Am 28. Mai 1990 besetzte eine Gruppe von Indigenen die Kirche von Santo Domingo im Herzen Quitos. Sieben Tage lang hielten sich rund 240 Menschen auf dem Gelände des Dominikanerklosters auf. Die von den Besatzern an die ecuadorianische Regierung gerichteten Forderungen bildeten gewissermaßen den Prolog zum ersten großen „levantamiento indígena“ („Indigenenaufstand“) Ecuadors wenige Tage später. Zweiunddreißig Jahre danach, wieder im Juni, ist die Plaza von Santo Domingo allabendlicher Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei. Leónidas Iza, Vorsitzender der „Konföderation der indigenen Nationen Ecuadors“ (CONAIE), hat zu einem unbegrenzten Generalstreik aufgerufen. Seit fünf Tagen sind zahlreiche Straßen im Land von Baumstämmen, Autos und brennenden Reifen blockiert. Viele Läden im Zentrum der Hauptstadt haben aus Angst vor Plünderungen geschlossen; der Schulunterricht fällt aus. Morgens um neun Uhr an diesem Freitag ist der Kirchplatz allerdings menschenleer. Die kleine Reinigung gegenüber öffnet gerade, die Kerzenverkäuferin in der Kittelschürze baut vor der Kirchentür ihren Stand auf.
Wenige Minuten später stehe ich mit Padre Oswaldo, dem Prior des Klosters, und Bruder Roberto auf dem Dach der Kirche und schaue auf die Stadt. Direkt gegenüber erhebt sich der „Brötchenhügel“ Panecillo mit seiner übergroßen Statue der „Jungfrau von Quito“; im Nordwesten ist am Hausberg Pichincha das Denkmal zur Erinnerung an die Befreiungsschlacht von 1822 zu erkennen. „Bei uns Dominikanern gibt es seit dem 16. Jahrhundert eine besondere Beziehung zu den Indigenen, weil sich Angehörige des Ordens, wie zum Beispiel Francisco de Vitoria, schon damals die Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung durch die spanischen Kolonialherren mit deutlichen Worten anklagten“, erklären sie mir.
Die beiden Geistlichen sind behende die schmale Treppe zum Dach hinaufgeklettert, steigen entspannt über lose Kabel und brüchige Stufen. Nun setzen sie sich in einer Nische, baumeln mit den Beinen und erzählen. „Neulich hat sich ein Hochzeitspaar nach der Trauung hier oben fotografieren lassen. Die Braut ist bis ganz oben auf die Kuppel geklettert, mit hochhackigen Schuhen!“ Die zwei grünen Kuppeln von Santo Domingo bilden das Dach der darunter liegenden Rosenkranzkapelle. Eine dritte, viel kleinere Kuppel zur Calle Maldonado hin, erhebt sich über dem „Camarín“, einem winzigen Raum hinter dem Altar der Kapelle, an dem die Kleidung der Marienstatue in einer Truhe verwahrt wird.
Im 16. Jahrhundert ordnete der Dominikanerpapst Pius V. aus Dank über den Sieg der christlichen Truppen in der Seeschlacht von Lepanto (1531) an, dass jede Kirche seines Ordens der „Maria vom Rosenkranz“ eine eigene Kapelle weihen solle. Die erste Kapelle in Quito wurde etwa zur Zeit der Fertigstellung der Kirche im Jahr 1624 errichtet. Rund einhundert Jahre später wurde sie dann erheblich vergrößert. Das abschüssige Klostergelände reichte dafür allerdings nicht mehr aus. Deshalb wurde die angrenzende Calle Loma (heute die Calle Rocafuerte) mit der neuen Kapelle überbaut; bis heute ist der „Arco de Santo Domingo“ ein Wahrzeichen des Viertels. Vor wenigen Jahren noch war das Kapellendach deutlich bunter: an seinem Rand finden sich Überreste von vielfarbigen Kacheln mit Pflanzenornamenten, die möglicherweise aus Spanien oder Peru importiert wurden und früher große Flächen des Dachs bedeckten.
