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„Wir feiern hier etwas ruhiger“  – Karneval in Misahuallí

Schon gute drei Kilometer vor Puerto Misahuallí stauen sich die Autos an dem Vormittag dieses Sonntags vor Karneval. Ganze Busladungen von Touristen zieht es zum Feiern in das sonst eher beschauliche Städtchen am Rio Napo. Aus Guayaquil kommen sie, aus Quito und der umliegenden Provinz Pichincha, aus dem Hochland um den Chimborazo, wie an den Autokennzeichen unschwer zu erkennen ist. Kleinfamilien mit zwei Kindern auf dem Motorrad, ältere Herrschaften im Taxi, Gruppen von Jugendlichen im offenen Pick-up. Wem es auf der Hauptstraße zu langsam vorangeht, der biegt entnervt nach links ab, quält sich an geparkten Autos vorbei, nimmt die schmalen Schotterwege durch dichtes Grün, vorbei an baufälligen Häuschen. Bis es dann irgendwann wirklich nicht mehr weitergeht, aber da ist der Hauptplatz von Misahuallí schon in der Ferne zu erahnen. 

Sogar aus dem Hochland kommen die Karnevalsbesucher

„Zwei Dollar, dafür können Sie bis sechs Uhr abends hier stehen bleiben!“. Der zahnlose Parkwächter in ausgebleichter Warnweste schlurft herbei und grinst uns freundlich an. Er macht heute das Geschäft seines Lebens, dirigiert vom Straßenrand aus ein Auto nach dem anderen an seinen Parkplatz. Wie viele Leute er heute erwartet? „Oh, viele, sehr viele! Die Leute kommen von weit weg, weil bei uns der Karneval etwas ruhiger gefeiert wird!“ Neben uns macht sich eine Gruppe der Busgesellschaft Santa Teresita („Heilige Teresa“)  bereit für den Gang in die Stadt: Die Gesichter mit Farbe dekoriert, Wasserpistole und die obligatorische Dose mit Sprühschaum fest in der Hand.

Und dann geht es los Richtung Plaza. Links überholen uns zwei kreischende Mädchen mit bereits völlig durchnässter Kleidung. Rechts schenkt ein mexikanisches Restaurant die ersten Cocktails des Tages aus und hofft auf ausländische Touristen, die heute jedoch noch nicht zahlreich sind. Überall auf den Boden liegen die roten, weichstacheligen Schalen der Achiotillo-Frucht (Rambutan), die gerade Saison hat. Das glasige Fruchtinnere ähnelt in Form, Konsistenz und Geschmack einer Litschi, mit der die Pflanze auch verwandt ist. Die vor uns laufende Gruppe hat ganze Rispen der Früchte in der Hand, und ist am Genießen, wie so viele andere hier auch: Ein Biss in die weiche Schale, weg damit, und dann das weiche, weiße Fruchtfleisch lutschen, bis nur noch der dunkelbraune Kern übrig ist.

Maito, Larvenspieße, Ayahuasca-Eis – Feiern heißt vor allem: Essen

Rund um den zentralen Platz des Örtchens spielt bereits die Musik, duften die mit Fisch oder Huhn gefüllten “Maito”-Päckchen aus Bananenblättern, die überall auf den Grillrosten zubereitet werden. Ein Familienvater kauft noch schnell eine Badehose und das aufblasbare Gummitier für den Nachwuchs, und dann geht es weiter, Richtung Fluss. Immer größer wird die Zahl der fliegenden Händler. Waorani-Frauen bieten Schmuck aus geflochtenen Naturfasern und Ohrringe von leuchtend roten Papageienfedern an. In einer offenen Kiste winden sich die dicken Larven des Palmrüsslers; am Spieß gebraten werden sie hier überall zum Verzehr angeboten. Die unter dem Namen „Chontacuro“ bekannte Delikatesse soll angeblich unterstützend bei der Heilung aller möglicher Krankheiten, von COVID bis Arthritis, wirken. Soraya Nevada aus Tena dagegen produziert Speiseeis auf der Basis der Ayahuasca-Liane, das geradezu beängstigend wohlschmeckend ist. Wer allerdings die möglicherweise halluzinogene Wirkung dieser Pflanze scheut, ist wahrscheinlich mit der Sorte „Schoko-Banane“ besser bedient.

Hühnchen, Krabben oder Chontacuro? Die Larven des Palmrüsslers gelten als Delikatesse

Wenn nur die Batterien von Sprühdosen nicht wären! Die Schlachten mit Wasser und Schaum gehören in Ecuador zum Karneval wie in Deutschland die Rosenmontagsumzüge. Die junge Verkäuferin Alejandra hat Schaumflaschen in jeder Größe vor sich aufgebaut, die kleinste für einen Dollar, zwei Riesenflaschen (das für den Nahkampf geeignete Modell „mónstruo y de batalla“) für fünf. Immer schwieriger wird es, beim Flanieren den weißen und bunten Schaumfontänen auszuweichen. Ein kleiner Junge posiert begeistert mit seiner Wasserpistole, traut sich dann aber doch nicht, mich nasszuspritzen. Die meisten Flaneure kommen vorbereitet nach Misahuallí: in alten Kleidern und Flipflops, oder am besten gleich in der Badehose. Womit das Ziel des Ausflugs auch vorgegeben ist: Der Strand am Ufer des Napo. 

Und schließlich die Party am Strand

Dort ist bereits die Bühne für die große Sause am Abend bereitet, schallt die Musik aus den Lautsprechern. Viele Besucher haben längst das mitgebrachte Höckerchen im Sand aufgebaut, die Großmutter auf der Decke installiert, die Bierflaschen geöffnet. Auf dem großen Felsen in der Flussbiegung tummelt sich die Jugend, im flachen Wasser planschen zwischen leergesprühten Dosen die Kleinkinder, die Führer der bunt bemalten Holzboote warten auf Fahrgäste. Uns zieht es erst einmal zurück zu den mexikanischen Cocktails. Von unserem Tisch am Straßenrand sehen wir den Strom der Karnevalsbesucher weiter vorüberziehen. Und genießen, voll von Eindrücken, die Ruhe.

Ruhe vor der Party – am Strand des Napo bei Misahuallí

22. Februar 2023

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Leben und Gesellschaft Reisen

Das grüne Gold von Ecuador

Zwei Frauen sitzen in Tumbaco bei Quito an einem großen Glastisch und sortieren Vanille. Der betörende Duft der braunen Schoten erfüllt den ganzen großen Raum. Neben sich haben die Arbeiterinnen ein Lineal liegen, das sie eigentlich nicht mehr brauchen. Sie wissen aus Erfahrung genau, welche Schotengröße in welche der drei schwarzen Plastikwannen gehört. Je eine für die großen, mittleren und kleinen Vanillestangen. Rund sechzig Prozent der Ernte machen die besonders langen und dicken Exemplare aus, die beim Verkauf den besten Preis erzielen.

Vor 20 Jahren begann Eduardo Uzcátegui in der Provinz Santo Domingo de los Tsachilas, rund zwei Autostunden westlich der ecuadorianischen Hauptstadt Quito, mit dem gezielten Anbau der zur Familie der Orchideen zählenden Vanille. Zunächst nur aus Neugier, wie er erzählt: „Ein Belgier hatte versucht, sie hier zu züchten, aber das funktionierte irgendwie nicht. Als er das Land etwas frustriert wieder verließ, schenkte er mir eine Pflanze. Ich bin zwar selbst Biologe, hatte mich aber eigentlich immer mehr mit Tieren beschäftigt, insbesondere mit der Zucht von Wachteln, seit 26 Jahren habe ich da ein Unternehmen. Aber dann wollte ich sehen, ob das mit der Vanille nicht doch geht!“

Pro Hektar Anbaufläche ist die Produktion in Ecuador größer als in Madagaskar und Indonesien

Nach fünf ersten erfolgreichen Jahren erlitt aber auch seine eigene Vanilleproduktion einen herben Rückschlag. Das feuchte Tropenklima von Santo Domingo ließ nicht nur die Pflanzen wachsen, sondern begünstigte auch alle Arten von Schädlingen. Erst als Uzcátegui begann, die Vanille im Gewächshaus zu züchten, wo sich Feuchtigkeit, Sonneneinstrahlung und Schädlinge besser kontrollieren ließen, hatte er dauerhaft Erfolg: Seine Vanillepflanzen trugen bereits nach zwei Jahren das erste Mal die begehrten grünen Schoten. Nur zwei Hektar ist die Plantage seiner Firma „VAINUZ“ heute groß, aber der Ertrag ist eindrucksvoll: Auf jedem Hektar stehen 10.000 Pflanzen, die im Jahr etwa 1000 kg frischer Vanille liefern. In Indonesien, dem zweitgrößten Exportland nach Madagaskar, sind es nur 400 kg pro Hektar.

Das „grüne Gold“ hat in Ecuador, wo mehrere wild wachsende Vanillesorten vorkommen, in den letzten Jahren einen großen Aufschwung genommen. Nicht nur in Santo Domingo wird die Pflanze angebaut, auch am Napo-Fluss im östlichen Tiefland und in der Provinz Manabí am Meer gibt es immer mehr meist kleine Produzenten. Denn Ecuador ist privilegiert: Die Zahl der Sonnenstunden am Äquator ist über das Jahr im Vergleich zu anderen Ländern wie Mexico, dem Ursprungsland der Vanille, oder Madagaskar,  äußerst stabil. Das erlaubt auch bei anderen landwirtschaftlichen Produkten mehrere Ernten im Jahr; beim Brokkoli beispielsweise sind es bis zu vier. Ein großer Wettbewerbsvorteil für die hiesigen Exporteure. Während es in anderen Anbauländern für die Vanille nur eine einzige jährliche Reifeperiode gibt, kann die kostbare Ware hier das ganze Jahr hindurch geerntet werden.

