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Ein Tornado: Beverly Buchanan im Haus am Waldsee

Das Haus am Waldsee in Zehlendorf, 1923 erbaut, ist eine bürgerliche Villa und ein Ausstellungsort mit Zugang zu besagtem See. Menschen in Wochenendlaune genießen den Blick auf das Wasser und den Geruch des Herbstlaubs; im Café liefert das Zischen der Espressomaschine den Hintergrund für gepflegte Gespräche zum Kuchen. In den Ausstellungsräumen dagegen geht es gerade um weniger kommode Aspekte des Lebens: Vergänglichkeit, Ausgeliefertsein, die Fragilität menschlicher Existenz. Erstmals widmet sich eine Einzelausstellung in Deutschland der phänomenalen afro-amerikanischen Malerin, Bildhauerin und Landschaftskünstlerin Beverly Buchanan (1940 – 2015). Die noch viel mehr war: Naturwissenschaftlerin, Sammlerin, Schriftstellerin.

Beverly Buchanan wuchs als adoptierte Tochter eines Lehrer- und Dozentenehepaares im Bundesstaat South Carolina in den USA auf, in einer ländlichen Umgebung, deren von Armut und Ausbeutung beherrschte Vergangenheit Menschen und Architektur geprägt hat. Trotz eines großen Interesses am Zeichnen studierte Buchanan erst Medizintechnik, Parasitologie und Public Health, lebte und arbeitete lange in New York. Erst mit dem Beginn der 1970er Jahre begann sie sich systematisch mit Kunst und Malerei zu befassen. Ihre frühen Werke, die sie neben der Berufstätigkeit schuf, spiegelten ihre eigene Auseinandersetzung mit der Großstadt: Bilder von imaginären schwarze Mauern, Skulpturen aus Beton, Ruinen gleich.

30 Jahre lang bestimmten die „Shacks“ das Schaffen von Buchanan

1983 gab sie ihren Beruf und das geregelte Leben in der Stadt auf und zog zurück in den Süden, wo sie sich schließlich in Athens (Georgia) niederließ. Sie wollte dort sehen, so sagte sie in einem in der Ausstellung nachzulesenden Interview, „was ich als Künstlerin erreichen konnte.“  Zu Beginn der 1980er Jahre begann sie, sich intensiv mit den von ihr unter der Bezeichnung „Shacks“ zusammengefassten Gebäuden zu beschäftigen: prekären Behausungen, wie sie in den Südstaaten vor allem in den Siedlungen der schwarzen, benachteiligten Bevölkerung gang und gäbe waren. In unzähligen Varianten zeichnete Buchanan diese Häuschen, die ihre Bewohner aus dem zusammenzimmert hatten, was gerade da war: Ein paar Latten, einige Äste, ein Stück Wellblech.

Installationsansicht Beverly Buchanan. Weathering mit Ima-Abasi Okon, Haus am Waldsee, 2025 (c) Julian Blum
Installationsansicht Beverly Buchanan. Weathering mit Ima-Abasi Okon, Haus am Waldsee, 2025 | Foto Julian Blum

In ähnlicher Weise baute sie selbst ihre „Shacks“ in Miniaturform, aus Materialien, die sie eher zufällig fand. Eine ganze Siedlung ist im Haus am Waldsee zu sehen: hölzerne Häuschen, bunt, phantasievoll, kaum ein rechter Winkel irgendwo. Und die Kirche darf nicht fehlen (Buchanans Urgroßvater war methodistischer Pfarrer und hatte seine eigene Gemeinde). Dabei ist es eine poetische Welt, welche die Künstlerin erschafft: Für sie stehen die Häuser für allgemeingültige und doch individuelle Geschichten von Menschen. Zu einigen der „Shacks“ hat sie „Legenden“ geschrieben, in Ton und Gehalt traditionellen Märchen gleich. Irgendwo zwischen Realität und Fiktion steht auch der hölzerne „Shack South inside out“ – zu klein, als dass ein Mensch  darin stehen könnte, das Innere gewissermaßen nach außen gekehrt, verletzlich. Kein Schutz gegen die Widrigkeiten des Lebens, nicht einmal gegen Wind und Wetter. Aber vielleicht ein Zeichen des Willens, zu überleben.

Vergänglichkeit kontrastiert mit Hoffnung auf Zukunft

„Weathering“ (Verwitterung) ist der treffende Titel dieser Überblicksausstellung. Wie die „Shacks“ sind auch die großen Landschafts-Kunstwerke von Buchanan so konzipiert, dass sie Vergänglichkeit mitdenken. Die „Marsh Ruins“, drei 1981 von ihr an der Küste von Georgia gestaltete Zementhügel, sind eines ihrer bekanntesten Werke in diesem Stil. Den Punkt der Verwitterung greift Ima-Abasi Okon auf, die Mit-Künstlerin dieser Ausstellung. Quer durch den Garten des Hauses am Waldsee hat sie einen Pfad gemäht, der hinunter zum See führt. Nur wenige Wochen und einige Herbststurmtage nach Ausstellungsbeginn ist er kaum noch zu sehen. Im Haus selbst hat Okon dagegen Blumenaquarelle Beverly Buchanans zusammengestellt: farbenfrohe Zeichnungen, mit deren Verkauf die Künstlerin ihr prekäres Leben zuweilen finanzierte.  Auch die Wände der Ausstellungsräume, von Okon mit einer Mischung aus Pollen und Wasser gelb gestrichen, sagen: weitermachen, es gibt eine Zukunft!

Beverly Buchanan, Marsh Ruins, 1981, Farbfotografie, 9x13 cm, Courtesy of the Estate of Beverly Buchanan und Andrew Edlin Gallery, New York
Beverly Buchanan, Marsh Ruins, 1981, Farbfotografie, 9×13 cm, Courtesy of the Estate of Beverly Buchanan und Andrew Edlin Gallery, New York

Als ein Mensch endlos vieler Ideen erscheint Beverly Buchanan in den ausgestellten Skizzen, handschriftlichen Notizen, Fotos und kleinen Erzählungen. Immer im Dialog mit der sie umgebenden Landschaft, ihrer Architektur und den dort lebenden Menschen. Im wahrsten Sinne des Wortes geerdet, mit der Schubkarre in den Händen, Stiefel an den Füßen. „Ich hoffe, dass ich mir etwas von der Energie bewahren kann, die in einigen meiner Zeichnungen zum Ausdruck kommt!“ sagt Beverly Buchanan im Interview. „Wie würdest Du diese Energie definieren?“, wird sie gefragt.  „Tornado“. Man glaubt es, wenn man ihr Werk sieht.

Beverly Buchanan, Weathering mit Ima-Abasi Okon, Haus am Waldsee e.V., Argentinische Allee 30, 14163 Berlin, 2.10.2025 – 1.2.2026, Di bis So 11–18 Uhr.

Dieser Text ist zuerst am 30. Oktober 2025 in den Stadtrand-Nachrichten erschienen.

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Vom Gefängnis zum Kulturstandort: „The Knast“

Tag des Offenen Denkmals im September 2025. Rund 150 Menschen drängeln sich vor dem Eingang des ehemaligen Frauengefängnisses in der Söhtstraße in Berlin-Lichterfelde. Eigentümer Dr. Joachim Köhrich erläutert persönlich und engagiert die Baugeschichte des Gebäudes. Zusammen mit seiner Partnerin Janina Atmadi hat der Unternehmer schon die Berliner Heckmann-Höfe erfolgreich als Kreativquartier entwickelt. Im Jahr 2017 erwarb er die Liegenschaft in Lichterfelde und hat das ehemalige Gefängnisgebäude samt Garten seitdem Stück für Stück in den Kulturstandort „The Knast“ umgewandelt, an dem  Kunst, Kulinarik und Geselligkeit eine ganzheitliche Verbindung eingehen sollen. 2024 erhielt er für die sorgfältige Instandsetzung des Gefängnisses den Bundespreis für Handwerk in der Denkmalpflege.

