Im deutschen Reiseführer taucht die Siedlung Casablanca als Fußnote zum beliebten und belebten Badeort Atacames auf: „Falls Sie es etwas ruhiger möchten, machen Sie einen Abstecher in das wenige Kilometer entfernte Dörfchen Same: dort finden Sie einen schönen Sandstrand mit Palmen, und die geschlossene Feriensiedlung des „Club Casablanca“. In diesem Corona-Jahr wollte es vor allem die ecuadorianische Regierung zu Weihnachten und Neujahr etwas ruhiger und verkündete am 21. Dezember mit sofortiger Wirkung neue rigide Beschränkungen: Sperrung aller Strände am 24./25. Dezember sowie an Silvester und Neujahr, Sperrstunde ab 22.00 Uhr, Autofahren zum und vom Urlaubsort je nach geradem oder ungeradem Kennzeichen nur an jedem zweiten Tag. Und natürlich, aber das gilt ja seit März, Maskenpflicht immer und überall, wie im Auto so auch unter dem Sonnenschirm.
Weihnachten und Silvester am Strand, aber ohne Party mit der erweiterten Familie und dem größeren Freundeskreis? Undenkbar für viele Quiteños. Viele Bekannte in Quito optieren deshalb gleich für die Familienfeier in den eigenen vier Wänden oder im Garten und lassen den Strand Strand sein. In dem Vertrauen darauf, dass viele Dinge hier nicht so heiß gegessen wie gekocht werden, und dass wir zumindest das richtige Autokennzeichen für die von uns gewählten Reisetage haben, machen wir uns dennoch vier Tage vor Jahresende auf den Weg.
Keine Zelte erlaubt? Dann bauen wir Sonnensegel
Im Feriendomizil angekommen, die Koffer geleert, die Strandhandtücher bereit, brechen wir auf zum Wasser, das direkt vor der Haustür wartet. Nur wenige Meter trennen uns von der ersehnten Strandliege im Schatten, aber: „Vorhin ist die Militärpolizei durchgekommen“, sagt uns der nette Strandwart. „Wir dürfen keine Zelte mehr aufbauen, und die Stühle müssen auch weg ab 15.00 Uhr“. Es ist 17.30 Uhr, ohnehin wird bald die Dämmerung einbrechen. Seufzend lassen wir uns direkt in den Sand sinken. Der Sonnenuntergang ist auch so schön.
Am nächsten Vormittag herrscht bei strahlendem Himmel entspanntes Treiben am Wasser. Paare führen gemeinsam den Hund spazieren, Kinder buddeln Löcher bis zur Mitte der Erde, die Jugend spielt Volleyball, zehnköpfige Familien bauen die Plastikstühle neben den Kühlboxen auf. Wo die am Tag vorher inkriminierten Zelte standen, werden jetzt kunstvoll Sonnensegel improvisiert, die sind ja schließlich nicht verboten. Die jungen Frauen, die gegen die Vorschrift Massagen und das Flechten von Zöpfchen anbieten, tragen Maske, alle anderen eher nicht. Leben und Leben lassen, scheint das Gebot des Ortes – und wenn man ehrlich ist, ist dafür auch nach Corona-Maßstäben Platz genug.
Silvesternachmittag kommt das Militär noch einmal mit zehn Mann hoch vorbei: „Sie wissen ja, dass sie nicht hier unten am Strand sitzen dürfen“? Ein Augenzwinkern, und geflissentlich ziehen sich die Nachbarn hinter die niedrige Mauer zurück, die den Vorgarten vom Strand trennt. Der Abend ist ja noch lang. Erst einmal das Abendessen mit der Familie, alle Fenster auf und die Musik an. Fast verpassen wir, dass ja schon Mitternacht ist. Da Feuerwerk in diesem Jahr ohnehin verboten ist, sagt einem kein Böllerlärm, wann man wieder vor dem Haus zu sein hat. Stattdessen steigen viele kleine papierne Heißluftballons in die Luft, rot schimmernde Leuchtpunkte, die allmählich über dem Meer verschwinden.
Es lebe die Improvisation – sonst ist kein Leben
Ecuadorianer sind Meister darin, sich zu arrangieren. Grillen am Strand wäre ein zu offensichtlicher Regelverstoß? Dann wird das gute Rind eben gleich neben der Garage gebraten, zwischen Plastikmöbeln und zurückgelassenen Sonnenschirmen. So können auch die von einem letzten Strandspaziergang – trotz Sperrstunde, aber die im Dunkeln sieht man nicht – heimkehrenden Nachbarn noch ein Schlückchen mittrinken. Und irgendwie läuft das alles trotz Distanz und den üblichen Corona-Diskussionen noch entspannt ab.
Am letzten Tag freilich gibt es dann doch noch einen der von den Autoritäten gefürchteten Menschenaufläufe, eine „aglomeración“: Unmittelbar vor unserem Strandzugang sind 77 kleine Meeresschildkröten geschlüpft und möchten zum Wasser. Julian aus dem ersten Stock greift zum Spaten, gräbt einen Korridor, ruft „Abstand halten!“, achtet darauf, dass alle Neugeborenen in die richtige Richtung laufen, keines zurückbleibt oder von einem begeisterten Kind adoptiert wird. Und da ziehen dann doch alle, Erwachsene und Kinder gleichermaßen, die Maske aus der Tasche und wollen von Nahem zuschauen.
Vor Weihnachten waren die Neuinfektionen in Ecuador mit seinen 17 Millionen Einwohnern auf etwa 500 pro Tag gesunken. Inzwischen allerdings sind es wieder über tausend Infizierte täglich. Ob die irgendwo in Casablanca am Neujahrsmorgen stattfindende Party, die sogar den penetrant krähenden Hahn auf dem Nachbargrundstück übertönte, oder ähnliche Feiern im ganzen Land noch schlimmere Folgen hatten? In zwei Wochen werden wir es wissen.
03. Januar 2021