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Musik

Musizieren für ein anderes Leben

„Das ist doch hier schon fast wie in Europa, oder?“ Álvaro Panchi grinst. Mit ausgebreiteten Armen steht er auf dem Dach der Schule „San Marino“ weit im Süden von Quito. Unten strömt lärmend der Autoverkehr; aus dem grauen Beton des Gebäudes ragen Stahlträger in die Luft. Rechts von uns steht ein winziges Häuschen wie aufgeklebt auf dem Schuldach „Hier wohnt Montserrat, eine unserer jüngsten Schülerinnen. Morgens besucht sie den Schulunterricht, nachmittags bekommt sie ihre musikalische Ausbildung in Gehörbildung, allgemeiner Musiklehre, Klavier. Für musikbegabte Kinder ist das hier ideal!“. Álvaro Panchi ist in Wien ausgebildeter Geiger. Zehn Jahre hat er in der österreichischen Hauptstadt studiert und gelebt, in bekannten Orchestern gespielt.  Auch zwei seiner Brüder leben als Musiker in Europa. Ihn aber hat es zurückgezogen nach Ecuador. Der Einunddreißigjährige hat ein ehrgeiziges Ziel: In seinem „Programa Bellas Artes“ (PBA) die zukünftige musikalische Elite seines Heimatlandes auszubilden. 

In einem schlichten Klassenraum kneten an diesem Samstagmorgen acht Kinder im Kindergartenalter Salzteig. „Das heute ist sozusagen der Vorkurs zu unserem Programm. Diese Kinder sind hier, weil ihre Eltern möchten, dass sie eine musikalische Grundausbildung bekommen. Wir trainieren mit ihnen Fein- und Grobmotorik, tanzen, singen und bringen ihnen eher spielerisch Tonhöhen, Notennamen und Notenwerte bei. Instrumentalunterricht haben sie in dieser Phase noch nicht. Aber wir beobachten, wer besonders gut hört, wem auch komplizierte Rhythmen schnell verständlich sind, und wer regelmäßig und pünktlich zum Unterricht kommt.“ Das pünktliche Erscheinen ist die erste Herausforderung für viele Familien: Einige von ihnen wohnen über eine Stunde entfernt im kleinen Latacunga. Der Verkehr und das unberechenbare Wetter können da schnell die Planung durcheinanderbringen.

Álvaro Panchi Programa Bellas Artes
„Für musikbegabte Kinder ist das hier ideal“. Álvaro Panchi, der Initiator des „Programa Bellas Artes“

Szenenwechsel. Ein Dienstagnachmittag im „Nationalen Konservatorium“ in der Innenstadt Quitos. Der Hörsaal ist bis zum letzten Platz gefüllt; Schüler sitzen auf dem Boden, Lehrkräfte stehen an den Wänden. Vorne haben sich fünfzehn aufgeregte Kinder in grünen T-Shirts mit der Aufschrift „PBA“ versammelt. Zum ersten Mal sollen sie heute öffentlich auftreten. „Ich habe als Kind Gehörbildung gehasst“, bekennt Álvaro Panchi zu Beginn der Aufführung. Seine Schützlinge dagegen scheinen das Solfége, das Benennen, Singen und Wiedererkennen von Tonhöhen, zu lieben. Ob fünf Jahre alt oder fünfzehn — entspannt kommen sie nach vorne, schreiben unter dem Beifall des Publikums nach Diktat Melodien, komplexe Rhythmen, Harmoniefolgen an die Tafel. Der kleine Luis Ángel, den alle nur „Angelito“ nennen, spielt eine Beethoven – Sonatine: differenziert und mit sehr reifer Körperbeherrschung. Um das Pedal zu erreichen, muss er immer wieder kurz vom Hocker rutschen, die Beine sind noch zu kurz. Kaum hat er sein Stück beendet, springt der Sechsjährige wie ein Gummiball vom Klavierhocker, verbeugt sich und rennt lachend quer über die Bühne zu seinen Kameraden. Wie alle anderen Kinder des Programms verfügt Angelito über ein absolutes Gehör, beim Diktat erkennt er sofort jeden Ton, der ihm vorgespielt wird. Und auch sonst fällt ihm das Wiedergeben von Gehörtem und Gelesenem nicht schwer: Mit beseeltem Blick und vollem Körpereinsatz trägt, nein: spielt mir der Zweitklässler ein langes Gedicht vor, das er für eine Schulveranstaltung gelernt hat. „Literatur und Dichtung mag ich in der Schule am liebsten“, verkündet er ernsthaft.

