Zwei bronzene Löwenköpfe zieren die Tür des rosafarbenen Hauses in der Calle Junín. Der Löwe als Symbol des Evangelisten Markus war selbstgewähltes Programm des studierten Theologen und Philosophen Matthias Abram: Dieses Haus und sein Besitzer gehörten hierher, in das Stadtviertel San Marcos in der historischen Altstadt von Quito. Ein Bild der Zeitschrift Ñan, erschienen nur wenige Wochen nach seinem Tod im März 2019, zeigt Abram in seiner Straße, vor seinem Haus, mit ausgebreiteten Armen, ein Mann in seinem Element.
Matthias Abram, geboren 1943 und aufgewachsen in einer deutschsprachigen Familie in Südtirol, kam im Jahr 1970 erstmals nach Lateinamerika. In Chile beobachtete er mit einer Gruppe deutscher Freiwilliger die Wahlen, begleitete die Kandidaten während ihrer Kampagne bis zum Wahlsieg Salvador Allendes. 1976 wurde er Koordinator des Deutschen Entwicklungsdienstes für die damals etwa 80 deutschen Freiwilligen in Ecuador. „Ich verliebte mich in das Land. Ich bin ja selbst aus den Bergen, und hier waren die Berge einfach unglaublich“, sagte er im Rückblick auf diese Zeit einmal in einem Interview. Es war aber nicht nur die Landschaft – es waren vor allem die indigenen Bewohner und ihre Sprachen, die Abram faszinierten.
Von Sprachen fasziniert: Wilhelm von Humboldt und Matthias Abram
Das Haus in San Marcos, das Abram wohl 1985 erwarb, wurde in der kolonialen Zeit erbaut, auch wenn es auf den ersten Blick vor allem republikanische Elemente zeigt. Durch den grünen, säulenumstandenen Innenhof gelangt man über eine enge, dunkle Treppe in den ersten Stock. Beim Betreten des fensterlosen Arbeitszimmers von Matthias Abram fühle ich mich merkwürdigerweise an das viel luftigere, größere Studierzimmer Wilhelm von Humboldts in Schloss Tegel in Berlin erinnert. Vielleicht sind es die Schreibtische, die an beiden Orten so wirken, als sei ihr von der Sprachwissenschaft faszinierter Besitzer mitten in einem Gedanken aufgestanden und komme gleich zurück.
Als Abram dieses koloniale Haus von dem Journalisten Benjamin Ortiz Brennan kaufte, lebte kein Ecuadorianer, der etwas auf sich hielt, im Zentrum von Quito. Die Gegend war heruntergekommen, galt als gefährlich, als Wohnort des Volkes und der Prostituierten, nicht der guten Gesellschaft. Matthias Abram suchte genau das – ein altes Haus mit Ausstrahlung und Geschichte, mitten im Leben. Zu dieser Zeit begann er für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) an einem Projekt für den bilingualen Schulunterricht indigener Kinder zu arbeiten, das zu seinen besten Zeiten 120.000 Kinder in rund 100 Schulen erreichen sollte. Abram selbst sprach fließend Kichwa; in Guatemala, wo er in den Neunziger Jahren arbeitete, lernte er später Maya und weitere indigene Sprachen. Er bildete Lehrer aus, besuchte Schulen, schrieb Lehrbücher. Und vor allem sammelte er: Sprachen, Bücher, Landkarten, Kunst.
Berichte von Reisenden in und nach Lateinamerika
In der Bibliothek seines Hauses ist eine ganze Wand der Sprachwissenschaft und den Sprachen Lateinamerikas gewidmet. Und vor allem gibt es Reiseberichte: Originalausgaben der Beschreibungen, die europäische Reisende seit dem 16. Jahrhundert über ihre Erfahrungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent verfasst haben. Das Buch „In den Hoch-Anden von Ecuador“ des deutschen Geografen Hans Meyer (1907) liegt dort, die „Reise nach Amazonien“ von Gaetano Osculati, einem italienischen Abenteurer des 19. Jahrhunderts, und Joseph Kolbergs „Nach Ecuador – Reisebilder“ in einer Ausgabe von 1900. Welches Projekt Abram im Sinn hatte, als er diese Bücher auf seinem Schreibtisch unter dem Bild des Lateinamerika-Befreiers Simón Bolívar versammelte, ist bisher nicht bekannt.