Wenige Wochen nach der öffentlichen Führung bin ich mit Janina Atmadi, die den „Knast“ als Geschäftsführerin leitet, zu einem Gespräch verabredet. Zu Fuß biege ich von der Ringstraße in die Söhtstraße ein und nehme noch einmal bewusst wahr, wie gut sich der 1902 – 1906 entstandene Gefängnisbau und das zeitgleich erbaute Amtsgericht mit ihren Volutengiebeln, Türmen und Zierelementen an die Umgebung anpassen. Das war von den Architekten Sarkur, Mönnich und Thoeme so gewollt; schließlich sollten potentielle Bewohner der zu Ende des 19. Jahrhunderts gegründeten Villenkolonie Lichterfelde durch die Gegenwart einer Haftanstalt nicht von ihren Bauvorhaben abgeschreckt werden.

Villa oder Haftanstalt? Unauffällig passten sich Amtsgericht und Gefängnis an ihre Umgebung im Stadtteil Berlin Lichterfelde an (c) Soeht 7
Villa oder Haftanstalt? (c) Soeht 7

Ein zugleich sehr offener und doch zurückgezogener Ort ist dies auch heute noch. Nach der Auflösung des Gefängnisses im Jahr 2010  wurde die Liegenschaft eine Zeit lang vor allem für Filmaufnahmen (am bekanntesten: „Monuments Men“ und die Serien „Berlin-Babylon“ und „Im Knast“) genutzt. Ab 2016 entwickelte der Kulturmanager Jochen Hahn dort die Vision einer „musisch-kreativen Denkfabrik“; daran knüpfen die neuen Eigentümer in Teilen an. „Joachim Köhrich liebt besondere Immobilien, und als wir dies hier sahen, war das Konzept eigentlich gleich da“, sagt Janina Atmadi.

Brandschutz und Denkmalschutz: zwei gleichermaßen große Herausforderungen

Zwei Zellentrakte gab es im Gefängnis, einen größeren für Männer und einen kleineren für Frauen. Im heute geradezu freundlich wirkenden Lichthof des früheren Männertrakts finden an langer Tafel regelmäßig sogenannte „Zellentraktdinner“ statt. Die Räume im zweiten und dritten Stock sind an den Verein „Pride Art e.V.“  vermietet und werden von Künstlern als Atelier- oder Ausstellungsräume genutzt. Wer als „Resident Artist“ im „Knast“ arbeiten will, bewirbt sich beim Verein um eine Zelle. An den drei- bis viermal jährlich stattfindenden Ausstellungen sind zunehmend auch Künstler von außerhalb beteiligt, und das Publikum reist aus ganz Berlin an, berichtet Atmadi. Bei der denkmalgerechten Gestaltung der Zellentüren wurde neben der Denkmalschutzbehörde ein passionierter Sammler – ja wirklich: von Zellentüren – zu Rate gezogen. Um aber sowohl Denkmalschutz (Bestandswahrung) als auch Brandschutz (Fluchtwege) gerecht zu werden, stehen viele der Türen heute ausgehängt in den Zellen. Joachim Köhrich fasste es am Tag des Offenen Denkmals launig zusammen: „Die Herausforderung war es, ein Gebäude, aus dem niemand fliehen durfte, in eines umzuwandeln, aus dem man jederzeit fliehen kann.“

Besonders am Herzen liegt Janina Atmadi die Bar im Kuppelsaal, der ehemaligen Kapelle des Gefängnisses. Auf Dielen aus einem Opernhaus stehen dort heute anstelle harter Holzbänke bequeme Sessel, die Atmosphäre ist wohnlich. „Hier können auch Familien aus der Nachbarschaft einfach mal auf einen Drink vorbeikommen!“ Vorausgesetzt, alle Familienmitglieder sind über 18, eine Regelung, die gleichermaßen für das Restaurant gilt, dessen regional und saisonal ausgerichteten Küche Liebhaber guten Essens auch von weiter her anlockt. Küchenchef Michael Zscharschuch, oder auch einmal als Gast Sternekoch Tim Tannenberger, arbeiten just dort, wo sich vormals die Gefängnisküche befand: „Brot und Wasser, nur in besser“, scherzt Janina Atmadi.

2026 soll nun endlich auch das Hotel eröffnen. Pier Andrea Mestre, der vor vier Monaten ernannte General Manager, hat zehn Jahre lang ein Boutique-Hotel in Venedig geleitet, das er in dieser Zeit zum Anlaufpunkt für Gäste der Fondazione La Biennale di Venezia und für internationale Kunstliebhaber machte. Bester Laune führt er mich durch die Räume, zeigt er eines der in warmen Farben und mit haptisch angenehmen Materialien eingerichteten Zimmer, von denen die meisten durch Zusammenlegung zweier Zellen entstanden sind. Die vier großzügigen Suiten im ausgebauten Dachgeschoss werden individuell ausgestaltet. Ein anspruchsvolles „Hideaway“ auch für internationale Gäste soll dieser Ort sein, fern vom Trubel im Zentrum der Hauptstadt.

Ein Standort, der neue Erfahrungen bieten soll

Was bedeutet der „Knast“ für Lichterfelde? Für Janina Atmadi ist das ganz klar: „Der Kiez findet bei uns einen Ort vor, den es so bisher nicht gibt. Bei uns haben wir eher sinnliche Events, bei denen die Leute etwas Neues erleben können. Unser Standort bereichert den Kiez qualitativ, aber auch um Erfahrungen, die viele Leute noch nicht gemacht haben. Wir möchten hier zu einem offenen, geselligen, anderen Lifestyle beitragen.“

Dieser Artikel ist zuerst am 24. Oktober 2025 in den Stadtrand-Nachrichten erschienen.

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Fakten gegen Fake News: das Bundesarchiv in Lichterfelde

Seit 1994 befindet sich der größte Standort des Bundesarchivs auf dem Areal der früheren Preußischen Hauptkadettenanstalt in Lichterfelde. Ein wenig unzugänglich wirkt das weitläufige Gelände auch heute noch. Aber der Schein trügt: Wer das Benutzungszentrum aufsuchen oder einfach nur einen Rundgang durch die parkartige Anlage machen möchte, gelangt nach der Anmeldung beim Pförtner in der Finckensteinallee ganz unkompliziert hinein.

Die Hauptkadettenanstalt hatte hier von 1873 bis 1920 ihren Sitz. Nach der weitgehenden Auflösung militärischer Einrichtungen infolge des Versailler Vertrags wurde auf dem Gelände eine Staatliche Bildungsanstalt eingerichtet, bis im April 1933 die „SS-Stabwache Berlin“, alsbald umbenannt in „Leibstandarte Adolf Hitler“, das Grundstück übernahm. Sowjetische Truppen eroberten die Kaserne im April 1945 und übergaben sie an die US-Streitkräfte, welche die nunmehr „Andrews Barracks“ genannten Gebäude bis 1994 nutzten.

Fünf Minuten dauert der Spaziergang vom Tor, dann wird das von Ziegelstein und Glas geprägte neue Magazingebäude sichtbar, in dem auch der Empfang und die Dauerausstellung zur Geschichte des Archivs untergebracht sind. Über eine gläserne Fußgängerbrücke ist es mit dem 2021 eingeweihten Benutzungszentrum (einem Wirtschaftsgebäude aus nationalsozialistischer Zeit) verbunden; dort liegen Bibliothek und Lesesäle. Eine zweite Brücke führt zum einzigen erhaltenen Gebäude der Hauptkadettenanstalt, einem sanierten Ziegelbau, in dem sich heute Büros der Mitarbeiter befinden.

