung zu sorgen.

Und immer wieder: Der Hunger im Land als größtes Bildungshemmnis

Mittlerweile ist die Pandemie vorbei, aber die Not keineswegs. „Das größte Bildungshemmnis in unserem Land ist der Hunger“, so die Einschätzung vieler im Bildungssektor Beschäftigter. Und deshalb sind die Damas heute im Flecken „El Carmen“, wo Joselyn und Patricia leben. Die Venezolanerin María Jaimes ist als neues Mitglied zum ersten Mal mit dabei, packt Nahrungsmittel in kleinere Kisten um, schleppt sie durch den Matsch den Berg hinauf. Der Geruch ist gewöhnungsbedürftig, am Hang gegenüber schlachten Nachbarn gerade eine Kuh. Aber die beiden Schülerinnen auf Freigang sind hochzuzufrieden, schieben die Kiste zwischen die kaputten Möbel im Schlafzimmer und schließen die Tür vor der Nase der hungrigen Hunde. Und dann geht es zurück, den langen, holprigen Weg bergab bis zur Schule. „Ich weiß nicht, wie sie das machen, aber die beiden Mädchen sind morgens immer pünktlich“, sagt Klassenlehrer Alexander Panchi.

Erst kommt das Essen, dann die Bücher. Viele Schulkinder in Ecuador sind unter- und fehlernährt.

Warum sie sich bei den „Deutschen Damen“ engagiert, frage ich Sandra Biebeler, Schriftführerin des Vereins und Lehrerin an der Deutschen Schule, die mit Mann und zwei kleinen Kindern seit vier Jahren in Ecuador lebt. „Ich habe schon in Deutschland ehrenamtlich gearbeitet. Als wir nach Quito kamen, war mir klar, dass ich in diesem Land nicht nur nehmen kann, sondern auch geben will. Und die Damas sind einerseits Hilfsorganisation, aber sie sind auch Netzwerk – nie hätte ich neben meiner Arbeit sonst in so kurzer Zeit so viele interessante Frauen kennengelernt!“

Die Mitgliedschaft von Männern allerdings ist bisher nicht vorgesehen in den Statuten, über deren Einhaltung das „Ministerium für wirtschaftliche und gesellschaftliche Inklusion“ (MIES) wie bei allen Nichtregierungsorganisationen im Land penibel wacht. Diese Reform anzustoßen und umzusetzen wird wohl die Aufgabe der nächsten Generation von „Damas Alemanas“ sein.

26. Mai 2022

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