Die Bestäubung der Blüten ist Frauensache

Dieser paradiesische Zustand verursacht allerdings ein unerwartetes Problem: Von außen lässt sich kaum erkennen, welche der wie grüne Bohnen anmutenden Vanilleschoten bereits reif sind. Nur mit Hilfe eines detaillierten Kalenders kann sichergestellt werden, dass die Ernte jeweils zur richtigen Zeit erfolgt. Eine andere Herausforderung teilen alle Vanilleproduzenten weltweit: Das systematische Bestäuben der Blüten ist ausschließlich von Hand möglich, und nur in den Vormittagsstunden eines jeden Tages. Dafür beschäftigen VAINUZ und andere in Ecuador produzierende Unternehmen ausschließlich weibliche Angestellte.  „Frauen arbeiten viel sorgfältiger und haben eine bessere Feinmotorik;  wenn wir Männer das machten, würden wir die empfindlichen Blüten der Orchidee zerstören, und ein Großteil der Pflanzen würde wahrscheinlich niemals tragen“, schmunzelt Uzcátegui. 

Eduardo Uzcátegui mit einem Kilo seiner Vanille, bereit für den Versand

Der Ernte folgt in der Regel ein rund zweieinhalb Monate dauernder Prozess von Reinigung, Fermentierung und Trocknen der Schoten, zunächst in der Sonne, dann im Schatten. Wenn Uzcáteguis Vanille nur noch 18% ihres ursprünglichen Feuchtigkeitsgehalts besitzt, reist sie von Santo Domingo nach Tumbaco. Dort wohnt der Unternehmer, der zweiundzwanzig Jahre lang Dekan der landwirtschaftlichen Fakultät an der „Universidad San Francisco de Quito“ (USFQ) war. „Das Sortieren und Verpacken haben wir früher noch an meinem Küchentisch gemacht, bis ich dann auf meinem Grundstück gegenüber diese neue Halle hier gebaut habe“.

Vom wertvollen “Kaviar” bis zum schlichten Vanilleextrakt

Nach dem Sortieren am Glastisch werden die Schoten in dicken Kilopaketen verpackt. Für den schnellen Verbrauch in der Gastronomie wird nur das Mark der Vanille, der „Kaviar“, benötigt. Wie Goldbarren liegen die Pakete, die jeweils ein Pfund wiegen, im hölzernen Regal. Über 500$ war ein solches Päckchen vor der Pandemie wert, im Moment ist es weniger. Geradezu obszön wirken daneben die großen Vier-Liter-Plastikflaschen mit dem preiswerten Vanilleextrakt, einem Abfallprodukt, das für den Export nach Kanada bestimmt ist. 90% seiner Vanille liefert Uzcátegui nach Europa, Nordamerika, Japan und Hawaii. Nur ein kleiner Teil verbleibt im Land. Anders als die von ihm weiterhin vermarkteten Wachteln: Zwei Millionen der winzigen Vögel verkauft der emeritierte Professor jährlich an Restaurants in Ecuador, tiefgefroren in Paketen zu je zehn Stück. Eine Kreuzung aus einer kleinen japanischen und einer größeren deutschen Art hat sich dabei als besonders erfolgreich erwiesen. Die kleinen, hübsch gefleckten Wachteleier, die man hier in jedem noch so winzigen Supermarkt bekommt,  sind nicht nur bei Schulkindern ein beliebter und vergleichsweise preiswerter Snack. 

Was den Wachteln recht ist, ist der Vanille billig

Wachteln und Vanille – selbst im instabilen Ecuador, wo man möglichst immer mehrere Geschäfte gleichzeitig führen muss, um gegen jede Wirtschaftskrise gewappnet zu sein, erscheint eine solche Verbindung überraschend. „Es gibt aber tatsächlich Parallelen! Wir haben vor einiger Zeit begonnen, mit unseren eigentlich für die Wachteleier gebauten Brutschränken zu experimentieren, um sie als Trockenschränke für die Vanille zu weiterzuentwickeln. Jetzt können wir in einem solchen Schrank 100 kg Vanille in viel kürzerer Zeit als zuvor verarbeiten!“ Vielleicht ist es auch einfach nur die stete Neugier eines begeisterten Biologen und Tüftlers, die Zusammenhänge schafft, wo vorher keine waren. Im Laden in Tumbaco jedenfalls können beide Delikatessen zugleich mit einem einzigen Einkauf erworben werden.

Verkauf von Vanille und Wachteln in Tumbaco (auch in küchentauglichen Mengen): VAINUZ, Gonzalo Pizarro #N5-683/ Machala, Öffnungszeiten Mo-Fr von 8-12 und 14-18 Uhr. Cel. 0998 374 783, 0995 656 016, E-mail vainuzecuador@hotmail.com

5. November 2022

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Leben und Gesellschaft Reisen

Zwischen Arbeiterbewegung und Santo Domingo – das konsequente Leben der Isabel Robalino

Bücher überall. Die Juristin, Gewerkschaftsaktivistin und Laiendominikanerin Isabel Robalino nutzte ihre Hacienda „La Merced“ zeitlebens als großes Arbeitszimmer. Eine Festschrift der von ihr gegründeten ersten katholischen Arbeitergewerkschaft CEDOC liegt in unmittelbarer Nachbarschaft einer Gesetzessammlung zum ecuadorianischen Strafprozessrecht. Eine Reflexion über das Leiden Jesu teilt sich den Raum mit einer rosa leuchtenden Studie zur Teilhabe von Frauen am politischen Leben. Die Zeitschrift „Shalom“ findet sich dort ebenso wie Fachartikel zur katholischen Kirchengeschichte. „Die Wissenschaft und mein Beruf, das war das, was mich immer interessiert hat“, konstatierte sie mit 100 Jahren in einem Fernsehinterview

„Bildung schafft Freiheit“. So lautete das Motto einer anderen, in den 1960-er Jahren von ihr ins Leben gerufenen Institution, des „Instituts für gesellschaftliche Bildung“ (INEFOS). Auch der Zusammenschluss mehrerer Gewerkschaften zur FUT, der „Vereinigten Arbeiterfront“, ging auf ihre Initiative zurück. Über lange Jahre beriet sie die als besonders radikal bekannte FUT in rechtlichen Fragen. Der großen Bevölkerungsmehrheit einfacher Arbeiter und Angestellter in Ecuador Stimme, Rechte und Kenntnisse zu verschaffen war Isabel Robalinos selbstgewähltes Lebensziel. Ihre Tätigkeit empfand sie als Berufung und in ihrem Glauben begründete Verpflichtung. „Die Arbeiterbewegung und Santo Domingo (der Heilige Dominicus) waren die Konstanten von „Isabelitas“ Leben“, sagt ihr langjähriger geistlicher Weggbegleiter, der Dominikanerpater Roberto Fernández.

Bildung schafft Freiheit – das “Institut für gesellschaftliche Bildung” war eine der vielen Gründungen Robalinos

1917 wurde Isabel Robalino Bolle als Tochter des Diplomaten Luís Robalino Dávila und seiner Frau Elsbeth Bolle geboren. Der aus einer vermögenden ecuadorianischen Familie stammende Luis und die aus Berlin gebürtige Elsbeth hatten sich in Paris kennengelernt, der Wunschheimat vieler ecuadorianischer Landbesitzer jener Zeit. Die folgenden zwei Jahrzehnte verbrachte Luís Robalino mit seiner Frau zwischen diplomatischen Missionen in Europa und Lateinamerika, und den Haciendas seiner Familie; zwischen historischen Forschungen und politischem Engagement. 1922 gründete er das Ecuadorianische Rote Kreuz, 1929 verhandelte er die Mitgliedschaft Ecuadors im Völkerbund. 1931 kaufte er die im Jahr 1643  vom Orden der Mercedarier begründete Hacienda „La Merced“ für sich und seine Familie. 

Die Tochter wuchs als Einzelkind, aber im Kontakt mit einer großen Schar von Cousins auf. Geprägt wurde sie vor allem durch ihre gebildete, sozialen Fragen gegenüber aufgeschlossene Mutter. Als eine der ersten weiblichen Schülerinnen schloss sie das renommierte Colegio Mejía in Quito mit dem Abitur ab. Schon früh beschäftigte sie sich mit den Themen der katholischen Soziallehre, die in Ecuador vor allem in den Kreisen um Padre Inocencio Jacome diskutiert wurden. Wie Isabel entstammte dieser aus eher großbürgerlichen Verhältnissen. An der staatlichen Universidad Central erlangte Robalino als erste Frau den Abschluss in Rechtswissenschaften. „Als erste Frau“ waren Worte, die ihr weiter folgen sollten, wohin sie auch ging: Erste weibliche Stadtverordnete Quitos im Jahr 1946, erste weibliche Abgeordnete der verfassunggebenden Versammlung 1966, erste Senatorin Ecuadors 1968. 

1938 hatte sie gemeinsam mit anderen anderen Mitgliedern der katholischen Studentenbewegung den ersten katholischen Arbeiterkongress Ecuadors organisiert. Die Themen der Arbeiterbewegung waren fortan immer auch ihre eigenen, Arbeitsrecht wurde zu einem ihrer Spezialgebiete: geregelte Arbeitsverhältnisse, gerechte Löhne, Möglichkeiten zu Aus- und Fortbildung. Im Jahr 1944 nahm Isabel Robalino aktiv an der von Arbeitern getragenen „glorreichen Revolution“ gegen den konservativen Präsidenten Carlos Arroyo teil. 1947 leitete sie persönlich den Sturm auf den Präsidentenpalast, der die kurze Diktatur von Carlos Mancheno beendete.