Der gewaltige Magazinbau mit seinen Fensterfronten auf der „Publikumsseite“ demonstriert Anspruch. Groß leuchtet der weiße, reliefartige Schriftzug „Bundesarchiv“ von der Wand der Eingangshalle; winzig erscheinen die Menschen, die sich dort aufhalten. Unwillkürlich frage ich mich, wie viele Schritte die hilfsbereiten Mitarbeiter am Empfang wohl täglich zurücklegen, wenn sie sich einfach nur im Rahmen ihres kreisförmigen Tresens bewegen.

107 km Akten lagern in Lichterfelde (c) Bundesarchiv
107 km Akten lagern in Lichterfelde (c) Bundesarchiv

Aber es sind auch gewaltige Bestände, die hier lagern: 107 Kilometer Akten werden mittlerweile in den größtenteils oberirdischen Magazinen aufbewahrt, geschützt gegen Wasser, Feuer und sonstiges Unheil. Wohlgemerkt: Die 107 Kilometer würden abgedeckt, wenn man alle Akten aufrecht nebeneinanderstellte wie in einem Bücherregal. Von Berlin aus würde diese Aktenschlange bis weit nach Polen hineinreichen. Dabei ist Lichterfelde nur einer von drei Berliner Standorten neben Lichtenberg und Tegel. Nach der Übernahme des Zentralen Staatsarchivs der DDR durch das Bundesarchiv infolge der Wiedervereinigung gab es ein logistisches wie politisches Interesse daran, unterschiedliche Bestände an wenigen Orten in der Hauptstadt zu konzentrieren, und damit an diesen einen immensen Platzbedarf.

In der Finckensteinallee können vor allem Akten zur Geschichte des Deutschen Reichs von 1867 bis 1945 eingesehen werden. Außerdem befinden sich hier Dokumente zur Geschichte der DDR (mit Ausnahme des Stasi-Unterlagen-Archivs), und die Sammlung der „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen“ (SAPMO) der DDR.  Wer allerdings bei dem Wort „Archiv“ noch ausschließlich Papier denkt, muss seine Vorstellung erweitern: In Lichterfelde befindet sich auch die riesige Filmabteilung des Bundesarchivs, mit rund 150.000 Filmen und einer Million Filmrollen eine der größten weltweit. Daneben wird hier ein Teil des umfangreichen Bild- und Tonarchivs aufbewahrt, während sich der andere in der Hauptdiensstelle des Bundesarchivs in Koblenz befindet.

Von der Preußischen Kadettenanstalt zum Bundesarchiv - Ausstellung in der Eingangshalle (c) Benita Schauer
Schon immer mit Anspruch: Von der Preußischen Kadettenanstalt zum Bundesarchiv (c) Benita Schauer

Die Lesesäle sind an diesem Montagmorgen spärlich besetzt; vor Ort arbeiten vor allem Wissenschaftler. Aber das Interesse von Privatpersonen speziell an Forschungen zur eigenen Familiengeschichte nimmt zu. Pro Jahr erreichen das Bundesarchiv an den Standorten Lichterfelde, Tegel und Freiburg nach Auskunft der Pressestelle mehr als 75.000 Anfragen zu Personen im Zusammenhang mit der NS-Zeit. Zum Vergleich: Bürgeranträge zur DDR-Zeit mit Stasi-Bezug gab es zuletzt jährlich 28.000.

Für die Beantwortung der Frage, „war Großvater Paul in der NSDAP?“ genügt vielleicht ein Schreiben an das Archiv. Wenn ich aber die Mitgliederkartei selbst im Lesesaal konsultieren oder sich dazu noch weitere Akten anschauen möchte, muss ich etwas langfristiger planen. Das Bundesarchivgesetz bestimmt: „Jeder Person steht…auf Antrag das Recht zu, Archivgut des Bundes zu nutzen.“ Und da wird es wird dann kurz einmal deutsch-behördlich:

Den Antrag gibt es auf der Website, zum Unterschreiben muss er ausgedruckt werden. Der eingesandte Antrag wird vom jeweiligen Fachbereich geprüft; das ist vor allem relevant, wenn bei dem Forschungsthema personenbezogene Informationen eine Rolle spielen. Sobald er genehmigt wurde (das Archiv spricht von zwei Wochen, mit denen zu rechnen sei), kann ich die benötigten Akten oder Medien über die Rechercheplattform in den Lesesaal bestellen, muss mir über die Website des Archivs dort einen Platz buchen und kann dann die Dokumente vor Ort einsehen und auch fotografieren. Oder auch einen Film anschauen, Microfiches konsultieren oder historische Tonaufnahmen anhören. Wenn ich selbst nicht genau weiß, was ich benötige, übernehmen Archivmitarbeiter gegen eine Gebühr die Suche.

Die Frage liegt nahe: Ginge das nicht längst auch digital? Tatsächlich ist die Digitalisierung der stetig wachsenden Bestände mittlerweile eine der Hauptaufgaben des Bundesarchivs. Pro Jahr werden rund 20 Millionen Seiten neu eingescannt. Priorität haben dabei Akten, die in einem kritischem Zustand sind, oder solche, die besonders häufig nachgefragt werden. Bis Ende 2028 sollen so alle Dokumente der NS-Zeit digital zugänglich sein, rechtzeitig vor dem unguten Jubiläumsjahr 2033. Auch die noch vorhandenen Akten des Reichskolonialamts liegen schon vollständig digitalisiert vor; eine spezielle KI-Anwendung hilft dabei, die teils noch in Sütterlin handschriftlich verfassten Akten nach Schlagworten zu durchsuchen.

Es gibt aber auch einen besonderen Service, der luxuriös klingt für jeden, der sich im Studium noch handschriftliche Auszüge aus Akten anfertigen musste: die „Digitalisierung on-demand“. Bis zu zehn Akten pro Forschungsvorhaben digitalisiert das Bundesarchiv auf Antrag kostenlos auf für jeden Nutzer, der sich die Unterlagen anschließend zum weiteren Gebrauch herunterladen kann. Der Archivgrundsatz, dass „der Nutzer zur Akte kommt, nicht die Akte zum Nutzer“ verliert damit allmählich an Bedeutung.

„(F)akten statt Fake News“ hat sich das Bundesarchiv auf die Plakate geschrieben. Wer sich selbst von den hier als nationales Gedächtnis lagernden Fakten ein Bild machen möchte, hat dazu die Gelegenheit im Rahmen der öffentlichen Führungen. Oder er füllt einen Benutzungsantrag aus…

Dieser Artikel ist ursprünglich am 15. Oktober 2025 in den Stadtrand-Nachrichten erschienen.

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„Für mich ist es das Schönste, Menschen Freude zu schenken“: Lino Friese und sein Circus Varieté

Vor kurzem führte ich für die Berliner Stadtrand-Nachrichten ein Interview mit Lino Friese. Der 24-jährige präsentiert im Frühjahr 2026 in Kleinmachnow bei Berlin bereits zum vierten Mal seinen Circus Varieté, wo sich internationale Stars der Zirkus- und Varieté-Szene die Klinke in die Hand geben. Bereits jetzt sind alle Vorstellungen ausverkauft.