Geplant wurde die Kapelle in der Zeit, in der der begabte Maler Pedro Bedón (gestorben 1621) Prior der Klostergemeinschaft war. Gemeinsam mit dem Architekten Sebastián Avila (dieser erkennbar am Kompass in seiner Hand) ist er auf einem Wandgemälde oberhalb der Vierung, ganz links von der Rosenkranzmadonna zu sehen.
Rot für das Blut Christi, Gold für die Vollkommenheit Gottes
Durch eine rotgestrichene, eiserne Pforte betritt man die rechts vom Kirchenschiff gelegene prächtige Kapelle. Auch die Wände sind vollständig in den Farben Rot und Gold gehalten, zur Erinnerung an das vergossene Blut Christi und Gottes Vollkommenheit. Es gibt dort wunderbare Details zu entdecken. An der Kanzel zur Linken das Wappen der Dominikaner, eine lebendige Darstellung jenes Hundes mit der Fackel im Maul, der zum Symbol des Heiligen Dominikus wurde. Gegenüber an der westlichen Wand ein ungewöhnliches Bild der Heiligen Anna, der Mutter Marias, als Schwangere. Und, wie so oft in Ecuador, ein fast jugendlicher Joseph, der den neugeborenen Jesus nicht seiner Frau überlässt, sondern ihn selbst auf dem Arm trägt. Die Kuppeln sind auch von innen schön, obgleich sie im Jahre sie im Zuge der letzten Renovierungsarbeiten von 2018 eher schlicht bemalt wurden.
Im kolonialen Quito war auch die Rosenkranzbruderschaft streng nach Herkunft gegliedert
In der Rosenkranzkapelle versammelten sich seit dem 16. Jahrhundert die Angehörigen der örtlichen Rosenkranzbruderschaft, einer von den Dominikanern gestifteten Laiengemeinschaft, zum Gebet. Unter den besonderen Bedingungen der Kolonie mit ihrer stratifizierten Gesellschaft gab es jedoch nicht nur eine, sondern drei Gemeinschaften: Die Spanier und ihre vor Ort geborenen Nachkommen, die „Criollos“, feierten ihre Gottesdienste streng getrennt von den Indigenen und den in den Quellen so genannten „Africanos“, den Nachkommen afrikanischer Sklaven.
Mit der umfangreichen Erweiterung von 1730 wurde die Kapelle physisch und auch spirituell vorübergehend beinahe zu einer Art Nebenkirche, deren von Laien gebildete Führung sich weitgehend der Kontrolle durch die Dominikaner entzog. Dieser Wettbewerb zwischen Geistlichen und Laiendominikanern scheint jedoch heute vergessen. Die ecuadorianische Juristin und Gewerkschaftsaktivistin Isabel Robalino, die dem Orden achtzehnjährig als Laiin beigetreten war, verbrachte die letzten zwölf Jahre ihres langen Lebens auf Einladung der Padres im Konvent Santo Domingo, wo sie im Januar 2022 mit 104 Jahren verstarb. Aufgebahrt wurde sie in der Rosenkranzkapelle.
Der Weg aus der Stille der Kirche und des Kreuzgangs führt mich vorbei an vier Polizisten in gelben Warnwesten; noch sitzen sie entspannt auf den Sofas im Eingangsbereich und widmen sich ihren Handys. Aber fast bin ich zurück in der Wirklichkeit des unruhigen Ecuador. „Seien Sie vorsichtig“, ermahnt mich die Blumenverkäuferin am Straßenrand. „Ich selbst verschwinde spätestens um drei Uhr nachmittags von hier, bevor es wieder losgeht!“ Am Abend die bereits vertrauten Bilder in den sozialen Medien: Steine werfende junge Leute, Tränengas sprühende Polizisten, fallende Absperrgitter, Polizeisirenen auf der Plaza vor der Kirche. Santo Domingo ist und bleibt ein symbolträchtiger Ort für Viele.
19. Juni 2022
Kirche und Museum von Santo Domingo sind Montag bis Samstag täglich ab 9.15 geöffnet. Der selbständige Besuch der Kuppeln ist leider nicht immer möglich, Glück hat man oft am Samstag oder an Feiertagen. Führungen werden zum Beispiel hier angeboten: https://quitotourbus.com/tour-cupulas-de-santo-domingo