Nie akzeptierte sie die in Ecuador herrschenden Wirtschafts- und Machtverhältnisse als gegeben, was ihr immer wieder Konflikte mit der sogenannten „guten Gesellschaft“ des Landes eintrug. Präsident Velasco Ibarra erließ sogar einen Haftbefehl gegen sie – der, da der Präsident ein guter Freund von Luís Robalino war, aber nie vollstreckt wurde. „Die Wohlhabenden Quitos haben sie dann doch immer respektiert“, erinnert sich Isabels Nichte Laura Terán. Ebenso wie die einfachen Arbeiter und alle anderen, die ihren Weg kreuzten. „Sie fand“, beschreibt Terán, „irgendwie bei allen immer den richtigen Ton“.

Als Isabel um die Jahrtausendwende aus ihrer Stadtwohnung wieder nach „La Merced“ umsiedelte, wollte sie die Hacienda zu einem Zentrum der Begegnung machen. „Die von der Geschichte gerissenen Wunden des Landes zu heilen, das war ihr Ziel“, beschreibt Padre Roberto diese Vision. Die Haciendagebäude hatte sie bereits 1986 dem Orden der Dominikaner überschrieben, sich aber dort ein lebenslanges Wohnrecht gesichert. Ihre Angst davor, im Falle ihres Todes die Dinge ungeregelt zu hinterlassen, war groß. Die Ländereien hatte sie ihren eigenen Angestellten übergeben. Zu ihrer Enttäuschung jedoch funktionierte die von ihr propagierte gemeinschaftliche Verwaltung des Bodens nicht, so dass am Ende jeder Arbeiter sein eigenes Stück Land erhielt.

Sie selbst lebte noch rund 10 Jahre in den zugigen Räumen rund um den säulenumstandenen Innenhof. Das Telefon, ihr Draht nach Quito, steht noch heute dort im Gang, das Adressbuch dahinter geklemmt. Regelmäßig fuhr die inzwischen Hochbetagte zu ihren zahlreichen Treffen alleine mit dem Auto nach Quito und überhörte das Drängen der um ihr Leben fürchtenden Padres, doch bitte einen Fahrer anzustellen: „Was soll ich mit einem Fahrer, der schafft das doch gar nicht, mich zu all meinen Terminen zu bringen, vor allem am Abend!“, kommentierte sie das aus ihrer Sicht überflüssige Ansinnen.

Konsequent bis ins Private: Das Schlafzimmer von Isabel Robalino auf La Merced

Als ihr mit Mitte Neunzig das Gehen unmöglich wurde, zog sie schließlich ganz in den Konvent von Santo Domingo im Herzen Quitos. Zwar war sie von nun an auf den Rollstuhl angewiesen, aber die tägliche Arbeit ging für sie weiter: 2015 wurde sie aktives Mitglied der Nationalen Anti-Korruptions-Kommission (CNA). Die von der Kommission gegenüber dem Generalstaatsanwalt Carlos Pólit erhobenen Vorwürfe hätten ihr im Alter von 100 Jahren beinahe noch eine einjährige Gefängnisstrafe wegen angeblicher Verleumdung eingebracht In einem Interview im Anschluss an die Verhandlung sprach sie von „einem politischen Spiel“ – und war dabei analytisch, entspannt, mit lebhaften Handbewegungen und voller Aufmerksamkeit für ihre Gesprächspartner.

“Das war ein politisches Spiel”. Isabel Robalino als Mitglied der Anti-Korruptions-Kommission im Interview 2017

Isabel Robalino Bolle starb am 31. Januar 2022 im Konvent der Dominikaner. Wer heute ihre Hacienda La Merced besucht, sieht das in Stein gemeißelte Wappen der Mercedarier über dem Eingang, und das der Familie von Luis Robalino Dávila über dem Kamin. Aber er sieht auch das Schlafzimmer der letzten Bewohnerin: Ein einfaches metallenes Bett, eine ländliche Matratze, der Rosenkranz am Bettrahmen, das Foto von Papst Benedikt XVI. auf der Kommode, Bücher und Notizzettel auf dem Nachttisch. Das Bild einer Frau, die bis zuletzt sie selbst war, konsequent und überall. 

Die Hacienda La Merced kann leider nicht privat besucht werden; die Dominikanerpadres arbeiten an einem Zukunftskonzept.

18. Oktober 2022

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Leben und Gesellschaft Reisen

Christkindfiguren und geflügelte Schweine – der Pfarrer und Künstler Tito Heredia

Tito Heredia würde im Publikum nicht auffallen, wenn in einem europäischen Opernhaus Benjamin Brittens „Tod in Venedig“ gegeben wird: Schwarze Brille, beigefarbene Leinenhose, das hellblaue Hemd hängt lässig darüber, Schiebermütze.  Seit acht Jahren ist er Pfarrer der Gemeinde von San Marcos im historischen Zentrum Quitos. Und er ist Künstler, war es schon immer. „Ich wollte die Kunst eigentlich zum Beruf machen. Und dann wurde es doch Theologie. Aber nachdem ich die ersten harten Jahre des Studiums hinter mir hatte, habe ich parallel begonnen, auch Kunst zu studieren.“ Dabei ist es geblieben. „Durch meine Kunst habe ich regelmäßig meine Pfarrgemeinden mitfinanziert. Hier, diese Figur des Jesuskindes („Niño Jesús“) ist seit dreißig Jahren einer meiner Verkaufsschlager. Der jetzige Erzbischof von Quito bestellt zu Weihnachten immer einige davon für seine Kontakte, sogar dem Papst hat er eine geschenkt!“. 

Pfarrer mit einem Faible für Kunst und Geschichte

Im Pfarrhaus hat der Geistliche nicht nur sein Atelier, sondern auch einen eigenen Verkaufsraum eingerichtet. Ihn faszinieren vor allem traditionelle Druck- und Gießtechniken. Für seine Arbeiten benutzt er alte Stempel, selbst gefertigte hölzerne Druckstöcke oder traditionelle ländliche Gussformen aus Ton. Ganz besonderes gern verwendet er auch dekorative Elemente aus Zinnblech, die er nach eigenen Entwürfen in Mexiko herstellen lässt. Damit dekoriert er unter anderem die hölzernen Kreuze, die eines seiner Markenzeichen sind. Sie leuchten in bunten Farben, lila, rosa, grün und rot.  Konventionell ist wenig an Heredia Werken. Eine Serie von Holzschnitten widmet sich den traditionellen Teufelsdarstellungen in unterschiedlichen Regionen Ecuadors. Die tönernen Schweine, die er mithilfe einer aus der Kleinstadt Pujilí stammenden Gussform anfertigt, tragen entgegen der Tradition goldene Engelsflügel. „Ein Käufer hatte mich darum, gebeten, und Sie wissen, Sterbenden und Kunden erfüllt man jeden Wunsch…“

Die Calle Junín, Straße von Künstlern und Intellektuellen

Das Pfarrhaus von San Marcos wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts errichtet, um die Zeit der Unabhängigkeit Ecuadors im Jahr 1822. Die Calle Junín, an deren Ende Haus und Kirche liegen, war bis in die Sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine Wohngegend des wohlhabenden Bürgertums. In den folgenden Jahrzehnten jedoch zogen sich die großbürgerlichen Familien immer mehr aus dem zunehmend als gefährlich geltenden Zentrum Quitos zurück und bauten sich großzügigere Einzelhäuser in den rasch wachsenden Vororten der Stadt. Die historischen Wohnhäuser in der Straße verfielen, bis zu Beginn des neuen Jahrtausends Intellektuelle wie der Sprachforscher Matthias Abram und der frühere Dirigent des nationalen Sinfonieorchesters, Álvaro Manzano, die Calle Junín für sich entdeckten. Dennoch wurden die Bewohner des Viertels im Durchschnitt immer älter, und viele von ihnen überlebten die ersten Monate der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 nicht. „So viele meiner älteren Gemeindemitglieder sind damals gestorben, als es noch keine Impfung gab, es war dramatisch!“, erzählt Tito Heredia, „Mindestens sechs Häuser in der Nachbarschaft stehen jetzt deshalb leer.“

Kunst und Theologie gehen Hand in Hand: Tito Heredia in seinem Atelier

Als Heredia vor acht Jahren sein denkmalgeschütztes Pfarrhaus bezog, war es in einem erbärmlichen Zustand. Mithilfe der städtischen Denkmalschutzbehörde konnte der kunsthistorisch interessierte Pfarrer binnen dreier Jahre die notwendigen Mittel für die Restaurierung beschaffen. Die Arbeiten beaufsichtigte er persönlich und legte selbst Hand an, wo notwendig. Das Haus ist heute ein Schmuckstück. Die hölzernen Fußböden sind nur in Teilen original erhalten, wohl aber die von der Zeit gezeichnete Treppe zum oberen Stockwerk. Von den langen Fluren zweigen die Räume ab wie Klosterzellen. Das Esszimmer ist mit eindrucksvollen Gemälden ausgestattet, unter anderem mit einer für Quito typischen Darstellung des Heiligen Joseph mit dem Jesuskind. Natürlich kam eine solche Einrichtung nicht mit dem Haus: Tito Heredia ist ein fanatischer Sammler. Selbst in der Küche finden sich in jedem Winkel religiöse Kunstwerke unterschiedlicher Provenienz, direkt neben Haushaltsutensilien und einer Schale mit schrumpligen Mandarinen.

