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Leben und Gesellschaft

“Unser Motto ist die Tat” – der Hilfsverein der “Damas Alemanas”

Patricia und Joselyn kichern und sind bester Laune. Die beiden Dreizehnjährigen haben von ihrer Schulleiterin die Erlaubnis bekommen, für eine Stunde die Schule zu schwänzen. Denn die „Damas Alemanas“ sind heute da mit der monatlichen Essenskiste. Obst, Gemüse, Milch, Hülsenfrüchte, Eier. Über zwanzig Kilo, die können nur mit dem Geländewagen bis zu dem an einem steilen Hang gelegenen Häuschen transportiert werden, in dem Patricia mit ihrer neunköpfigen Familie wohnt. Und die „Damas“ kennen den Weg noch nicht. Also setzt sich Patricia hinten ins Auto, und Joselyn gleich mit, denn sie lebt mit Mutter, Großmutter und zwei kleinen Geschwistern nur etwas weiter unten am Berg.

Die „Damas Alemanas“ sind ein kleiner Hilfsverein von rund fünfzig deutschsprachigen Frauen in Ecuadors Hauptstadt Quito, die sich vor allem die Unterstützung von besonders benachteiligten Kindern und Familien zum Ziel gesetzt haben. Ehrenamtliche Hilfsorganisationen von Deutschen haben in Lateinamerika eine lange Tradition: Die „Deutsche Wohltätigkeitsgesellschaft“  in Argentinien beispielsweise blickt auf eine über hundertjährige Geschichte zurück; auch in Bolivien gibt es seit langem die „Deutschen Freiwilligen“, die in vielfältiger Weise das dortige staatliche Kinderkrankenhaus unterstützen. In Ecuador sind es die „Deutschen Damen“.

Solch ein Name scheint aus der Zeit gefallen. Aber in den Sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts waren es in Quito eben die „Damen der besseren Gesellschaft“, die sich zunächst informell zusammenschlossen:  die Ehefrauen des Leiters der Deutschen Schule und des deutschen Botschafters, die Frau des aus Deutschland eingewanderten Firmenbesitzers. In dem vom Großgrundbesitz weniger Familien und Besitzlosigkeit fast aller übrigen geprägten Ecuador, drei Jahre vor der Landreform von 1964, wollten sie vor allem die Not der Kinder lindern helfen. 1978 wurde, auf Initiative der aus dem nationalsozialistischen Deutschland über Italien nach Ecuador emigrierten Ärztin Ilse Grossmann, aus dem losen Grüppchen ein eingetragener Verein. Die Damen unterstützten das erste SOS-Kinderdorf in Ecuador bei der Renovierung eines Hauses, halfen in entlegenen Bergdörfern und an der Küste mit Schulmaterial und Uniformen, kümmerten sich um Kinder mit angeborenen Behinderungen.

Ohne Geld keine Hilfe

Wer helfen will, braucht neben gutem Willen und engagierten Mitgliedern zunächst eines: Geld. Großes Vermögen war in der kleinen deutschen Gemeinschaft aus Emigranten und vorübergehend im Land lebenden Familien jedoch kaum vorhanden. Mit dem zu Ende der Sechziger Jahre einsetzenden Erdöl-Boom aber eröffneten immer mehr deutsche Unternehmen Vertretungen in Quito, die – zuweilen nach intensivem Klinkenputzen – bereit waren, die Projekte der Damas Alemanas zu unterstützen. Und natürlich wurden die Frauen auch den Erwartungen gerecht, welche die ecuadorianische Oberschicht an sie stellte:  Sie backten „diese wunderbaren deutschen Kuchen“ und verkauften sie, insbesondere bei dem jährlichen Weihnachtsbasar, der über die Jahre zu einer festen Institution in Quito und zu einer Haupteinnahmequelle des Vereins wurde. Aber auch Konzerte und sogar ein immer im Mai organisierter Ball waren nicht nur Attraktionen für die bürgerliche Gesellschaft von Quito, sondern eben auch „fundraising events“.

Was die Damen mit dem verdienten Geld taten, wurde in der Öffentlichkeit lange nur am Rande wahrgenommen. „Wir hatten so einen Kaffeeklatschruf“, erinnert sich eines der aktiven Mitglieder, „dabei bin ich vor zwanzig Jahren vor allem beigetreten, um mich hier sozial zu engagieren.“ Die Frauen arbeiteten diesem Ruf entgegen, schufen spezialisierte Arbeitsgruppen für Medizin, Schulwesen, Veranstaltungen, modernisierten ihre Arbeitsabläufe. „Unser Motto ist die Tat“, zitierte eine Broschüre zum dreißigjährigen formellen Bestehen im Jahr 2008 die langjährige Präsidentin des Vereins Beatriz Schlenker. 

