Erst im letzten Moment sehe ich, dass der betagte rote Chevrolet vor mir nicht mehr fährt, sondern mitten auf der Spur angehalten hat. Ich trete heftig auf das Bremspedal, aber es reicht nicht mehr. Der Vordermann öffnet die Tür seines Wagens, steigt aus, kommt genervten Blickes auf mich zu. In diesem Moment klingelt mein Handy: „Gerade hat mich der Dirigent des Sinfonieorchesters von Loja angerufen. Ich soll ihm ein Mozart-Konzert anbieten, egal welches. Bist Du dabei, wenn wir KV 242 für drei Klaviere machen?“ Der das fragt ist Andrés Torres, ecuadorianischer Pianist und immer daran interessiert, gute Musik in die entlegeneren Orte seines Landes zu bringen. „Du weißt, dass unser früherer Bundeskanzler das auch einmal gespielt hat? Gib mir zwei Stunden, ich stecke gerade in einem Unfall!“ Zwei Stunden später sage ich zu. Noch weiß ich nicht, dass hier gerade ein Road Movie beginnt, der uns mit zwei Flügeln im Gepäck von Quito in das beschauliche Loja, und über Cuenca und Riobamba wieder zurück in die Hauptstadt Ecuadors führen wird.
Ich bin Laienklavierspielerin. Aufgewachsen mit Musik als der Hauptbeschäftigung meiner Teenagerjahre. Das Musizieren hat mich während meines unsteten Berufslebens begleitet, in vielen Ländern, in denen von einer Klassik-Szene nicht die Rede sein konnte. Was dort nicht vorhanden war, dachte man sich aus, machte es selbst, schuf es neu. In Ecuador ist das nicht anders. Andrés Torres und ich haben gerade gemeinsam ein vierhändiges Programm gespielt. Wir wissen, dass musikalisch die Chemie stimmt. Nun sind wir zu Dritt: Mit im Bunde ist die siebzehnjährige Emilia Verdugo, Andrés’ augenblickliche Starschülerin. Aber weder Emilia noch ich sind je mit Orchester aufgetreten. „Ich mache jetzt mal den Helmut Schmidt“, witzele ich am Telefon gegenüber Freunden in Deutschland, und frage mich, wie der damals Noch-Kanzler 1981 die Proben mit Justus Frantz und Christoph Eschenbach wohl in seinem mit Terminen gefüllten Alltag untergebracht hat.
Es gibt noch eine größere Herausforderung: Mit Ausnahme der „Casa de la Música“ in Quito verfügt kein Konzertsaal Ecuadors über die drei Instrumente, die wir für das Konzert benötigen. Da trifft es sich gut, dass Emilias Vater, Daniel Verdugo, der einzige Klavierbauer des Landes ist. Ein von ihm im Jahr 1994 angefertigter Flügel, sein erster, wird mit uns auf die Reise gehen, ebenso wie sein jüngstes Produkt mit dem Geburtsjahr 2020. Proben tun wir aus praktischen Gründen direkt in der Werkstatt, zwischen trocknendem Holz und losen Saiten. Großvater Luís Verdugo und die Familienhunde hören zu. Emilia hat den Laptop auf dem Flügel stehen, denn es gibt keine Noten zu kaufen in Ecuador.
Von Loja im Süden….
Zwei Monate später sitzen wir zu früher Morgenstunde in der ersten Probe mit dem Sinfonieorchester von Loja. Das ruhige Städtchen mit rund 250.000 Einwohnern liegt weit weg von Quito im Süden des Landes, bezeichnet sich aber gerne als kulturelle und musikalische Hauptstadt. „Hier beherrscht in jeder Familie irgendjemand ein Instrument“, erklärt uns ein Familienvater. Er selbst ist Berufsmusiker bei der Polizei und hat seine fünf Kinder schon lange vor der Pandemie in einer reinen Online-Schule angemeldet, „damit sie mehr Zeit für das Konservatorium haben!“ Unter dem Staatspräsidenten Rafael Correa erhielt die Stadt Loja im Jahr 2016 einen ihrem Selbstverständnis angemessenen Konzertsaal. Das „Teatro Benjamín Carrión“ verfügt über 900 Sitzplätze und eine hervorragende Akustik. Das örtliche Orchester spielt häufig vor vollem Haus; der Eintritt ist frei, gesetzliche Vorschrift.