Mit seiner Vision, Menschen für eine kurze Zeit in eine andere Welt voller Magie zu entführen, erinnerte mich Lino Friese unvermittelt an Manuela Soeiro. Mit ihr, der legendären Leiterin des „Teatro Avenida“ in Maputo (Mosambik), führte ich vor rund zehn Jahren ebenfalls ein Gespräch. Darin erzählte sie mir, sie habe als Kind davon geträumt, „einen Zirkus zu haben, der allen Kindern offensteht“. Das Theater, das sie stattdessen übernahm und seit Jahrzehnten prägt, wurde unter anderem Schauplatz von Henning Mankells Roman „Der Chronist der Winde“. Was vielleicht zeigt, dass Magie und Zielstrebigkeit keine Grenzen kennen, ob in Mosambik oder Deutschland. 

Hier aber nun meine Fragen an Lino Friese: 

Die wievielte Show ist es, die Du jetzt gerade planst?

Das ist meine vierte Show. Gestartet ist das Ganze 2020, als Teil meiner Schul-Abschlussarbeit, mit einem Tag Vorstellung, direkt vor dem ersten Corona-Lockdown. Die zwei nächsten Shows waren dann schon größer, und dieses Mal werden es drei Tage, wir rechnen also mit rund 2500 Zuschauern.

Du kommst aus einer Familie, die mit Zirkus eigentlich nichts zu tun hat – was hat Dich daran so fasziniert, dass Du dachtest: „Das will ich machen!“?

Die Leidenschaft für den Zirkus ist, seit ich denken kann, da. Ich weiß selbst eigentlich nicht richtig, wie es angefangen hat, aber so mit fünf oder sechs Jahren. Da war ich bei einer Aufführung der Waldorf-Schule in Zehlendorf, die einen Schulzirkus hat, und seitdem hat mich das Thema nicht mehr losgelassen.

Hast Du damals davon geträumt, selbst als Artist in der Manege zu stehen, so wie viele andere Kinder?

Nein, überhaupt nicht. Es war gar nicht das „Selber-im-Rampenlicht-Stehen“; auch jetzt ist das Moderieren für mich eigentlich das Schlimmste bei der ganzen Vorbereitung. Was mich fasziniert ist eher diese Magie beim Zirkus, diese ganze Logistik dahinter: Man erschafft eine Parallelwelt – und dann wird abgebaut, von einem Tag auf den anderen ist alles verschwunden, und dann entsteht es wieder an einem anderen Ort. Was bei meiner Show natürlich nicht ganz so ist, weil das ja nichts ist, was herumreist.

Die Dinge, die man für die Planung einer Zirkus-Show wissen muss, vom Umgehen mit Artisten und Künstlern über Netzwerken, Logistik und Buchhaltung, lernt man aber eher nicht in der Schule…?

Ich bin in der 11. Klasse drei Monate lang mit dem Circus Voyage unterwegs gewesen, und das war die beste Schule, da ziehe ich jetzt noch viel raus. Beim Zirkus muss ja jeder alles können und machen, Tiere pflegen, an der Kasse stehen, die Show begleiten, Auf- und Abbau, Plakate kleben. Ich habe auch viel gelernt darüber, was Artisten und Künstler brauchen, was denen wichtig ist, das ist ja auch für Vertragsverhandlungen gut zu wissen.

Sagt man eigentlich „Artisten“ oder „Künstler“?

Ich sage inzwischen immer mehr „Künstler“, denn Artisten, die machen etwas mit ihrem Körper, aber ich habe zum Beispiel einen Showpiloten in meiner neuen Produktion, der mit Modellflugzeugen arbeitet – das ist für mich eher ein Künstler.

Was war denn die größte Herausforderung, auf die Du zu Anfang gestoßen bist?

Ich hatte ja so das Bild von einer Zirkusshow in einem richtigen Zelt, so wie man’s kennt. Und da bin ich dann ziemlich schnell an Grenzen gestoßen, auch finanziell. Als Achtzehnjähriger hatte ich ja irgendwie auch null Budget, nur das, was dann über die Eintrittskarten reinkam. Also, von dieser Idee, „ich mach‘ das im Zelt“, wo ich dann Toiletten, Strom, Wasseranschluss brauchte, kam ich schnell weg. Inzwischen ist meine größte Herausforderung, das Niveau zu halten und den Zuschauern immer wieder etwas Neues zu bieten.

Wie bezeichnest Du Dich selbst – eher als Zirkusdirektor oder als Manager?

Also, diese Shows sind wirklich mein Herzensprojekt, deshalb ist mir „Manager“ dafür eigentlich zu wenig. Und „Zirkusdirektor“ benutze ich kaum, das ist für mich jemand, der auch auf der Bühne sehr präsent ist. Irgendwie bin ich Strippenzieher, Organisator und Veranstalter, aber eben für die eine Sache, die mir am Herzen liegt.

Wie schafft man es, von den Großen dieses Geschäfts ernst genommen zu werden, wenn man dieses Leben nicht schon von Kindheit an kennt? Das Roller Skating Duo Skating Donnert’s zum Beispiel blickt auf eine 125-jährige Familientradition zurück…

Es fängt eigentlich ganz simpel an mit Wertschätzung für die Arbeit der Künstler. Was mir hilft, ist die Leidenschaft für mein Projekt, die ich offenbar auch vermitteln kann, um denen zu erklären, weshalb sie zu mir nach Kleinmachnow kommen sollen.

Warum sollen sie kommen?

Weil das bei uns eine ganz besondere Atmosphäre ist in dieser relativ kleinen Location. Es entsteht so eine Art Symbiose zwischen Publikum und Künstlern, auch, weil sich das Publikum oft untereinander kennt. Da entsteht eine Stimmung, die dann überschwappt auf die Künstler, und für die ist das etwas total Besonderes, so nahe dran zu sein.

Wie hast Du Dein Netzwerk aufgebaut?

Die Zirkus- und Varieté-Welt ist ja relativ klein und überschaubar, man kennt sich, das geht relativ schnell, da reinzukommen. Und es lebt davon, dass ich superviel unterwegs war, um mir Shows anzugucken, und da einfach die Kontakte gesucht habe. Schlüsselpunkt ist natürlich das Zirkusfestival in Monte Carlo, das steht immer auf Platz 1 bei meiner Reiseplanung.

Du beendest gerade Deine Ausbildung zum Veranstaltungskaufmann beim Friedrichsstadt-Palast?

Ja, nach dem Abi 2021 habe ich erst einmal die Show für 2022 vorbereitet. Danach war ich so ein bisschen auf der Suche, habe erst in Hamburg und dann in Berlin gearbeitet, hier auch schon beim Friedrichsstadt-Palast. Aber ich wollte doch noch einmal eine richtige Ausbildung machen, damit ich etwas in der Hand habe, damit werde ich jetzt im Januar fertig, und dann will ich mich intensiv vorbereiten auf die Show Ende Februar.

Noch einmal zu Deiner neuen Show: Worauf dürfen sich die Zuschauer dieses Mal besonders freuen? 

Das Besondere ist, dass die Show noch einmal internationaler, und ja, das hört sich jetzt etwas doof an, von der Qualität noch mal hochkarätiger ist. Dieses Mal habe ich zum Beispiel den größten Comedy Act, den es eigentlich gibt, César Dias, der ständig unterwegs ist…an dem war ich vier Jahre lang dran, und es freut mich total, das der jetzt kommt. Aber eben auch viele andere internationale Künstler, die alle noch nicht hier waren.

Die für 2026 angekündigten sechs Vorstellungen in Kleinmachnow sind allerdings schon ausverkauft …

Für mich ist es einfach das Schönste, Menschen Freude zu schenken, deshalb bieten wir jetzt eine Zusatzshow am Samstag 28. Februar 2026 um 11.00 Uhr an, und da startet der Verkauf am 1. Oktober.

Du hast einmal gesagt, Du träumst davon, später ein eigenes festes Zirkuszelt zu haben – stimmt das noch?