Nach einigen Jahren in Guatemala, in denen er sich für die GIZ ebenfalls der Verankerung zweisprachiger Bildung im dortigen Schulsystem widmete, kehrte Matthias Abram in sein Haus nach Quito zurück. Er begann, die Zeitschrift „Pueblos indígenas y educación“ (Indigene Völker und Schulbildung) herauszugeben – eine wissenschaftliche Publikation, an der vornehmlich Forscher aus Deutschland und Lateinamerika mitwirkten, und die bis zur Nummer 66 im Jahr seines Todes alle sechs Monate erschien. Ein unwirklich scheinendes Projekt in diesem Land, in dem wissenschaftliche Literatur keinen kommerziellen Markt besitzt und im wesentlichen unter Freunden verteilt wird. Er kuratierte gemeinsam mit dem Kunstsammler Iván Cruz die ständige Ausstellung präkolumbianischer Kunst in der 2010 neueröffneten Casa del Alabado in Quito, er nahm an unzähligen Konferenzen als Vortragender teil, er veröffentlichte Schriften zu Forschungsreisenden früherer Jahrhunderte. Und er suchte und fand die Karten, die diese Reisenden zur Verfügung hatten oder selbst erstellten.
Die größte Kartensammlung Ecuadors
Der Kartenraum im Wohnhaus von Quito ist beeindruckend. Hier befindet sich, darin sind sich ecuadorianische Wissenschaftler einig, die größte und wichtigste Kartensammlung Ecuadors. Karten überall an den Wänden und auf den Tischen, Darstellungen Lateinamerikas aus dem 16. bis 20. Jahrhundert. Aus einem nachlässig auf dem Boden platzierten Bilderrahmen schaut Alexander von Humboldt den staunenden Besuchern zu, und wie schon im Arbeitszimmer werde ich auch hier das Gefühl nicht los, als habe der Hausherr in seiner Arbeit am Kartentisch nur kurz innegehalten und wolle gleich wieder zurückkehren.
„Matthias hat sich das Viertel von San Marcos zu Eigen gemacht“, heißt es in dem schon erwähnten Artikel der Zeitschrift Ñan. Abrams unermüdlicher Einsatz für die Belange seines Stadtviertels machte ihn für die Nachbarn unwidersprochen zu „einem von uns“.Viele Weggefährten gehen weiter: Dem Reisenden zwischen zwei Welten – zuletzt lebte Matthias Abram jeweils ein halbes Jahr in Bozen, ein halbes Jahr in Ecuador – sei es gelungen, ein Teil dessen zu werden, was Quito ausmacht. Der Anwalt der Indigenen und ihrer Sprachen hatte keine Berührungsängste gegenüber der sogenannten „guten Gesellschaft“; der Liebhaber einheimischer Musikkneipen konnte sich auch über die Zerstörung einer historischen Orgel als Folge der Bodenerschütterung durch den zunehmenden Straßenverkehr in Quito öffentlich aufregen. Sein offenes Umgehen mit der eigenen Homosexualität beförderte die bis dato sehr zögerliche Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Beziehungen in Ecuador.
Was wird aus dem Haus und den Sammlungen?
Die Zukunft des Hauses „im Schatten des Magnolienbaumes“, so der Titel eines in eben diesem Hause spielenden Romans von Benjamin Ortiz Brennan, ist bisher unklar. Sicher ist, dass es zuerst einer Katalogisierung des umfangreichen Bestands an Büchern, Karten, Bildern und Kunstgegenständen bedarf. Ein „totaler, ein der Gemeinschaft zugewandter, solidarischer Mensch“ sei Matthias Abraham gewesen, hieß es in einem Nachruf. Es wäre San Marcos, Quito und Ecuador zu wünschen, dass das Erbe dieses totalen und unendlich wissensdurstigen Forschers so bald wie möglich auch anderen Menschen zugänglich gemacht werden kann.
23. November 2020