Und so ist auch am Konzertabend der Saal gut gefüllt. Das Mozart-Konzert wird hier zum ersten Mal überhaupt aufgeführt. Funk und Fernsehen haben das Ereignis seit Tagen angekündigt; vor lauter Interviews wissen wir kaum noch, wie wir heißen. Im Publikum sitzen zahlreiche Kinder und Jugendliche, die am Tag zuvor Andrés Torres vorgespielt haben – von der etwas gestolperten Clementi-Sonate bis zum souverän dargebotenen Beethoven-Konzert. Viele Stunden lang hat Andrés ohne Pause zugehört, ermutigt, Ratschläge gegeben. Jetzt bei Mozart ist es mucksmäuschenstill im Publikum, man spürt die Begeisterung und den Stolz auf das von Iñigo Pirfano präzise und mit Wärme dirigierte Orchester. Nach der Musik trifft man sich, wie in Ecuador üblich, mit den Fans auf der Bühne. „Bitte noch ein Foto mit den Pianisten, und mit meiner Tochter, sie spielt auch Klavier, das wird sie motivieren!“
… über die Weltkulturerbestadt Cuenca…
Am nächsten Morgen piepst am Frühstücksbuffet Andrés’ Telefon. „Wir haben endlich die Zusage für den Saal in Cuenca!“ Seit Wochen hatte das dortige Orchester die Noten, stand der Konzerttermin fest, nicht aber der Raum. Fünf Tage später grüßt uns das Murmeltier. Im „Teatro Pumapungo“ neben dem städtischen Museum beäugen uns die Musiker der Weltkulturerbe-Stadt mit ein wenig Zurückhaltung. Der Raum ist groß, aber die Bühne klein, man kann hier eigentlich viel kammermusikalischer agieren als in Loja. Erleichterung auf allen Seiten, als die Probe problemlos verläuft. Das Konzertpublikum am folgenden Abend ist uns nah und begeistert – Applaus mitten in der Kadenz des ersten Satzes, jede Operndiva wäre zufrieden. Vor allem aber ist dieser Abend eine Hommage an den ursprünglich aus Cuenca stammenden Luís Verdugo, ebenfalls Klavierbauer, Vater von Daniel, Großvater der Pianistin Emilia. Gerührt steht der 91-jährige am Bühnenrand, hinter ihm seine Flügel, neben ihm die begabte Enkelin, vorne applaudiert der Saal.
Vier staatlich finanzierte Orchester gibt es in Ecuador, neben Loja und Cuenca sind es das von Guayaquil an der Küste und das „nationale“ Sinfonieorchester OSNE in Quito. Gemessen an den durchschnittlichen Gehältern im Land werden die Musiker gut bezahlt; eine Festanstellung in einem dieser Klangkörper ist deshalb attraktiv. Die Besetzung der Dirigentenposten hingegen ist dem jeweils in Quito agierenden Kulturminister überlassen. Wechselt der Minister, was in Ecuador häufig vorkommt, beginnt allseits das große Zittern. Am 17. Mai dieses Jahres hat Präsident Lasso die Auflösung des Parlaments und seinen eigenen Rücktritt erklärt, am 20. August 2023 werden Neuwahlen stattfinden. Dann mag es auch in der Kulturszene bald allerorts wieder heißen, „neues Spiel, neues Glück.“
…und das hochgelegene Riobamba…
Nächste Station. In der hochgelegenen Stadt Riobamba, wegen ihrer unwirtlichen Temperaturen im Volksmund gerne auch „Friobamba“ genannt, kann man von einem voll finanzierten Orchester nur träumen. Vor sieben Jahren wurde hier das „Orquesta Municipal de Riobamba“ gegründet: wenige Profis und viele ehrgeizige Jugendliche, die an fünf Nachmittagen der Woche zu Einzelunterricht und Probe im frisch renovierten „Teatro León“ erscheinen. Andrés Mejía, der das Orchester leitet, unterrichtet Geige und Kontrabass – es überrascht nicht, dass die Kontrabasssektion in diesem Ensemble ein wenig größer ist, als sie das sonst bei Mozart wäre. Aber auch hier steht das Publikum am Konzertabend geduldig Schlange, ist der Saal bis zum letzten Platz gefüllt, hat die Stadt das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu erleben. Wie sagte Ricardo Muti unlängst in einem Interview mit dem Online-Magazin „VAN“: „Was für mich…keine Rolle spielt, ist … die große Stadt, der große Saal, der geschichtsträchtige Ort. Das habe ich alles schon oft genug gemacht. Aber wenn ich an Orte wie diese komme, dann treffe ich die echten Menschen.“ Er hätte von Riobamba sprechen können.