„Ach, irgendwann wäre das doch echt schön“, diesen Hintergedanken gibt es bei mir – aber mittlerweile hat sich das in Kleinmachnow so toll entwickelt, eigentlich ist es für den Moment perfekt!

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Architekturfotografie: Hélène Binet in der Liebermann-Villa

Geschichten von Lebensträumen, vom Wunsch nach Zugehörigkeit und vom Willen zur Gestaltung erzählt die Liebermann-Villa in ihrer neuen Ausstellung VISION UND ILLUSION. Architekturfotografien von Hélène Binet. Gezeigt werden sehr besondere Fotografien von Landhäusern jüdischer Familien, die im 19. und 20. Jahrhundert in Europa zu Ansehen und Einfluss gekommen waren. Das gewaltige Hughenden Manor, Anwesen des britischen Premierministers Benjamin Disraeli, die als Architekturikone bekannte Villa Tugendhat in Brünn, aber auch die Villa Liebermann selbst und Schloss Freienwalde, das Walter Rathenau 1915 erwarb, sind darunter.

Hélène Binet ist eine der weltweit renommiertesten Fotografinnen zeitgenössischer wie historischer Architektur. Die 1959 geborene Künstlerin, die nach Studium in Italien und der Schweiz seit langem in London lebt, arbeitete eng unter anderem mit Architekten wie Daniel Libeskind, Peter Zumthor, David Chipperfield und Zaha Hadid zusammen. Ihre Bilder waren in Deutschland zuletzt 2020 im Rahmen einer Ausstellung in Köln zu sehen. Bekannt sind die Fotografien Binets, die ausschließlich analog arbeitet und ihre Bilder (vor allem Schwarz-Weiß-Silbergelatineabzüge) oft selbst entwickelt, für ihre kunstvolle, nuancierte Darstellung von Licht und Schatten.

Ein repräsentatives eigenes Haus auf dem Land, ob Schloss oder „nur“ bürgerliche Villa, bedeutete für die jüdischen Bauherren nicht nur die Möglichkeit, ihren eigenen gestalterischen Vorlieben Raum zu geben. Es war zugleich ein öffentliches Zeichen, dass man angekommen war in einer Gesellschaft, an dem Ort, der einem zustand – und dass man bereit war, diese Position auszufüllen. Seit 2015 widmet sich deshalb ein Forschungsprojekt der Universität Oxford den „Jewish Country Houses“, Landsitzen im Eigentum jüdischer Familien in mehreren Ländern Europas. Das Thema ist von gewisser Brisanz in Großbritannien, wo die oft jahrhundertealten Landhäuser der adeligen Oberschicht als nationales Kulturgut erlebt werden. Über die Kuratorin und Kunsthistorikerin Ruth Ur (seit Juni dieses Jahres Direktorin der Stiftung Exilmuseum Berlin) kam es  zum Kontakt der Universität Oxford mit Hélène Binet, und zur Planung eines gemeinsamen Buches. Aus diesem Bildband, der auch als Katalog fungiert, ist die kleine, aber feine Ausstellung in der Liebermann-Villa hervorgegangen.

Hélène Binet, Liebermann-Villa am Wannsee, Berlin, Deutschland, November 2021, Handabzug s/w Silbergelatine
Hélène Binet, Liebermann-Villa am Wannsee, Berlin, Deutschland, November 2021, Handabzug s/w Silbergelatine

Hélène Binet dokumentiert in ihren Aufnahmen nicht etwa, wie ein Gebäude aussieht, sondern sie kommentiert, erzählt Geschichten, rückt Details in den Fokus, die das Selbstverständnis der Erbauer illustrieren und deren Vision in einem begrenzten Bildausschnitt zusammenfassen. Zum Beispiel zeigt sie die in überbordender Neogotik geschmückten Zierleisten in Strawberry Hill, dem Haus des Politikers und Schriftstellers Horace Walpole. Oder sie blickt auf ein Detail der Wandbemalung in der Villa Kérylos, erbaut von dem französischen Archäologen und Abgeordneten Théodore Reinach als Idealversion eines antiken griechischen Privathauses. Binet zeigt uns ihre persönliche Begegnung mit jedem Haus, mit den Menschen, die es bauten, und die darin lebten. „In der Architektur verbinden sich für mich Vergangenheit und Zukunft“, sagt die Künstlerin.

Wer die Villa Liebermann besucht, möchte, nein: muss durch den Garten streifen: Von Max Liebermann als Reformgarten angelegt, ist er Teil der Vision, die der Maler von seinem „Schloss am See“ hatte. Auch vom Haus aus, von den Ausstellungsräumen her, ermöglichen übrigens die (zurzeit nicht verdunkelten) Fenster gerahmte Blicke auf Wiese, Blumen, Birken und Wannsee – Fotografien gleich, die sich nahtlos zwischen den ausgestellten Bildern einfügen. Auf dem Weg zum See übersieht man schnell die kleine Loggia, deren Innenwände Max Liebermann 1911 nach dem Vorbild der römischen „Villa Livia“ mit dem Fresko eines Paradiesgartens schmückte. Hier fand Hélène Binet Motive, die für sie die „Essenz“ der Liebermann-Villa ausmachen: Ein Blick in das Loggia-Innere; der Schatten eines Lorbeerbaums auf dem fein ziselierten Putz der Hauswand. Liebermann selbst ließ die Bemalung 1920 aus ungeklärten Gründen überstreichen – sie wurde erst im Rahmen der umfassenden Sanierungsarbeiten vor rund 20 Jahren wiederentdeckt

„Jewish Country Houses“, das Buch zur Ausstellung, stellt insgesamt dreizehn Landsitze aus Großbritannien, Frankreich, Italien, Deutschland und Tschechien in umfangreichen, reich bebilderten Essays vor. Die zahlreichen Fotos von Binet, sehr viele mehr als in der Ausstellung, erzählen daneben ihre ganz eigene, persönliche Geschichte und schaffen dadurch Verbindungen zwischen den Häusern. Dies ist keines der üblichen „Coffee Table Books“, sondern ein Schmöker, in den man sich versenken kann. Zum Glück sind Teile der darin enthaltenen Informationen auch als Erläuterungen direkt neben den ausgestellten Fotografien zu finden.

Als Wanderausstellung konzipiert, waren die Aufnahmen von Hélène Binet bereits in Strawberry Hill und auf dem Rothschild-Anwesen Waddesdon Manor in England zu sehen, denen ebenfalls Kapitel des Buches gewidmet sind. Vom Wannsee aus geht es 2026 nach Brünn in die bereits erwähnte Villa Tugendhat.

Anmerkung: Dieser Text ist zuerst am 19. September 2025 in den Stadtrand-Nachrichten erschienen.

Ganz fern, und doch so nah: Den Häusern jüdischer Familien, die nach Ecuador emigriert waren, widmen sich andere Beiträge auf diesem Blog: Alles verändert sich – Vera Kohn und Das Leben umarmen – das Haus der Trude Sojka.

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„Wir wollen eine funktionierende Stadt!“

Zum dritten Mal fand am 17. September im Roten Rathaus die Jahreskonferenz der Strategie „Gemeinsam Digital: Berlin“ statt. Jährlich treffen sich hier Mitarbeitende der Berliner Verwaltung, Transformationsexperten und Digitalisierungsspezialisten, die mit Konzepten und konkreten Projekten die Hauptstadt schnellstmöglich zu einer „Smart City“ machen wollen.