Für Kunsthistoriker gibt in San Marcos noch einiges zu entdecken

Auf einem Stuhl neben der Tür liegt das letzte Buch der US-amerikanischen Kunsthistorikern Susan Webster: „Lettered Artists and the Languages of Empire: Painters and the Profession in Early Colonial Quito“. „Susan ist eine gute Freundin, und dieses Buch ist eine wahre Fundgrube, es liefert so viele interessante Fakten! Hier in Ecuador versteht man unter Geschichte ja eigentlich immer nur eine Sammlung von Legenden und Traditionen, es gibt kaum wissenschaftlichen Werke wie dieses, auch nicht zur Kunstgeschichte!“ Auch in der um 1680 errichteten Pfarrkirche San Marcos gibt es für kunsthistorisch Interessierte einiges zu entdecken: Dort findet sich zum Beispiel ein weiterer Joseph in Lebensgröße, mit silberner Krone. Der Altar ist, verglichen mit anderen in der Stadt, dagegen recht schlicht gehalten. Auffallend sind die zwei auf Zinnblech gemalten knienden Engel, präraffaelitisch angehaucht, die ihn zieren. Hinter dem Hochaltar befindet sich ein nicht sichtbarer Vorgängeraltar, der mangels Geld schlicht auf die Wand gemalt worden war. Auch an den übrigen Wänden verstecken sich unter mehreren Farbschichten Bemalungen aus früheren Zeiten, die freizulegen eine Aufgabe für die Zukunft bleibt. 

Jährlich am Karsamstag organisiert der Geistliche in seiner Gemeinde die kleine, aber feine „Prozession der Einsamkeit Mariens“ („Procesión de la Soledad de Maria“): Nach sorgfältig geplanter Choreographie ziehen auffällig geschmackvoll gekleidete Folkloregruppen mit den Gemeindemitgliedern durch die Straßen, weit weg vom lärmenden Trubel der bekannteren Karfreitags-Prozession. Wie lebt es sich mit diesem permanenten ästhetischen Anspruch, zwischen Kunst und Theologie? „Ach wissen Sie, ich gelte ja in Kirchenkreisen so ein bisschen als Verrückter. So lange man mich in Ruhe meine Arbeit machen lässt, bin ich zufrieden.“ Tito Heredia winkt zum Abschied von der Türschwelle, sichert die Haustür zusätzlich mit einer soliden Eisenstange, und verschwindet im Innern seines Refugiums. 

Pfarrkirche und Gemeindehaus San Marcos, Plaza de San Marcos, Ecke Javier Gutierrez/Junín. Der Verkaufsraum ist zu folgenden Zeiten geöffnet: Dienstag bis Freitag von 9 bis 12 und 15 – 17 Uhr. Außerhalb dieser Zeiten ist Pfarrer Tito Heredia per WhatsApp unter 00593 98 535 8069 zu erreichen.

8. Juli 2022

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Die Kuppeln von Santo Domingo

Am 28. Mai 1990 besetzte eine Gruppe von Indigenen die Kirche von Santo Domingo im Herzen Quitos. Sieben Tage lang hielten sich rund 240 Menschen auf dem Gelände des Dominikanerklosters auf. Die von den Besatzern an die ecuadorianische Regierung gerichteten Forderungen bildeten gewissermaßen den Prolog zum ersten großen „levantamiento indígena“ („Indigenenaufstand“) Ecuadors wenige Tage später. Zweiunddreißig Jahre danach, wieder im Juni, ist die Plaza von Santo Domingo allabendlicher Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei. Leónidas Iza, Vorsitzender der „Konföderation der indigenen Nationen Ecuadors“ (CONAIE), hat zu einem unbegrenzten Generalstreik aufgerufen. Seit fünf Tagen sind zahlreiche Straßen im Land von Baumstämmen, Autos und brennenden Reifen blockiert. Viele Läden im Zentrum der Hauptstadt haben aus Angst vor Plünderungen geschlossen; der Schulunterricht fällt aus. Morgens um neun Uhr an diesem Freitag ist der Kirchplatz allerdings menschenleer. Die kleine Reinigung gegenüber öffnet gerade, die Kerzenverkäuferin in der Kittelschürze baut vor der Kirchentür ihren Stand auf.

Wenige Minuten später stehe ich mit Padre Oswaldo, dem Prior des Klosters, und Bruder Roberto auf dem Dach der Kirche und schaue auf die Stadt. Direkt gegenüber  erhebt sich der „Brötchenhügel“ Panecillo mit seiner übergroßen Statue der „Jungfrau von Quito“; im Nordwesten ist am Hausberg Pichincha das Denkmal zur Erinnerung an die Befreiungsschlacht von 1822 zu erkennen. „Bei uns Dominikanern gibt es seit dem 16. Jahrhundert eine besondere Beziehung zu den Indigenen, weil sich Angehörige des Ordens, wie zum Beispiel Francisco de Vitoria, schon damals die Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung durch die spanischen Kolonialherren mit deutlichen Worten anklagten“, erklären sie mir. 

Indigene in der Sakristei von Santo Domingo am 28. Juni 1990 (© Anahí Macaroff)

Die beiden Geistlichen sind behende die schmale Treppe zum Dach hinaufgeklettert, steigen entspannt über lose Kabel und brüchige Stufen. Nun setzen sie sich in einer Nische, baumeln mit den Beinen und erzählen. „Neulich hat sich ein Hochzeitspaar nach der Trauung hier oben fotografieren lassen. Die Braut ist bis ganz oben auf die Kuppel geklettert, mit hochhackigen Schuhen!“ Die zwei grünen Kuppeln von Santo Domingo bilden das Dach der darunter liegenden Rosenkranzkapelle. Eine dritte, viel kleinere Kuppel zur Calle Maldonado hin, erhebt sich über dem „Camarín“, einem winzigen Raum hinter dem Altar der Kapelle, an dem die Kleidung der Marienstatue in einer Truhe verwahrt wird. 

So sah einmal das Dach aus: Überreste bunter Fliesen mit Pflanzendekor

Im 16. Jahrhundert ordnete der Dominikanerpapst Pius V. aus Dank über den Sieg der christlichen Truppen in der Seeschlacht von Lepanto (1531) an, dass jede Kirche seines Ordens der „Maria vom Rosenkranz“ eine eigene Kapelle weihen solle. Die erste Kapelle in Quito wurde etwa zur Zeit der Fertigstellung der Kirche im Jahr 1624 errichtet. Rund einhundert Jahre später wurde sie dann erheblich vergrößert. Das abschüssige Klostergelände reichte dafür allerdings nicht mehr aus. Deshalb wurde die angrenzende Calle Loma (heute die Calle Rocafuerte) mit der neuen Kapelle überbaut; bis heute ist der „Arco de Santo Domingo“ ein Wahrzeichen des Viertels. Vor wenigen Jahren noch war das Kapellendach deutlich bunter: an seinem Rand finden sich Überreste von vielfarbigen Kacheln mit Pflanzenornamenten, die möglicherweise aus Spanien oder Peru importiert wurden und früher große Flächen des Dachs bedeckten.

Eine Kapelle wächst über die Straße: der “Arco de Santo Domingo”

Geplant wurde die Kapelle in der Zeit, in der der begabte Maler Pedro Bedón (gestorben 1621) Prior der Klostergemeinschaft war. Gemeinsam mit dem Architekten Sebastián Avila (dieser erkennbar am Kompass in seiner Hand) ist er auf einem Wandgemälde oberhalb der Vierung, ganz links von der Rosenkranzmadonna zu sehen. 

Rot für das Blut Christi, Gold für die Vollkommenheit Gottes
Rot und Gold: Im Innern der Rosenkranzkapelle

Durch eine rotgestrichene, eiserne Pforte betritt man die rechts vom Kirchenschiff gelegene prächtige Kapelle. Auch die Wände sind vollständig in den Farben Rot und Gold gehalten, zur Erinnerung an das vergossene Blut Christi und Gottes Vollkommenheit. Es gibt dort wunderbare Details zu entdecken. An der Kanzel zur Linken das Wappen der Dominikaner, eine lebendige Darstellung jenes Hundes mit der Fackel im Maul, der zum Symbol des Heiligen Dominikus wurde. Gegenüber an der westlichen Wand ein ungewöhnliches Bild der Heiligen Anna, der Mutter Marias, als Schwangere. Und, wie so oft in Ecuador, ein fast jugendlicher Joseph, der den neugeborenen Jesus nicht seiner Frau überlässt, sondern ihn selbst auf dem Arm trägt. Die Kuppeln sind auch von innen schön, obgleich sie im Jahre sie im Zuge der letzten Renovierungsarbeiten von 2018 eher schlicht bemalt wurden.

Im kolonialen Quito war auch die Rosenkranzbruderschaft streng nach Herkunft gegliedert
Die Mutter des heiligen Dominikus träumte, sie werde einen Hund mit einer Fackel im Maul gebären: Das Wappen der Bruderschaft an der Kanzel

In der Rosenkranzkapelle versammelten sich seit dem 16. Jahrhundert die Angehörigen der örtlichen Rosenkranzbruderschaft, einer von den Dominikanern gestifteten Laiengemeinschaft, zum Gebet. Unter den besonderen Bedingungen der Kolonie mit ihrer stratifizierten Gesellschaft gab es jedoch nicht nur eine, sondern drei Gemeinschaften: Die Spanier und ihre vor Ort geborenen Nachkommen, die „Criollos“, feierten ihre Gottesdienste streng getrennt von den Indigenen und den in den Quellen so genannten „Africanos“, den Nachkommen afrikanischer Sklaven.

Mit der umfangreichen Erweiterung von 1730 wurde die Kapelle physisch und auch spirituell vorübergehend beinahe zu einer Art Nebenkirche, deren von Laien gebildete Führung sich weitgehend der Kontrolle durch die Dominikaner entzog. Dieser Wettbewerb zwischen Geistlichen und Laiendominikanern scheint jedoch heute vergessen. Die ecuadorianische Juristin und Gewerkschaftsaktivistin Isabel Robalino, die dem Orden achtzehnjährig als Laiin beigetreten war, verbrachte die letzten zwölf Jahre ihres langen Lebens auf Einladung der Padres im Konvent Santo Domingo, wo sie im Januar 2022 mit 104 Jahren verstarb. Aufgebahrt wurde sie in der Rosenkranzkapelle.