Spaß und Durchhaltevermögen haben hier alle

Was so einfach und unterhaltsam wirkt, verlangt im Alltag viel Konzentration und Durchhaltevermögen von den Kindern. Vier Nachmittage in der Woche kommen sie nach dem Schulunterricht zur musikalischen Ausbildung in die Schule „San Marino“ oder zum Instrumentalunterricht in die „Villa Celia“ im Zentrum Quitos. An solchen Nachmittagen kann es dort passieren, dass man die Tür zur Besenkammer öffnet – um einen zwölfjährigen Geiger zu finden, der im Halbdunkel zum Klappern des Metronoms Kreisler übt. Oft nehmen die Familien lange Fahrwege zwischen Wohnort, Schule und Musikunterricht in Kauf, um ihren Kindern diese Ausbildung zu ermöglichen. „Ich selbst musste als Kind nachmittags ständig zwei Stunden im überfüllten Bus fahren, um zum Konservatorium zu kommen. Das war wirklich anstrengend! Jetzt möchte ich, dass „unsere“ Kinder direkt dort zur Schule gehen, wo sie auch den Musikunterricht erhalten. Das spart so viel Zeit und Kraft!“

Die kleinen Musikschüler kommen aus dem ganzen Land. Manche Kinder sind der Musik wegen extra nach Quito gezogen, so wie die sechsjährige Montserrat, die aus einem kleinen Dorf im Süden Ecuadors stammt. Ersten Unterricht erhielt sie über Zoom; eine Weile pendelte sie dann für ihre Klavierstunden jeweils anderthalb Stunden in die nächste größere Stadt. Als sie besseren Unterricht brauchte, fuhr sie einmal pro Woche nach Quito, acht Stunden im Überlandbus, hin und zurück. Dass sie auf Dauer dorthin umziehen wollte, war dem Mädchen und ihren Eltern bald klar. Jetzt endlich wohnt Monserrat mit ihrem Vater hier, direkt auf dem Schulgelände. Die Unterkunft ist schlicht, denn das Geld ist knapp. Wie bei vielen ihrer Kameraden. Für ihre Ausbildung zahlen sie einen eher symbolischen Beitrag; die Instrumentallehrer, die alle im Ausland studiert haben, erhalten für ihren Einsatz nur einen Bruchteil dessen, was sie anderswo verdienen würden.

„Mit dem PBA wollen wir unsere begabtesten Kinder auf ein Musikstudium vorbereiten“

So wie Mateo Celi. Der Cellist hat in Paris studiert; jetzt lehrt er in Quito unter anderem als Professor an der staatlichen „Universidad Central“: „Als ich nach Frankreich kam, hatte ich erst einmal wahnsinnige Mühe, all das nachzuholen, was ich in Ecuador noch nicht gelernt hatte. Mit dem PBA wollen wir unsere begabtesten Kinder so umfassend unterrichten, dass sie auf ein anspruchsvolles Musikstudium vorbereitet sind.“ Dazu gehört eine breit angelegte Ausbildung, die die Schwächen des hiesigen Schulsystems ausgleicht. Die jungen Musiker besuchen zwar normale Schulen, „aber wir versuchen dafür zu sorgen, dass sie dort nicht so viel Zeit mit stupiden Aufgaben verbringen müssen.“ Stattdessen sollen im nächsten Schuljahr Englischunterricht und Theater Teil des Programms werden. „Und Schlagzeug für alle, damit sie auch unsere Latino-Rhythmen richtig spielen können!“, sagt Álvaro Panchi. Celi und er kennen sich seit vielen Jahren, gemeinsam haben sie schon als Jugendliche von einer besseren Musikausbildung in Ecuador geträumt.

Die Finanzierung dieses Traums ist allerdings ein ständiges Problem. „Aber irgendwann und irgendwoher wird das Geld kommen. Wir müssen nur bekannter werden! Wir müssen auftreten, eine richtige Show entwickeln!“ Ein wenig fühlt man sich an Vater Mozart erinnert, der sich von den großen Reisen mit Wunderkind Wolfgang reiche Einnahmen erhoffte. Eine Hoffnung, die nur allzu oft enttäuscht wurde. Aber wahrscheinlich haben einige Kinder des „Programa de Bellas Artes“ gar keine andere Wahl. „Manche von ihnen haben schon im Alter von fünf oder sechs Jahren intuitiv verstanden, dass ihnen die Musik möglicherweise ein anderes, bürgerlicheres Leben ermöglicht. Ich weiß natürlich, dass das nicht in allen Aspekten so stimmt, aber ich sage ihnen ‚je besser Du spielst, desto mehr Chancen hast Du‘. Das ist für diese Kinder keine Belastung, sondern eine Motivation!“ Den unbedingten Willen zum Erfolg haben sie alle; auf ihre Chance warten sie noch.

12. Mai 2023

Eine Antwort auf „Musizieren für ein anderes Leben“

Vielen Dank für den informativen und so lebendig geschriebenen Artikel! Man hat fast das Gefühl, beim Gespräch mit den Genannten dabei zu sein

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