Dieses Mal ging es bei der Veranstaltung im Roten Rathaus nicht nur um das Netzwerken innerhalb der Community, sondern auch um öffentlichkeitswirksame politische Unterstützung: Der Regierende Bürgermeister persönlich sprach im Festsaal zu den rund 250 Teilnehmern. Kai Wegner freute sich über die konstruktive „Workshopatmosphäre“ und begrüßte, dass bei der Umsetzung der 2022 verabschiedeten Strategie immer wieder ausdrücklich die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern gesucht werde. Es sei wichtig, die Menschen in diesem Prozess mitzunehmen, aber auch deutlicher zu kommunizieren, was schon möglich sei: „Nur 10% unserer Bevölkerung nutzen bisher das Angebot der Bürgerämter, sich online an- oder umzumelden, weil sie von der Möglichkeit nichts wissen – das kann noch besser werden!“

Martina Klement, Staatssekretärin für Digitalisierung und Verwaltungsmodernisierung, und als Chief Digital Officer des Landes Berlin für das Thema Smart City zuständig, hatte zuvor zwei besonders positive Entwicklungen der jüngsten Zeit hervorgehoben: Zum einen habe die vor der Sommerpause beschlossene Verwaltungsreform klarere Verantwortlichkeiten geschaffen, was auch die Abläufe bei der Digitalisierung einfacher mache. Zum anderen habe sich die Lage auf den Bürgerämtern deutlich entspannt: Inzwischen könnten 81% Prozent aller Terminsuchenden binnen zwei Wochen ihr Anliegen erledigen. Wichtig sei es aber nun, die angestoßenen Prozesse zu verstetigen und „von innovativen Ideen zu Strukturen“ zu kommen, die in der ganzen Stadt und über Bezirksgrenzen hinweg funktionierten. „Wir werden auch einmal Dinge vorschreiben müssen“, so Klement.

Um „Verstetigung“, das Motto des diesjährigen Treffens, ging es auch den anwesenden Mitarbeitenden der Bezirksverwaltungen. Auf dem Podium waren sie prominent vertreten durch den eloquenten Bezirksbürgermeister von Treptow-Köpenick, Oliver Igel. In den Bezirken gelte „Verstetigung“ als Reizwort, so Igel, „denn wir leben damit, dass wir nur ab und zu Brosamen zugeworfen bekommen. Zwei Jahre gibt es Geld, und danach ist es wieder weg!“ Es brauche aber dauerhafte Unterstützung, damit erfolgreiche Pilotprojekte auch weitergeführt werden könnten. „Auch auf Bezirksebene wollen wir den Fortschritt, unsere Mitarbeitenden wollen raus aus ihren papiernen Büros!“ Es nütze nichts, den Antrag auf Wohngeld zu digitalisieren, wenn die darauffolgenden verwaltungsinternen Schritte zur Bewilligung wieder in der Produktion von Aktenbergen resultierten. Da wünsche er sich zuweilen, so der Bürgermeister verschmitzt, einen Vorschlaghammer in den Händen der – ob der Wortwahl sichtlich amüsierten – Chief Digital Officer.

Von allen Vortragenden dringend gefordert: Nicht immer das Rad neu erfinden, sondern erfolgreiche Projekte skalieren: „Wir müssen einfach mal nutzen, was es schon gibt!“ (Adrian Gelep, DigitalAgentur Brandenburg). „Es ist sinnvoll, modellhaft Lösungen zu präsentieren und dann in die Fläche zu tragen!“ (Michael Huch, Koordinierungs- und Transferstelle Modellprojekte Smart Cities). „Wir müssen wegkommen von der Kleinteiligkeit, hin zu einer größeren Vision und damit Transformation“ (Stefan Heumann, Agora Digitale Transformation).

Eingeladen hatte zu dem Treffen das  CityLAB Berlin, das sich selbst als „Berlins öffentliches Innovationslabor“ bezeichnet und die Strategie Gemeinsam Digital: Berlin konzeptionell und in der Umsetzung begleitet. Ziel ist die Entwicklung digitaler Projekte mit Modellcharakter, die sich in der ganzen Stadt erfolgreich einsetzen lassen sollen. Einige davon haben bereits ihren Weg zum Beispiel in den Berliner Südwesten gefunden:

Seit Beginn dieses Jahres gibt es in der Ingeborg-Drewitz-Bibliothek in der Grunewaldstraße 3 eine Digital-Lotsin: An drei Tagen in der Woche hilft Tatjana Antipanova unkompliziert, ohne Termin und kostenlos, Menschen, die Hilfe mit ihrem Smartphone, mit dem Internet und mit digitalen Formularen benötigen. Dieses Angebot gibt es unter dem Projektnamen Digital-Zebra bereits in 28 Berliner Bibliotheken, wo es nach Auskunft der Projektleitung sehr gut angenommen wird.

Speziell an Senioren im Bezirk richtet sich das „Seniorennetz Berlin“, eine digitale Karte zu meist kostenlosen Freizeitangeboten in der Nachbarschaft. Die Webseite ist klar und übersichtlich aufgebaut, in mehreren Sprachen abrufbar, und soll insbesondere älteren Menschen einen schnellen Zugang zu vielen interessanten Veranstaltungen und Fortbildungsmöglichkeiten schaffen, gerade auch im digitalen Bereich. 

Vielleicht bald auch bei Ihnen vor Ort: Das Kiezlabor. Die Mitarbeitenden dieses mobilen Büros sind jeweils für einige Wochen in einem Bezirk prominent vor Ort und wollen mit ihren Projekten Zusammenarbeit zwischen Stadtgesellschaft und Verwaltung konkret machen. Ende dieses Jahres werden neue Projektvorschläge entgegengenommen – beteiligen können sich Verwaltungsmitarbeitende ebenso wie in der Zivilgesellschaft engagierte Menschen.

Aber noch einmal zurück ins Rote Rathaus:„Die Anwesenheit unserer politischen Spitze ist ein wichtiges Signal, das unser Handeln Resonanz zeigt. Wir wollen eine funktionierende Stadt!“, fasste Karen Laßmann, Leiterin des Berliner Modellprojekts Smart City, das Ziel des Treffens zusammen. An Einigkeit hinsichtlich der Ziele mangelte es nicht bei den Akteuren; bei strukturierter Umsetzung und Kommunikation ist, auch das Konsens unter den Teilnehmenden, noch viel „Luft nach oben“.

Anmerkung: Dieser Text ist zuerst am 19. September 2025 bei den Stadtrand-Nachrichten erschienen und wurde für diesen Blog leicht überarbeitet.

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Berlin Leben und Gesellschaft

Eine Entdeckung: Irma Stern im Brücke-Museum

Jeder Mensch eine Persönlichkeit, die uns in ihren Bann zieht. Das ist der bleibende Eindruck, den ein Rundgang durch die Ausstellung der deutsch-jüdisch-südafrikanischen Expressionistin Irma Stern im Brücke-Museum hinterlässt.

Es ist nach 1996 in Bielefeld die zweite Einzelausstellung auf deutschem Boden, die dieser bedeutenden Künstlerin gilt, und die erste in ihrer langjährigen Heimatstadt Berlin. Dass Irma Stern in Deutschland kaum bekannt ist, hängt mit der Vielschichtigkeit ihrer Identität und der Schwierigkeit zusammen, ihr Leben zwischen zwei Welten aus heutiger Sicht angemessen einzuordnen.

Irma Stern wird 1894 als Kind deutsch-jüdischer Auswanderer in Schweizer-Reneke, einer Stadt  in der südafrikanischen Provinz  Nordwest, geboren. Schul- und Ausbildungsjahre verbringt sie mit kurzer Unterbrechung in Deutschland, wo sie ab 1912 in Weimar und anschließend in Berlin studiert. Um 1917 lernt sie den „Brücke“-Maler Max Pechstein kennen, der ihr ein enger künstlerischer Freund wird und 1919 ihrer ersten großen Berliner Einzelausstellung den Weg bereitet. 1920 zieht Irma Stern mit ihren Eltern zurück nach Kapstadt. In den folgenden Jahren pendelt sie zwischen Afrika und Europa, wird als Mitbegründerin in die avantgardistische Künstlervereinigung „Novembergruppe“ eingeladen, hat mit ihren Ausstellungen zunehmend Erfolg. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 kehrt sie Deutschland den Rücken, weigert sich, weiter Deutsch zu sprechen, und meidet bis zu ihrem Tod das Land, das sie künstlerisch geprägt hat.