Der Weg aus der Stille der Kirche und des Kreuzgangs führt mich vorbei an vier Polizisten in gelben Warnwesten; noch sitzen sie entspannt auf den Sofas im Eingangsbereich und widmen sich ihren Handys. Aber fast bin ich zurück in der Wirklichkeit des unruhigen Ecuador. „Seien Sie vorsichtig“, ermahnt mich die Blumenverkäuferin am Straßenrand. „Ich selbst verschwinde spätestens um drei Uhr nachmittags von hier, bevor es wieder losgeht!“ Am Abend die bereits vertrauten Bilder in den sozialen Medien: Steine werfende junge Leute, Tränengas sprühende Polizisten, fallende Absperrgitter, Polizeisirenen auf der Plaza vor der Kirche. Santo Domingo ist und bleibt ein symbolträchtiger Ort für Viele. 

19. Juni 2022

Kirche und Museum von Santo Domingo sind Montag bis Samstag täglich ab 9.15 geöffnet. Der selbständige Besuch der Kuppeln ist leider nicht immer möglich, Glück hat man oft am Samstag oder an Feiertagen. Führungen werden zum Beispiel hier angeboten: https://quitotourbus.com/tour-cupulas-de-santo-domingo

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Zeitreise am Meer – Das archäologische Museum von Salango

Strandurlaub in Puerto López an der Küste der ecuadorianischen  Provinz Manabí. Von Juni bis Oktober lassen sich hier die Touristen in Scharen auf das Meer hinausfahren, um Buckelwale bei der Paarung und später gemeinsam mit ihren Jungen zu beobachten. Jetzt im April ist es ruhiger. Die Bars am Stadtstrand sind nur mäßig besetzt; wenige Familien sonnen sich in der Bilderbuchbucht von „Los Frailes“. Und auf der sagenumwobenen „Isla de la Plata“, oft als „kleines Galápagos” beworben, ist man mit den balzenden und brütenden Blaufuß- und Nazca-Tölpeln weitgehend alleine.

Unter uns sind wir an einem regnerischen Dienstagmorgen auch in dem wenige Kilometer weiter südlich gelegenen Dörfchen Salango. Die schwarzen Hängematten am Rande des Sportplatzes laden heute nicht zum Verweilen ein; selbst der rostbraune Hund, der sich auf dem nassen Boden niedergelassen hat, schaut etwas trübsinnig drein. Keine guten Vorboten für unseren Besuch im örtlichen archäologischen Museum. Dessen renovierungsbedürftiges Dach erweckt auf den ersten Blick keinen Optimismus.

Das Klopfen an der Tür bleibt ohne Reaktion. Die Bauarbeiter, die nebenan ihre schweren Maschinen bewegen, wissen nicht, ob jemand im Haus ist. Schließlich Erfolg mit einem Anruf bei der Handynummer, die wir auf einem verblichenen Papier im Fenster entdecken. „Entschuldigung, aber seit der Pandemie haben wir kein Geld mehr für Personal, wir haben zur Zeit eigentlich nur am Wochenende geöffnet!“ Shirley Loor, die Sekretärin der Gemeinde Salango, ist rasch vorbeigekommen und öffnet uns die Tür. 

5000 Jahre Geschichte in einem kleinen Museum

Dann die Überraschung: Das kleine Museum bietet auf seinen Tafeln und in professionell gestalteten Vitrinen einen sehr schönen Überblick über das Kunsthandwerk der frühen Kulturen entlang der Küste des heutigen Ecuador. Über rund 5000 Jahre erstreckt sich der Bogen, von der neusteinzeitlichen Valdivia– bis zur Manteño – Kultur, die mit der Ankunft der Spanier im 16. Jahrhundert verschwand. Gebrauchskeramik steht neben kunstvoll ausgearbeiteten Trinkgefäßen und Graburnen. Für religiöse Zwecke gefertigte Miniaturfiguren aus Stein und Ton zeugen vom handwerklichen Geschick der frühen Siedler.

Perlen aus der Spondylus-Muschel bilden dieses große Collier

Ein beeindruckendes Collier besteht ausschließlich aus Perlen, die aus der Spondylus-Muschel gefertigt wurden. Die in unterschiedlichen Rot- und Rosatönen gemischt mit Weiß vorkommenden Muscheln dienten zum einen als Kultobjekt, zum anderen als frühes Zahlungsmittel im Warenverkehr mit anderen Völkern. Salango war zeitweise Lager und Zentrum der Spondylus-Verarbeitung; bereits drei Jahrtausende vor der Zeitenwende befuhren seine Bewohner mit ihren großen Flößen aus Balsa-Holz die Küste. Auch mit dem ecuadorianischen Hochland gab es früh Handelsbeziehungen, die heute durch dortige Muschelfunde nachweisbar sind. 

Das Erbe des Archäologen Presley Norton

Wie kam dieses Museum in das kleine Fischerdorf? 1979 entdeckte der aus Guayaquil gebürtige amerikanisch-ecuadorianische Archäologe Presley Norton (1932 – 1993) in Salango Überreste einer ausgedehnten Siedlungs- und Kultstätte. In demselben Jahr noch machte er die unweit des Ausgrabungsfeldes gelegenen Hacienda „El Tropical“ zum Zentrum des von ihm begründeten „Programa de Antropología para el Ecuador.“  Das Gelände hatte sein Großvater Hope Norton bereits in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts im Auftrag der Brauerei „Cervecería Nacional“ erworben; zwischenzeitlich hatte es immer wieder den Besitzer gewechselt. In den achtziger Jahren wurde es nunmehr zum Standort eines bis heute bestehenden Forschungszentrums zur Archäologie der ecuadorianischen Küstenregion.  

Von seinem früh verstorbenen Vater hatte Presley Norton ein großes Vermögen geerbt; er war selbst erfolgreich als Medienunternehmer tätig gewesen, bevor er sich immer mehr der Archäologie und Anthropologie zuwandte. Ausgrabungen unter anderem auf der Isla de la Plata und in Valdivia waren der in Salango vorangegangen. Seine eigene über 8.000 Fundstücke umfassende private Sammlung von Kunstgegenständen aus mehreren Jahrtausenden ecuadorianischer Geschichte hatte er schon 1978 der „Banco del Pacífico“ verkauft; eine kleine, aber absolut lohnenswerte Auswahl daraus ist heute im „Museo Presley Norton“ in Guayaquil zu besichtigen. 

Von der Ausgrabung zum Museumsbau zur Fischmehlfabrik

Es wirkt, als habe Norton nach der Scheidung von seiner zweiten Frau und mit dem Beginn der Ausgrabungen in Salango eine neue Lebensphase begonnen. Von nun an blieb dieses Dorf das Zentrum seines Wirkens. 1986 beauftragte er den britischen Architekten Chris Hudson mit dem Bau des Museums auf dem ehemaligen Haciendagelände. Im Laufe der Grabung wurde immer mehr zur Gewissheit, dass Salango seit dem vierten Jahrtausend vor Christus bis zur Ankunft der Spanier im 1532 durchgehend besiedelt war; auf dem Grabungsgelände wurden unter anderem 96 Gräber mit Beigaben gefunden, von denen ein kleiner Teil im Museum ausgestellt ist. Norton selbst starb überraschend im Jahr 1993 und konnte so die umfassende wissenschaftliche Auswertung seiner Fundstücke unter Leitung des britischen Archäologen Richard Lunniss nicht mehr miterleben. Wohl zu seinem Glück hat er auch nicht mehr erfahren, dass über der von ihm entdeckten Kultstätte mittlerweile eine Fischmehlfabrik steht; nur anhand eines im Museum befindlichen Fotos von 1988 kann sich Besucher ein Bild von der Größe der Grabung machen. 

Seit 2005 wird das Forschungszentrum nicht mehr privat, sondern von der Gemeinde Salango verwaltet. 2010 wurde das hölzerne Haciendagebäude mit Unterstützung der amerikanischen Florida Atlantic University umfassend renoviert. Erst zwölf Jahre ist das her, und dennoch bietet das Haus heute ein Bild des Jammers: Wind und feuchte Seeluft haben Treppengeländer mit Rost überzogen, Dielen brüchig gemacht, und Vitrinen verstauben lassen. Erstmals soll in diesem Sommer wieder eine Gruppe von Studenten aus Florida zu einem zweimonatigen Forschungsaufenthalt das Zentrum besuchen, ein unwirklich scheinendes Vorhaben. „Diese  Sommercamps waren vor der Pandemie unsere Haupteinnahmequelle“, erzählt die Sekretärin. „Wir müssten dringend das Tor und das Dach reparieren, aber bei drei oder vier Personen, die an einem normalen Wochenende vorbeikommen und Eintritt bezahlen, ist das unmöglich. Also betteln wir überall um Spenden.“

Vernachlässigung und Unterfinanzierung – Schicksal vieler Museen an der Küste

Das Schicksal von Vernachlässigung und Unterfinanzierung teilt das Museum von Salango mit anderen archäologisch bedeutsamen Orten des Küstenlandes. Zwar sind die Zeiten vorbei, in denen freundliche Dorfkinder den Touristen mit den Worten, “Quieres muñequita?” (“Willst Du ein Püppchen?”) originale Fundstücke zu Schleuderpreisen anboten. Aber in Valdivia sind die verbliebenen Ausstellungsstücke in zerbrochenen Vitrinen dem freien Zugriff der Besucher ausgesetzt. In Agua Blanca, dem politischen und religiösen Zentrum einer von ca. 800 – 1530 bestehenden Handelsallianz mehrerer Völker der Region, hat ausländische Unterstützung dafür gesorgt, dass das winzige Museum personell gut ausgestattet ist. Die bescheidene Sammlung jedoch bedarf einer professionellen Aufarbeitung und Präsentation, und zu der umfassenden Ausgrabungsstätte mit den Resten von über 600 Gebäuden werden wir erst nach insistierendem Nachfragen geführt.

