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Leben und Gesellschaft

„Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner“ oder die Internalisierung des Ausnahmezustandes

13216149. Ich notiere die letzten Ziffern der Autokennzeichen auf der Straße nach Mindo. Früher ein Spiel zur Verkürzung öder Autofahrten. In Zeiten von Corona laut dem Bürgermeister von Quito Jorge Yunda ein Zeichen bürgerlicher Verantwortungslosigkeit. Am heutigen Sonntag, dem letzten Tag des von der ecuatorianischen Regierung vor sechs Monaten verhängten Ausnahmezustands, dürfen eigentlich nur Autos unterwegs sein, deren Kennzeichen auf einer geraden Ziffer endet. Ab morgen verabschiedet sich die Zentralregierung aus der Verantwortung für die meisten Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung und überlässt diese den Städten. Oder in den markigen Worten Yundas, verbreitet über halbseitige Zeitungsanzeigen, „Ab heute hängt dein Leben und das deiner Lieben von deiner eigenen Disziplin ab!“.

Nach sechseinhalb Monaten schwindet die Disziplin

Unsere Fahrt von der Hauptstadt Quito in das eintausend Meter tiefer gelegene Mindo mit seinen Nebelwäldern und Vogelparadiesen bietet eine gute Gelegenheit, den disziplinarischen Zustand der Bevölkerung zu begutachten. Die venzolanischen Eisverkäufer sind in großer Zahl an den Straßenrand zurückgekehrt, ebenso wie zahlreiche Bettler und die informellen Händler. Es ist Orangensaison, 12 Kilogramm für 5 Dollar, sobald man die wohlhabenderen Bezirke Quitos hinter sich gelassen hat. Der mit Pfosten abgetrennte Fahrradweg entlang der sechsspurigen Avenida Simón Bolivar war in meiner Erinnerung noch nie so belebt – zahlreiche Fahrradfahrer in Sportkleidung, Spaziergänger mit Hunden, ganze Familien nutzen mangels Alternativen diese Möglichkeit, ein wenig Bewegung zu bekommen in einer Zeit, in der Schulen, Sportplätze, Schwimmbäder, Fitnessstudios und zahlreiche städtische Parks weiterhin geschlossen sind. Notfalls zählt auch Telefonieren mitten auf der Fahrbahn als Unternehmung an der frischen Luft. 

In der Unterkunft im Nebelwald herrschen strenge Vorschriften – die mobile Desinfektionseinheit mit Seife, Wasser und Desinfektionsgel sowie das omnipräsente alkoholische Schuhbad zur Beruhigung neurotischer Stadtbewohner begrüßen uns am Eingang, und unsere Wanderführer legen auch bei Nacht oder Hitze die Maske nicht ab. Der Kanister zum Abspritzen der Autoreifen dagegen steht mittlerweile ungenutzt im Gebüsch neben der Einfahrt, und dass Schuhe überall draußen bleiben müssen ist wohl eher dem schlammigen Urwaldboden als Corona geschuldet. 

Warten auf den 1. Oktober

Alle warten darauf, dass ab Montag das Leben anders wird. Auch der amerikanische Tischnachbar und Vogelliebhaber, der morgen mit Baumaßnahmen auf seinem nahegelegenen Grundstück beginnen will und dafür extra aus New York angereist ist. Wer nicht warten will, nimmt die neue Lebenswirklichkeit vorweg. In dem Dörfchen Nanegalito herrscht lebhaftes Treiben in den winzigen Geschäften und einfachen Restaurants. „Bei uns gab es keinen einzigen Corona-Fall“, erzählt uns Fabian Luna, Eigentümer des kleinen Alambi Cloud Forest – Reservats, der selbst in dem Ort wohnt. Vor den Gaststätten entlang der Landstraße stehen zahlreiche Autos; selbst auf den sandigen Parkplätzen schlichterer Etablissements, die oft gute Hühnersuppe und eher zähes Grillfleisch anbieten, herrscht Gedränge. 

„Halte mindestens zwei Meter Abstand – nur so überlebst Du“, verkündet Yunda von der Plakatwand. Er hat bereits vermeldet, was ab Montag in Quito und Umgebung gilt, nämlich de facto weiterhin der Ausnahmezustand, streng überwacht durch Polizei und Militär. Alle Ausnahmegenehmigungen für Autofahrten unabhängig vom Kennzeichen müssen neu beantragt werden; Restaurants dürfen unabhängig von ihrer Größe nur 50% ihrer Plätze besetzen, jeder Verstoß gegen die Maskenpflicht, auch zum Rauchen, Telefonieren oder Joggen, wird mit 100 US-Dollar sanktioniert.  

Alle Schulgebäude sind auf Entscheidung der Zentralregierung weiterhin geschlossen, ebenso wie die Universitäten; aller Unterricht im Land soll weiter virtuell erfolgen. Interessierte Institutionen beim können Nationalen Komitee für die Organisation der Notfallmaßnahmen (COE) einen Antrag auf Zulassung als „Pilotschule“ für semipräsentiellen Unterricht einreichen. Aber die letzte Entscheidung hängt von den zuständigen Stadtoberhäuptern ab – in der größten Stadt Guayaquil ließ die Bürgermeisterin unlängst eine Schule, die Pilotunterricht plante, mit städtischen Lastwagen blockieren. Mehrfach haben wir schon von informellen Schulen gehört, die sich in den ländlichen und ärmeren Regionen bilden. Wo bestenfalls ein Handy im Haushalt vorhanden ist, oder es gar kein Internet gibt, suchen sich die Menschen Möglichkeiten, die näher an ihrer Lebenswirklichkeit liegen.

77415704. Die Welt als Wille und Vorstellung. „Ich kann nicht hinter jeden Menschen einen Polizisten stellen“, sagt Yunda dazu.

13. September 2020

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