In den rund fünfzehn Jahren ihrer aktiven Präsenz in Deutschland hat sich Stern bewusst als Kennerin und Vermittlerin Afrikas etabliert, die den Kontinent und seine Menschen nicht nur von Reisen, sondern aus eigenem Erleben kennt. Dass sie als Angehörige der dortigen herrschenden Schicht mit dem „kolonialen Blick“ auf Südafrika und seine Bewohner aufgewachsen ist, wird ihr selbst erst allmählich deutlich. Sichtbar ist aber seit ihren frühen Werken, dass die von ihr Porträtierten unabhängig von ihrer Herkunft immer als Menschen mit einem klaren Bewusstsein ihrer selbst und ihrer Würde dargestellt werden. Das gilt für das einfache Hausmädchen (Woman sewing Kaross, 1929), das, entsprechend den Gepflogenheiten der damaligen Gesellschaft, dem Betrachtenden allerdings nicht in die Augen blickt, sondern sich in seine traditionelle Handarbeit vertieft. Es gilt umso mehr für das 1955, zu Zeiten der Apartheid, entstandene Pendant dieses Bildes, die Maid in Uniform: Makellos und perfekt in ihrer weißen Schürze blickt sie spöttisch an uns vorbei.

Roza van Gelderen, Schulleiterin in Kapstadt und Freundin von Irma Stern (c) Trustees of the Irma Stern Foundation, Cape Town

In Südafrika, wo Stern als in Deutschland ausgebildete, „moderne“ Künstlerin mit einem ganz anderen Image Fuß zu fassen sucht, stößt ihre erste Ausstellung 1922 auf harsche Kritik der bornierten Elite. Der Kreis von jüdischer Diaspora und linksliberalen Intellektuellen, in dem sich Irma Stern in Kapstadt bewegt – einige dort entstandene Porträts sind im Brücke-Museum zu sehen – ist klein, eine „Blase in der Blase“. Die Künstlerin bricht auf ihre eigene Art aus dieser Enge aus, indem sie mit 39 Jahren ihren Führerschein macht und lange Reisen quer durch den afrikanischen Kontinent unternimmt, Landschaften und Menschen malt: „wie eine Forscherin“ sieht sie sich. In diesen Jahren entsteht eine Skizze von Rosalie Gicanda, der Ehefrau des ruandischen Königs Mutara III. Rudahigwa. Den Entwurf arbeitet Stern später als Portrait aus, dem sie den Titel Watussi Queen gibt. Beide Arbeiten sind in der Ausstellung zu sehen; Rosalie Gicanda fiel 1994 dem Völkermord der Hutu an den Tutsi zum Opfer.

Nach dem Erlass der Apartheid-Gesetze 1948 gewinnt der wirtschaftlich erstarkende südafrikanische Staat zunehmend Interesse daran, die Künstlerin als Aushängeschild seiner eigenen Modernität für sich zu reklamieren. Das Gefühl, stets in irgendeiner Facette ihrer Person und Biografie angreifbar zu sein, mag erklären, dass sich die Malerin mit dieser Rolle arrangiert; sie repräsentiert Südafrika im Ausland, unter anderem mehrfach auf der Biennale in Venedig. Gleichzeitig stellt sie 1956 eines ihrer Werke einem Fonds zur Verfügung, aus dem die Verteidigung Nelson Mandelas und anderer in einem Hochverratsprozess finanziert wird. 1966 stirbt Irma Stern, bis heute eine der bekanntesten Künstlerinnen Südafrikas, in Kapstadt. Ihr von einer Stiftung verwaltetes ehemaliges Wohnhaus ist heute ein Museum.

Bereichernd sind die unterschiedlichen Stimmen, die in der Berliner Ausstellung das Werk Sterns in ihren Texten interpretieren. Der 1984 geborene südafrikanische Künstler Athi-Patra Ruga, der Stern als Vermittlerin zwischen den Welten verehrt, weitet unseren Blick mit seinen eigenen ausgestellten Werken, kommentiert und ironisiert.

Ein Rundgang, der vom Beginn bis zum Ende eine Entdeckung ist.

Irma Stern. Eine Künstlerin der Moderne zwischen Berlin und Kapstadt. Brücke-Museum, Bussardsteig 9, 14195 Berlin. Die Ausstellung ist noch bis zum 2. November 2025 geöffnet

Anmerkung: Dieser Text ist ursprünglich bei den StadtrandNachrichten Berlin erschienen.

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Ecuador Leben und Gesellschaft

„Ich wollte Sie auch schon lange ansprechen“. Wie man als Flüchtling sein Schicksal selbst in die Hand nimmt 

„Déle nomás, déle! Weiter!“ Energisch winkt Edison Caiza (Name geändert)  einen weißen Geländewagen aus der Parklücke. „Fahren Sie ruhig, da kommt keiner! Und noch ein bisschen. Jetzt das Lenkrad einschlagen!“ Die zierliche Besitzerin des großen Autos tut, wie ihr geheißen. Reicht eine Münze aus dem Autofenster, erhält ein Lächeln und ein „Danke, Gott segne Sie“. Und fährt davon. Edison steht derweil schon an der Kasse des Obst- und Gemüsegeschäfts, der „Frutería“, vor der er arbeitet. Packt Ananas, Kochbananen und Kartoffeln in Plastiktüten, schleppt die prallen Tüten auf den Parkplatz, lädt ein. Schließt den Kofferraum, wünscht alles Gute, winkt das nächste Auto heran. Schon von Weitem ist er in seiner orangenen Warnweste zu sehen.

Leben von den Trinkgeldern der Kunden

Vor vier Jahren kam der 53-jährige Venezolaner nach Quito. 23 Tage brauchte er für die Strecke vom heimischen Guajíra, an der Grenze zu Kolumbien, über Cúcuta weiter südlich bis nach Ecuador. Das meiste davon lief er zu Fuß, fast ohne Gepäck, nur mit den Kleidern, die er anhatte. Mit Unterstützung der jüdischen Hilfsorganisation HIAS und der Caritas fand er nach seiner Ankunft in Quito das Notwendigste zum Überleben. Eine Zeitlang verkaufte er, wie so viele venezolanische Flüchtlinge, Bonbons auf der Straße, immer an derselben Kreuzung; darüber lernten ihn die Bewohner des Viertels kennen. Seit zweieinhalb Jahren betreut er die Einkaufenden in dieser Straße, ist er regelmäßig auf dem winzigen Parkplatz vor dem Obstladen zu finden. Die Besitzer der Frutería freuen sich über sein Engagement. Im kleinen Supermarkt gegenüber darf er seinen Rucksack unterstellen. Leben tut der große Mann mit grauem Bürstenhaarschnitt von den Trinkgeldern der Kunden.

Wer in Ecuador kiloweise Obst nach Hause transportieren muss, ist für Hilfe dankbar.