Was als Strandurlaub begann, wird so zu einer Reise nicht nur in fünf vergangene Jahrtausende, sondern auch in die museale Wirklichkeit Ecuadors. Bei allem Schwanken zwischen Staunen und Entsetzen: Die Reise lohnt sich.

27. April 2022

Wer die Ruinen in Agua Blanca besichtigen möchte, sollte nicht am schwefelhaltigen Pool mit Spa haltmachen, sondern dort nach Enrique fragen, der bei den Ausgrabungen unter Leitung von Colin McEwan dabei war und sich auskennt.

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Das Guggenheim von Coca

Acht Uhr früh im Zentrum der kleinen Stadt Coca im östlichen Tiefland Ecuadors. Vor dem einstigen Ölarbeiterhotel Auca tropft Wasser vom schmutzigen Vordach. Das D’Gisell gegenüber ist eigentlich ein Laden für billige Kleider; von dort schallen schon jetzt laute Milonga-Klänge über die staubige Straße. Der Schuhverkäufer einige Meter weiter baut seinen improvisierten Stand auf, holt die Maske aus der Tasche. Coca ist heiß, laut und hässlich. Aus der Notwendigkeit geboren mit dem Beginn des ecuadorianischen Erdölbooms in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Unvermeidliche Durchgangsstation der Touristen auf dem Weg in die Artenvielfalt des Regenwaldes. 

Und doch gibt es wenige Schritte weiter, am Ufer des Rio Napo, ein ganz anderes Coca zu entdecken. Das „Museo Arqueológico y Centro Cultural de Orellana“ (MACCO) hat sich seit seiner Eröffnung 2016 zu einem Zentrum für Kultur und Begegnung entwickelt. Wer sich der von den Flüssen Napo, Coca und Putumayo umschlungenen  Stadt vom Wasser aus nähert, kann die elegante dreistöckige Konstruktion aus Holz, Metall und Beton nicht übersehen. Das MACCO beherbergt rund 300 prächtige Begräbnisurnen und Gebrauchsgefäße des Volkes der Omagua. Die Omagua lebten bis zur Kolonisierung Ecuadors durch die Spanier im 16. Jahrhundert in größerer Zahl in der Region der Flüsse Coca, Napo und Amazonas. Ihr Hauptsiedlungsgebiet lag allerdings immer im Gebiet des heutigen Brasilien und Peru.

Vor dem Museum steht eine Statue des Mannes, der 1541 als erster Europäer mit den Omagua in Kontakt kam: Francisco de Orellana (1511-1546), der auf der Suche nach dem sagenhaften „El Dorado“, auch „Zimtland“ (Pais de la Canela) genannt, den Coca, den Napo und den Amazonas bis zu seiner Mündung bereiste.  Von seiner zweiten Expedition dorthin kehrte er nicht mehr zurück. Fans von „Indiana Jones“ mögen sich an dessen viertes Abenteuer erinnern, das den Protagonisten in das Amazonas-Tiefland und zum (fiktiven) Grab Orellanas führt. Die heutige Stadt Coca, deren Anfänge auf eine von Kapuzinermönchen 1953 begründete Missionsstation zurückgehen, heißt heute offiziell  „Puerto de Francisco de Orellana“.

Ein zeitgenössischer Chronist berichtet von der ersten Begegnung der Männer Orellanas mit den Omagua am Rio Coca und hebt dabei die aus seiner Sicht überraschende Kultiviertheit dieses Volkes hervor: Die Bevölkerung sei „sehr sauber und freundlich“, die Männer trügen zuweilen goldene Brustbehänge, die Frauen goldene Ohrringe, auch von Nasen- und Lippenschmuck aus Gold wird gesprochen. Die Menschen lebten in Häusern, seien geschickte Kanufahrer und verfügten über Waffen. Spätere Reisende beschreiben die typische abgeflachten Stirn der Omagua und ihr Schönheitsideal des „Mondgesichts“, dem sie durch gezielte Manipulation des Schädels in jungen Jahren näher zu kommen versuchten.

Das Volk pflegte einen besonderen Totenkult. Die Verstorbenen wurden zunächst begraben, bis sie verwest waren, was in der Hitze und Feuchtigkeit des Regenwaldes schnell geschah; anschließend wurden die Knochen exhumiert, gereinigt und in einer Urne in Menschengestalt aufbewahrt, die nach einer gewissen Zeit erneut begraben wurde. In den Vitrinen des MACCO sind diese fein gearbeiteten, detailliert gestalteten Urnen zu bewundern: Rumpf und Gliedmaßen bilden jeweils das Gefäß, der Kopf mit dem Mondgesicht den Deckel. Ein anderer Schwerpunkt sind die buntfarbigen Gebrauchsgefäße verschiedener Größe; ihre wellenförmigen, verschlungenen Muster erinnern an Wasser und die Flusslandschaft, die den Lebensraum der Omagua darstellte.

Mit Liebe zum Detail: Graburne der Omagua in Form einer weiblichen Figur

Schon bald nach der Ankunft der Spanier verschwanden die meisten Angehörigen dieses Volkes aus der Gegend am Zusammenfluss von Coca und Napo. Der Bonner Völkerkundler Udo Oberem vermutete 1967, dass es auf dem Gebiete des heutigen Ecuador verschiedene Untergruppen der Omagua gab, die sich im Laufe der Jahrhunderte immer weiter nach Süden und Osten bewegten und allmählich auflösten. In Brasilien und Peru gibt es noch heute vereinzelt Angehörige dieser Volksgruppe. Die letzten Omagua in Ecuador lebten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Nähe des Rio Tiputíni, eines Nebenflusses des Napo. Von dort stammen auch die beiden jüngeren, schlichten Urnen im oberen Stockwerk des MACCO, die erst vor wenigen Jahren entdeckt wurden. 

1999 war ein Teil dieser Sammlung in einer größeren Ausstellung in Quito zu sehen gewesen. Erstmals erfuhr eine breitere Öffentlichkeit, dass es im „Oriente“, dem niemals wirklich ernst genommenen östlichen Tiefland Ecuadors, eine eigene kulturelle Geschichte gab, die es zu schätzen und zu dokumentieren galt. Schon 1975 hatten die Kapuzinermönche in Pompeya auf der Insel Lunchi ein kleines Forschungszentrum mit Museum gegründet. Dessen Sammlung diente nun als Grundstock für das „Guggenheim von Coca“, von dem nicht nur der Sammler und Kurator der Ausstellung Iván Cruz geträumt hatte. Aber das neue Museum sollte noch viel mehr sein:

„Das MACCO ist ein Symbol für die Wertschätzung der indigenen Kultur und für indigenes Selbstbewusstsein; es ist ein Wahrzeichen der Stadt geworden“, sagt Milagros Aguirre, Journalistin und Mitbegründerin des Museums. Sie selbst hat zwölf Jahre hier gelebt. „Das Museum hat Coca von Grund auf verändert. Als ich hier ankam, war dies eine Stadt von Ölarbeitern, sonst nichts. Es gab keinen Ort zum Spazierengehen, nicht einmal zum Eis essen. Viele Leute haben uns für verrückt erklärt, weil wir hier „Kultur“ vermitteln wollten“. 

Heute wird der Veranstaltungsraum des Museums regelmäßig für Vorträge oder als Kinosaal genutzt. In einem Raum für Wechselausstellungen sind Werke lokaler Künstler zu besichtigen. Mal- und Schreibwettbewerbe laden die Bevölkerung zum Mitmachen ein. Und die kleine Bibliothek im ersten Stock ist ein riesiger Erfolg: Vor allem Schulkinder kommen in großer Zahl, um hier unbehelligt von lärmenden Geschwistern ihre Hausaufgaben zu machen oder, in den fast zwei Jahren der pandemiebedingten Schulschließungen, das Internet zu nutzen. „Wir mussten zusätzliche Tische in den Flur stellen, so groß war die Nachfrage“, sagt Milagros Aguirre.

Am Abend flanieren die 45.000 Einwohner des Städtchens nicht mehr nur am Malecón, der Uferpromenade. Die Architekten des MACCO gaben der Stadt 2013 auch einen zentralen Platz, der von der Bevölkerung angenommen wird, als habe es ihn schon immer gegeben. Coca ist immer noch heiß, die Fastfood-Restaurants laden nicht zum Verweilen ein, und der kitschig geschmückte  Plastikweihnachtsbaum am Malecón ist längst von der Sonne ausgeblichen. Aber auf einmal hat der Ort nicht nur eines, sondern viele Gesichter.

07. Januar 2022

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Schmetterlinge und singende Frösche – die Quinta de Goulaine

Die Flügelspitzen von Copiopteryx semiramis gleichen langen Frackschößen. Die handtellergroße Motte sitzt auf dem Arm von Mathieu de Goulaine, und der Franzose ist begeistert: „Das ist ein befruchtetes Weibchen; es lebt nur wenige Tage, und seine einzige Aufgabe ist es, in diesen Tagen seine Eier abzulegen. Wenn ich schnell  die richtige Wirtspflanze herausfinde, kann ich auch diese Art züchten, das wäre wunderbar!“ In Zeiten des Internets antworten die Schmetterlingsfreunde aus aller Welt schnell auf die Frage „was frisst Copiopteryx“. Und die Lieblingsnahrung des Tieres findet sich tatsächlich in einem der weitläufigen Gewächshäuser der Quinta de Goulaine.