Andrés Torres hat am Tschaikowsky-Konservatorium in Moskau studiert und mehrfach länger in Europa gelebt. In Quito ist er Professor für Klavier an der staatlichen Universidad Central, deren Musikfakultät er mit aufgebaut hat. Mit seiner Stiftung „Fest & Arts“ organisiert er regelmäßig Konzerte ecuadorianischer und internationaler Musiker; im Rahmen des Programms „Programa Bellas Artes Ecuador“ unterrichtet er hochbegabte Kinder, um sie gezielt auf ein späteres Studium vorzubereiten. Die Förderung junger Musiker und Ensembles ist ihm eine Herzensangelegenheit; geduldig geht er auch während der Proben in Riobamba auf die Fragen der Orchestermitglieder ein, lobt und erklärt.
…in die Iglesia de la Compañía in Quito
Fehlt noch der letzte Akt in diesem Spiel: Quito. Allmählich hat es sich in den „gut informierten Kreisen“ der kleinen Musikwelt von Ecuador herumgesprochen, dass der „Mozart für drei Klaviere“ einen unterhaltsamen Abend verspricht. Aber in der Hauptstadt sind die Macht- und Raumverhältnisse komplexer als in der Provinz. Die wunderbare Jesuitenkirche „Iglesia de la Compañia“ in der historischen Innenstadt wird gewohnheitsrechtlich vom hiesigen Sinfonieorchester OSNE als Konzertkirche genutzt. Jetzt soll das junge Orchester aus Riobamba zu einer Art Bildungsreise nach Quito kommen und mit uns in der Kirche spielen. Dirigent und Musiker sind von der Aussicht begeistert und hochmotiviert. Aber die Verhandlungen mit den Padres ziehen sich in die Länge, die Organisation ist kompliziert: Die „Compañía“ kann keine Stühle oder Notenpulte zur Verfügung stellen, und einen Flügel besitzt sie auch nicht. Die Straße vor der Kirche wird gerade neu asphaltiert, also müssen die nunmehr drei Verdugo-Instrumente auf Rollbrettern durch die Fußgängerzone transportiert werden. Zu allem Überfluss kündigt auch das OSNE drei Tage vorher plötzlich ein Konzert an, ebenfalls in der Innenstadt, am gleichen Tag und zur selben Uhrzeit.
Aber dann geht am Ende, wie so oft in Ecuador, doch alles gut. Das Orchester aus Riobamba kommt nach mehrstündiger Busfahrt noch rechtzeitig zur Probe in Quito an. Der strömende Regen hört kurz vor Konzertbeginn auf. Das Licht in der voll besetzten Kirche reicht gerade aus, um die Noten zu erkennen. Die jungen Musiker spielen sich bei Mozart die Seele aus dem Leib. Und das Publikum ist zufrieden.
5. Juli 2023
Eine Antwort auf „Mit Mozart und drei Klavieren durch Ecuador“
Wunderbar! was für ein Erlebnis!!!! Toll geschildert!