Heute entscheidet nicht Herkunft, sondern das Engagement über die Mitgliedschaft

Beatriz Schlenker, aus Kolumbien stammend, hat ihr Herz an den Verein verloren. 1980 kam sie mit ihrem Mann, einem deutsch-schweizerischen Biologen, nach Ecuador, wurde aber erst zwanzig Jahre später Mitglied. „Ich wollte da eigentlich gar nicht mitmachen, ich hatte mit den Kindern und mit der Arbeit – auf ihrem Grundstück leitete sie lange eine Rettungsstation für Wildtiere – genug zu tun.” Im Jahr 2001 stieß sie dann doch zu den deutschen Frauen. In Vielem steht sie für eine Generation, die eine neue Epoche bei den Damas einleitete. Zunehmend waren unter den damals fast neunzig Mitgliedern damals nicht mehr nur Deutsche, sondern auch Frauen aus anderen Ländern, die über persönliche Bindungen, Arbeit oder Sprache eine Beziehung zu Deutschland hatten. Immer mehr von ihnen standen selbst im Beruf, brachten neue Erfahrungen und Kontakte mit – aber weniger Zeit. Dennoch fanden sich Mitglieder, die wöchentlich für bedürftige Kinder in einer Kirchengemeinde kochten; die in einer Zwergschule nahe dem Wallfahrtsort El Quinche regelmäßig Musikunterricht erteilten, oder immer wieder persönliche Gespräche mit Familien führten, die um finanzielle Unterstützung bei der Behandlung ihrer schwerkranken Kinder gebeten hatten.

In Portoviejo an der Küste beginnt in diesen Tagen das neue Schuljahr. Hefte und Stifte hätten diese drei Geschwister ohne die Damas Alemanas nicht. ©Cristhian Almeida

Mit jeder Generation ändern sich die Frauen, gibt es andere Erwartungen, werden neue Formen der Kommunikation erprobt. Aber die wirtschaftliche Lage breiter Bevölkerungsschichten ist über die Jahre weitgehend unverändert geblieben. Schon nach dem schweren Erdbeben von 2016 sammelte der Verein Erfahrung mit Nothilfe, half schnell und unbürokratisch zahlreichen Erdbebenopfern mit Lebensmittel- und Kleiderspenden. Mit der Corona-Pandemie erreichte diese Form der Arbeit im Frühjahr 2020 eine neue Dimension. Unzählige im informellen Sektor Beschäftigte verloren binnen Wochen ihre Arbeit, mit der Schließung der Schulen über zwei Jahre fiel auch die oft so notwendige Schulspeisung für bedürftige Kinder aus. Dank intensiver Werbung um Spenden in Deutschland verdreifachten sich binnen kürzester Zeit Budget und Projekte der Damas, und so zogen einige der Frauen vorübergehend fast wöchentlich aus, um Lebensmittelkisten zu packen und für deren Verteilung zu sorgen.

Und immer wieder: Der Hunger im Land als größtes Bildungshemmnis

Mittlerweile ist die Pandemie vorbei, aber die Not keineswegs. „Das größte Bildungshemmnis in unserem Land ist der Hunger“, so die Einschätzung vieler im Bildungssektor Beschäftigter. Und deshalb sind die Damas heute im Flecken „El Carmen“, wo Joselyn und Patricia leben. Die Venezolanerin María Jaimes ist als neues Mitglied zum ersten Mal mit dabei, packt Nahrungsmittel in kleinere Kisten um, schleppt sie durch den Matsch den Berg hinauf. Der Geruch ist gewöhnungsbedürftig, am Hang gegenüber schlachten Nachbarn gerade eine Kuh. Aber die beiden Schülerinnen auf Freigang sind hochzuzufrieden, schieben die Kiste zwischen die kaputten Möbel im Schlafzimmer und schließen die Tür vor der Nase der hungrigen Hunde. Und dann geht es zurück, den langen, holprigen Weg bergab bis zur Schule. „Ich weiß nicht, wie sie das machen, aber die beiden Mädchen sind morgens immer pünktlich“, sagt Klassenlehrer Alexander Panchi.

Erst kommt das Essen, dann die Bücher. Viele Schulkinder in Ecuador sind unter- und fehlernährt.

Warum sie sich bei den „Deutschen Damen“ engagiert, frage ich Sandra Biebeler, Schriftführerin des Vereins und Lehrerin an der Deutschen Schule, die mit Mann und zwei kleinen Kindern seit vier Jahren in Ecuador lebt. „Ich habe schon in Deutschland ehrenamtlich gearbeitet. Als wir nach Quito kamen, war mir klar, dass ich in diesem Land nicht nur nehmen kann, sondern auch geben will. Und die Damas sind einerseits Hilfsorganisation, aber sie sind auch Netzwerk – nie hätte ich neben meiner Arbeit sonst in so kurzer Zeit so viele interessante Frauen kennengelernt!“

Die Mitgliedschaft von Männern allerdings ist bisher nicht vorgesehen in den Statuten, über deren Einhaltung das “Ministerium für wirtschaftliche und gesellschaftliche Inklusion“ (MIES) wie bei allen Nichtregierungsorganisationen im Land penibel wacht. Diese Reform anzustoßen und umzusetzen wird wohl die Aufgabe der nächsten Generation von „Damas Alemanas“ sein.

26. Mai 2022

4 Antworten auf „“Unser Motto ist die Tat” – der Hilfsverein der “Damas Alemanas”“

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