Seit 2015 züchtet Mathieu de Goulaine Schmetterlinge im ecuadorianischen Regenwald, etwa eine Stunde entfernt von dem beliebten Touristenort Mindo. Auf einer Höhe von 450m über dem Meeresspiegel hat er 50 Hektar Land gekauft, die zum größten Teil noch aus Primärwald bestehen. Eine Seltenheit in dieser Gegend. Anfang der  1980-er Jahre wollte die damalige  ecuadorianische Regierung die Region besiedeln und vergab das Land  an Interessenten. Unter der Bedingung, dass diese mindestens die Hälfte der Fläche abholzten und dort Viehzucht betrieben. „Aber das war Wahnsinn, hier ernährt ein Hektar Land nur eine einzige Kuh, und durch den Einsatz von Pestiziden gerät das gesamte ökologische Gleichgewicht durcheinander.“

Mehr Schmetterlingsarten auf 50 Hektar als in ganz Europa

Der Regenwald hier ist ein Paradies. 350 Arten von Tagfaltern, also tagaktiven Schmetterlingen, leben hier – in  ganz Europa sind es nur 250. Rund vierzig  Arten fliegen durch die drei weitläufigen Volieren auf der Quinta de Goulaine. Es riecht penetrant nach überreifen Bananen, einer Leibspeise vieler Falter. Überall stehen Behälter mit einer Mischung aus Zuckerwasser und Sojasauce, Energietrunk für die Schmetterlinge. Die Angestellten sammeln die auf den Blättern abgelegten winzigen Eier ein, desinfizieren und prüfen sie.

Die für gut befundenen Eier jeweils einer Art wandern gemeinsam mit einer passenden Wirtspflanze in ein geschlossenes Netz, das einem weißen Kleidersack ähnelt. Dort schlüpfen nach 7-10 Tagen die Raupen. Schmetterlingsraupen sind wählerisch: Manche Arten ernähren sich nur von einer einzigen Pflanze und würden eher sterben, als auf anderes Futter auszuweichen. Es müssen also immer ausreichend Futterpflanzen der richtigen Art zur Verfügung stehen – für den Züchter eine logistische Herausforderung.

Damit die Schmetterlinge nicht zu früh schlüpfen, werden die Puppen im Weinkeller kühl gehalten

Mit der Verpuppung der Raupen naht ihr Abschied von der Quinta. Ab Februar öffnen in Europa die beliebten Schmetterlingsgärten für den Publikumsverkehr. Dann bringt Mathieu de Goulaine wöchentlich 1.500 bis 2.000 Puppen, sorgfältig in Styroporkästen verpackt, zum Flughafen nach Quito. „Wenn ich Angst habe, dass einige Schmetterlinge zu früh schlüpfen, lagere ich die Puppen im kühlen Weinkeller; damit gewinne ich ein bisschen Zeit“. Mit Wein hat de Goulaine Erfahrung: Das südlich von Nantes gelegene Château de Goulaine ist eines der bekannten Weingüter Frankreichs; Mathieus Vater, Robert de Goulaine, errichtete dort bereits 1984 eine Voliere für Schmetterlinge.

Der Wein ist auch das Bindeglied zu dem zweiten Geschäftszweig der Quinta: dem Kakao. Zwischen den Futterpflanzen für die Schmetterlinge sind in den letzten Jahren zahlreiche Kakaopflanzen der endemischen Sorte „Nacional – Fino de Aroma“, auch „Arriba“ genannt, angebaut worden. „Mein Traum ist es, dass Kakao demnächst wie Wein nach bestimmten Lagen klassifiziert wird. Dann würde nicht nur die Verarbeitung, sondern auch die Herkunft der Kakaobohne bei der Bewertung berücksichtigt.“ Ein einfacher Produzent erhält in dieser Gegend zur Zeit 3,20 US-Dollar pro Kilo fermentierter Kakaobohnen.

Pflanzenvielfalt bedeutet Schmetterlingsvielfalt – und Lebensraum für den Menschen

Alles ist miteinander verbunden: Während unserer mehrstündigen Wanderung  durch den dichten, vor Feuchtigkeit dampfenden Wald bleibt Mathieu de Goulaine immer wieder stehen und erklärt. „Dies ist die Futterpflanze des Diaethria clymena, der wegen der Zeichnung auf seinen Flügeln den Spitznamen 89/98 trägt. Und schauen Sie, hier, diese Pflanze, die halb Farn, halb Flechte ist, ist typisch für den Primärwald! Eigentlich müssten wir nur die Pflanzenvielfalt hier erhalten, dann bleiben auch die Schmetterlinge.“ Offenbar schätzte schon das präinkaische Volk der Yumbo die Vielfalt des Waldes. Die Yumbo verfügten in der Gegend über mehrere Siedlungsstätten; es wird vermutet, dass sie auch die Mauer errichteten, an der sich unser Pfad entlangschlängelt. 

Aber es ist nicht nur die Begeisterung für Schmetterlinge, Kakao und Wald, die unseren Aufenthalt zum Erlebnis werden lässt. Da sind noch die zwei netten Gästezimmer, das Bad im Fluss, der Apéro am offenen Feuer und das gute Essen, mit Mathieu und seiner ecuadorianischen Frau Janneth am Familientisch in der Küche eingenommen. Draußen singt ein Frosch, einem Vogel gleich. Und dann kommt Copiopteryx.

Quinta de Goulaine: Von Quito mit dem Auto in drei bis dreienhalb Stunden zu erreichen. Anfahrt möglichst mit einem geländegängigen Fahrzeug: www.quintadegoulaine.com

26. November 2021

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Galápagos: Zurück in die Zukunft

Die Touristen sind zurückgekehrt nach Galápagos, auf die “islas encantadas”, die „verzauberten” Inseln. Schlendern durch die Hauptstraße der größten Stadt Puerto Ayora, zwischen Kunsthandwerk, billigen T-Shirts und hippen Sushi-Restaurants. Lassen sich neben einem schlafenden Seelöwen auf der wackeligen Bank am Straßenrand nieder. Fotografieren die leuchtend roten „Hexenfische“ (Pez brujo) am Fischmarkt, während die daneben stehenden Pelikane ungeduldig darauf warten, dass ein Happen für sie abfällt. 

„Wir haben im letzten Monat 15.000 Touristen empfangen“, berichtet Danny Rueda, seit März 2020 Direktor des Nationalparks Galápagos. „Das ist eine große Erleichterung, denn wir müssen alle unsere Einnahmen selbst generieren. In Zeiten von Corona hieß das: Kein Tourismus, kein Geld“. Vor der Pandemie kamen bis zu 25.000 Besucher monatlich; 21 Flüge wöchentlich waren erlaubt. Diese Deckelung, wie auch das Verbot, neue Hotels zu errichten, sorgten dafür, dass das fragile Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur trotz des einträglichen Tourismus’ einigermaßen erhalten blieb.

Vermehrt sich der Mensch, verändert sich die Natur

Denn diese Balance ist stets gefährdet, seit die zunehmende Besiedlung des Archipels in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts begann. Heute leben rund 33.000 Menschen auf den vier bewohnten Inseln, binnen fünfzig Jahren hat sich die Bevölkerung verzehnfacht. Mit den Zuwandern kamen auch die Haus- und Nutztiere, mit unerwünschten Nebeneffekten: die Katzen der Neusiedler fraßen einheimische Vögel, und ihre mit Nahrungsergänzungsmitteln gepäppelten Rinder grasten nun neben den hier einheimischen Riesenschildkröten. Die Schildkröten ernährten sich von den durch die Rinder „gedüngten“ Pflanzen – und waren auf einmal gegen Antibiotika resistent. Und sie verteilten überall die Samen der eingeschleppten Brombeere, deren Ranken nun die hier endemischen Pflanzen überwuchern.

Viele der hier lebenden Menschen kommen ursprünglich vom ecuadorianischen Festland. „Ich bin zwar schon in Galápagos geboren“, erzählt unser junger Taxifahrer, „aber meine Eltern sind aus der Provinz Tungurahua im Hochland hierher ausgewandert.“ Bewohnt sind dennoch nur gut 3% des Territoriums, der Rest der insgesamt 127 Inseln und Inselchen zählt zum Schutzgebiet des Nationalparks. Aber der Mensch hinterlässt auch dort immer deutlicher seine Spuren: Auf dem paradiesisch anmutenden Sandstrand der Tortuga Bay lassen sich bei näherem Hinschauen unzählige Teilchen von blauem, rotem oder weißen Mikroplastik ausmachen, die mittlerweile auch in den Organismen der hier lebenden Tiere in großer Zahl vorkommen. 

Blau auf weißem Sand: Mikroplastik in der Tortuga Bay
Blau auf weißem Sand: Mikroplastik in der Tortuga Bay

Schon ohne Pandemie ist die Versorgung der Bevölkerung schwierig

Auf den Inseln Santa Cruz und San Cristóbal, wo die die große Mehrzahl der Bewohner lebt, erhofften sich manche Ecuadorianer und unternehmungslustige Ausländer ein auskömmliches Leben in exotischem Ambiente. Die Gehälter der staatlichen Angestellten auf Galápagos liegen 80% über denen des Festlandes. Viele der Zuwanderer bleiben erst einmal versuchsweise hier, melden sich nicht bei den Behörden an. Aber die Kosten des täglichen Lebens sind hoch. Nur etwa dreißig Prozent der Nahrungsmittel, die die Inseln konsumieren, können sie selbst produzieren, sagt Danny Rueda. Alles andere muss über tausend Kilometer vom Festland importiert werden. „In der Zeit des Lockdowns haben wir alle angefangen, unser eigenes Gemüse anzubauen, weil wir ja von irgendetwas leben mussten“, erinnert sich Samira, die als Touristenführerin für den Nationalpark arbeitet. „Freunde von uns hatten irgendwann gar nichts mehr zu essen, wir haben uns dann zusammengetan, um ihnen zu helfen. Aber es gab auch gegenteilige Effekte – alle zogen auf einmal Tomaten im Garten und verkauften sie, so dass der Marktpreis um die Hälfte fiel!“

Eines der Hauptprobleme aller Siedler ist von jeher die Wasserknappheit. Nur San Cristóbal verfügt über eine Süßwasserquelle. Auf Santa Cruz dagegen fließt nur zwei Stunden am Tag das Nass aus dem Hahn, dann ist Schluss. Das aufgefangene Regenwasser und die vorhandenen Entsalzungsanlagen reichen nicht, um den Bedarf aller Bewohner zu decken. Noch mehr als einen verlässlichen Zugang zu Trinkwasser aber wünschen sich die „Galapageños“ eine bessere Gesundheitsversorgung. „Wenn es auf unserer Insel gleichzeitig zwei Unfälle gibt, kann nur einer davon versorgt werden“, klagt ein Touristenführer. „Ich sage meinen Gästen immer: Genießt Euren Aufenthalt, aber werdet bloß nicht krank!“

Der ewige Ärger mit dem Internet

Auch das Internet ein ständiger Beschwerdepunkt nicht nur der ausländischen Übernachtungsgäste in den teuren Hotels. Nur 41% aller Haushalte verfügen über einen Internetanschluss; bis zu 100$ müssen dafür monatlich bezahlt werden.  Das versprochene Glasfaserkabel wird wohl erst in fünf Jahren verlegt. Dies ist nicht nur ein Kommunikations-, sondern auch ein Bildungshemmnis: 33% aller Schüler hatten während der letzten anderthalb Jahre der Pandemie, in denen der Unterricht ausschließlich über virtuelle Kanäle erfolgte, überhaupt keinen Zugang zur Schulbildung. Auch jetzt dürfen sie nur einmal in der Woche wenige Stunden in die Schule gehen – wenn sie Glück haben, denn nicht alle Schulen auf Galapagos haben bisher die Erlaubnis zum Wechselunterricht erhalten. 

Seit mehreren Wochen hat es auf den Inseln keinen neuen Corona-Fall mehr gegeben. Selbst bei den Zwölf- bis Fünfzehnjährigen hat die Impfquote inzwischen mehr als 75% erreicht, bei den Erwachsenen liegt sie nahe 100%. Mittlerweile machen ausländische Touristen wieder die Hälfte aller Besucher aus. Aber ein „weiter so wie vor der Pandemie“ wird es nicht geben: „Wir können uns nicht weiter auf den Tourismus als einzige Einkommensquelle stützen“, schreibt Norman Wray Reyes, damals Vorsitzender der regionalen Regierung, in dem unlängst verabschiedeten „Plan Galápagos 2030“. „Wir müssen über neue Formen von Produktion und Konsum nachdenken, um unsere Versorgung mit Nahrungsmitteln und allem Lebensnotwendigen nachhaltig zu gestalten.“ 

18. Oktober 2021

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Die Pyramiden von Cochasquí

Wer beherrschte den Norden Ecuadors vor der Ankunft der Inka? Die Antworten der Historiker auf diese Frage sind mit vielen „vielleicht“ und „möglicherweise“ gespickt. Immer wieder werden dabei die Volksgruppen der Cayambe, der Caranqui, Otavalo und Cochasquí genannt, die seit ungefähr 500 n.Chr. die Gegend besiedelten. Der Kampf dieser Völker gegen die Eroberer aus dem Süden zog sich wohl über eine Reihe von Jahren bis zum Fall der Festung Pambamarca, vermutlich im Jahr 1505, hin. 

Die fünfzehn Pyramiden von Cochasquí nördlich von Quito sind der größte zusammenhängende Komplex präinkaischer Ruinen im Norden Ecuadors. Es wird angenommen, dass sie ab ca. 930 n.Chr. erbaut wurden. Ein leider etwas unscharfes Video des Fotografen Jorge Anhalzer zeigt die Ausdehnung der Anlage, die neben den Pyramiden noch 21 Grabstätten, sogenannte „Tolas“ umfasst. Unklar ist freilich, mit welcher Absicht die Pyramiden mit ihren mächtigen Rampen, die wie Zungen bis zu 200 Meter lang in das Land hineinragen, gebaut wurden. Wohn- und Herrschaftssitz der lokalen Stammesführer, Begräbnisort, zeremonielle Kultstätte, astronomisches Observatorium? Für alle Interpretationen gibt es Anhaltspunkte, die von verschiedenen Forschungsmissionen des letzten Jahrhunderts zusammengetragen wurden.

Ein einzigartiger Mondkalender auf einer Pyramide aus Vulkangestein und Lehm

Wer sich das Terrain auf dem vorgegebenen Rundweg zu Fuß erwandert, muss sich vom Parkplatz aus den Weg durch eine Herde von Lamas und Alpakas bahnen – für junge Familien sicherlich eine Attraktion. Schon von hier unten sind einige der flachen Pyramiden mit ihren Rampen erkennbar; alle sind sie nach Norden ausgerichtet. Errichtet wurden sie aus Chocoto, einem Gemisch aus Lehm, Wasser, Stroh und Exkrementen, das flach- und damit festgestampft wurde. Die Ränder der Plattformen sind mit Blöcken des Vulkangesteins Cangahua befestigt, das von einem etwa einen Kilometer entfernten Steinbruch hertransportiert wurden.

Zu sehen ist dies bei der weitgehend freigelegten Pyramide Nummer 13. Deutlich erkennt man die unter einer Grasnarbe verborgene Stufenstruktur. Spektakulär aber ist der auf der Plattform angelegte Mondkalender, der mithilfe der Sonne die Monate des Jahres anzeigte. Dreizehn aufrecht in kreisrunde Löcher eingelassene Holzpflöcke, die je nach Sonnenstand unterschiedliche Schatten warfen, standen offenbar für die dreizehn Mondzyklen im Jahresverlauf. 

Die Legende von der Herrscherin Quilago

Immer höher geht es dann hinauf, bis sich schließlich an klaren Tagen der Blick über das ganze Tal und auf das Panorama der umliegenden Berge öffnet – von den Puntas und dem Cayambe m Osten über den Rumiñahui bis zum Pichincha im Westen. Das ist der Moment, wo man sogar der Theorie unserer Reiseführerin Glauben schenken mag, dass Cochasquí ursprünglich auch als Festung konzipiert worden war. Die Legende von der Herrscherin Quilago (1485-1515), die den mit ihr liierten Inca-Fürsten Huayna Capac vergeblich in eine Falle zu locken versuchte,  der sie am Ende selbst zum Opfer fiel, klingt jedenfalls gut vor dieser Kulisse. 

Eindrucksvoll ist auch die Vogelschau auf die mit rund neunzig mal achtzig Metern größte Pyramide der Anlage, die Nummer neun. In ihre Flanke und Zentrum haben (Grab-)Räuber früherer Zeiten eine tiefe Wunde geschlagen, was schon der deutsche Archäologe Max Uhle während seiner Expedition im Jahr 1932 beklagte. Uhle fand in dieser Pyramide nur noch Hunderte menschlicher Schädel, die die Eindringlinge zurückgelassen hatten.

Koloss mit Wunden: Die Pyramide Neun

Cochasquí als Teil des Inka-Weges Quapac Ñan

Folgt man dem Rundweg weiter, trifft man auf einen Abschnitt eines alten Inka-Wegs, markiert durch ein andines Wegkreuz. Auch der Quapac Ñan, die vom Süden des Kontinents nach Norden führende Hauptstraße der Inka, führte über Cochasquí. 

Zwei in traditioneller Bauweise zu Museumszwecken errichtete Häuser geben einen Eindruck davon, wie die Bewohner dieses Landstrichs bis vor nicht allzu langer Zeit lebten: In einem Raum gemeinsam mit den zur Speise dienenden Meerschweinchen, die Feuerstelle direkt daneben, als Mittelpfeiler des fensterlosen Rundbaues der „Lebensbaum“, árbol de la vida. So ähnlich mögen die Rundhütten der lokalen Führer einst auf den Plattformen der Pyramiden gestanden haben. Dies lässt zumindest eine Skizze der „Gruppe Ecuador“ der Universität Bonn vermuten. Unter Leitung von Udo Oberem nahmen diese Forscher in den Sechzigern Jahren des letzten Jahrhunderts hier umfangreiche Ausgrabungen vor. 

Das zum Ausgang hin gelegene Museum zeigt, anders als beispielsweise im nahegelegenen Otavalo, Ausstellungsstücke, die zu einem großen Teil tatsächlich von hier stammen. Wie oft in Ecuador wäre der Besucher für mehr Information zu Verwendungszweck, Fundort und Datierung dankbar, aber die Präsentierung ist ansprechend, und die Führerin auf Nachfrage gut informiert. Und anschließend: Hühnersuppe oder Mais mit Käse? Und noch ein frischer Salatkopf für zu Hause? In den Büdchen und einfachen Restaurants neben dem Parkplatz gibt es gefühlt kein Corona mehr.

Von Quito aus gelangt man über die Panamericana in einer guten Stunde zum Parque Archeológico Cochasqui. Bei Kilometer 52, direkt hinter der Gebührenstation, links abbiegen, der Weg ist gut ausgeschildert. Besichtigung nur mit Führung; wochenends empfiehlt es sich, früh zu kommen, um den zahlreichen Großfamilien auf Sonntagsausflug zu entgehen.

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