Sechzig Prozent der ecuadorianischen Bevölkerung verdienen ihr Geld ähnlich wie Edison: als „informales“, ohne feste Anstellung, Versicherung und geregelte Arbeitszeiten. „Wenn es regnet, geht niemand einkaufen, dann ist der Tag für mich gelaufen.“ Zum Glück regnet es in Quito selten einen ganzen Tag lang. Aber Edison hat noch ganz andere Probleme: Seine Frau, die ausgebildete Krankenschwester ist, leidet an einer Herzkrankheit. Immer wieder muss sie zu Untersuchungen und Behandlungen ins Krankenhaus. „Das alles ist sehr kostspielig, und ich kann an solchen Tagen nicht arbeiten.“ Außerdem besuchen zwei seiner drei Kinder noch die Schule, auch die kostet Geld. Die älteste Tochter hat mit zwei kleinen Enkeln Ecuador mittlerweile wieder verlassen, auf dem hier bekannten und gefährlichen Weg Richtung USA, wo sie nun „mehr schlecht als recht“ in der Nähe von New York lebt.

Endlich regelt die ecuadorianische Regierung den Aufenthaltsstatus venezolanischer Staatsbürger

Stolz zeigt mir Edison sein frisch erworbenes „certificado migratorio“, eine von den ecuadorianischen Behörden ausgegebene Karte, mit der er nachweist, dass er seit März dieses Jahres als Flüchtling offiziell registriert ist. Seit Beginn der Krise in Venezuela sind rund 1,8 Millionen Venezolaner nach Ecuador gekommen. Damit ist Ecuador nach Kolumbien und Peru das drittgrößte Aufnahmeland in der Region. 73% der Geflüchteten kamen irregulär, ohne Registrierung oder Papiere, über die grüne Grenze zu Kolumbien ins Land. Viele  von ihnen sind bereits in andere Staaten Lateinamerikas oder die USA weitergezogen. Die „International Organisation for Migration“ IOM rechnet mit rund 450.000 Flüchtlingen, die sich aktuell noch in Ecuador befinden. Aber erst vor einem Jahr entschloss sich die hiesige Regierung auf Drängen der internationalen Gemeinschaft und zahlreicher Hilfsorganisationen, die Regelung des Aufenthaltsstatus’ aller Flüchtlinge anzugehen. Nach Daten des Netzwerks Relief Web vom 27. Juni dieses Jahres haben mittlerweile 158.000 Venezolaner das certificado migratorio erhalten, das ihnen die Beantragung eines Visums für zunächst zwei Jahre gestattet. Dieses Visum haben bisher  66.000 venezolanische Staatsbürger erhalten. Internationale Beobachter sind zufrieden mit dem Verlauf des Prozesses, der sich zurzeit recht dynamisch entwickelt. 

Die hiesige Gesellschaft tut sich mit der Akzeptanz der Flüchtlinge schwer

Für viele der Geflüchteten ist diese Entwicklung grundsätzlich positiv, verbinden sie damit doch die Hoffnung, im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten des ecuadorianischen Arbeitsmarkts legal arbeiten zu können. Allerdings stellt schon die Visumsgebühr von 50$ für viele der Migranten eine hohe Hürde dar. Und bis zu ihrer Akzeptierung durch die ecuadorianische Gesellschaft ist es noch ein weiter Schritt. Ecuadorianer und Venezolaner waren sich schon vor  der Flüchtlingskrise nicht besonders nahe, und unfreundliche Kommentare gegenüber „diesen Flüchtlingen, die entweder auf den Straßen betteln oder uns die Arbeit wegnehmen“ sind hierzulande in allen Schichten gesellschaftsfähig. Eine Bekannte berichtet von einer begabten venezolanischen Schülerin, der als Jahrgangsbester an ihrer staatlichen ecuadorianischen  Schule das Halten der Abiturrede verweigert wurde, denn „sie sei ja nicht von hier“.  Die von Nachbarn bei einem Bier gerne geäußerte Vermutung, die jungen venezolanischen Männer seien überproportional häufig  in Drogen- und sonstige Delikte verwickelt, lässt sich statistisch nicht belegen. 

Immer wieder überrascht die Energie, mit der die geflüchteten Männer und Frauen ihr Schicksal trotz aller Widrigkeiten selbst in die Hand nehmen. Die junge Kellnerin in der Pizzeria, die nach monatelangem Suchen endlich eine Schule für ihren behinderten Sohn gefunden hat. Der fünfundzwanzigjährige Mechaniker, der mit seinen vier Brüdern von einer eigenen Motorradwerkstatt träumt und sich auf dem Weg dahin durch nichts aufhalten lässt. Und ein Mann wie Edison, der zum Abschluss unseres Gesprächs einfach sagt: „Wissen Sie, ich wollte Sie auch schon lange ansprechen, aber ich traute mich nicht. Danke, dass Sie mir zugehört haben!“. 

30. Juni 2023

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Ecuador Leben und Gesellschaft

Ich bin dann mal in Miami

In ihrem Bemühen, das heutige Ecuador zu verstehen, führen sich Europäer meist die koloniale Vergangenheit des Landes vor Augen. Unübersehbar prägt das spanische Erbe weiterhin den Alltag der hier lebenden Menschen, oft gegen ihren Willen. Spanisch bleibt die Sprache des Staates und seiner Schulen (das vor allem von Indigenen als Muttersprache gesprochene Quechua ist als Unterrichtssprache de facto nicht anerkannt). Auf den im spanischen Hacienda-Stil erbauten Landsitzen der alteingesessenen Familien frieren so manche Nachkommen der Eroberer in zugigen Zimmern weiter vor sich hin. Und viele Indigene blicken bis heute einem „Weißen“, den sie automatisch als Teil der herrschenden Elite wahrnehmen, niemals in die Augen, weil der direkte Blick in früheren Zeiten als aufmüpfig galt.

Längst haben die USA Europa als Bezugspunkt und Traumort der lateinamerikanischen Eliten abgelöst

Aber wohl gerade wegen der jahrhundertealten erzwungenen Verbindung zu Europa haben die Vereinigten Staaten seit dem zweiten Weltkrieg den „alten Kontinent“ als Orientierungspunkt und Traumort der hiesigen Eliten abgelöst. In der städtischen Oberschicht ist es gang und gäbe, die Kinder auf eine amerikanische oder zumindest englischsprachige Schule zu schicken, damit das anschließende Studium in den Staaten umso leichter fallen möge. Auch in weniger begüterten Familien finden sich fast immer Verwandte, die zu irgendeinem Zeitpunkt auf die eine oder andere Weise in die USA ausgewandert sind. Der wochenendliche Bummel im amerikanisch inspirierten Einkaufszentrum zählt in Quito, ebenso wie der obligatorische Einkauf im viel zu teuren Supermarkt „MegaMaxi“, zu den Statussymbolen jener wenigen Bürger, die über ein regelmäßiges Einkommen verfügen.

Anlässlich einer Reise in das nur dreieinhalb Flugstunden entfernte Miami wird die ganze Dimension dieser Beziehung konkret. Fünf Direktflüge dorthin gibt es täglich von Guayaquil und Quito aus. Über 50.000 Ecuadorianer leben allein in Florida, rund 750.000 sind es offiziell in den gesamten Vereinigten Staaten; zehn ecuadorianische Konsulate kümmern sich dort um die Belange ihrer Landsleute. Der Mitarbeiter der Autovermietung am Flughafen von Miami entspannt sich sichtlich, als wir vom Englischen ins Spanische wechseln. Wer auf dem Weg vom Flughafen nach Miami Beach die Mautgebühren vermeiden will und deshalb über kleinere Seitenstraßen fährt, fühlt sich optisch Lateinamerika sehr nahe: Die Dächer der niedrigen Häuschen am Straßenrand sind mit Ziegeln nach spanischer Manier gedeckt; neben den Haustüren finden sich die vertrauten Ansammlungen von alten Möbeln, kaputtem Hausrat und Müll. Ein verblichenes Ladenschild preist mit „fiestas de niños“ Zubehör für Kindergeburtstage, an.

Shoppen wie daheim in Quito – aber größer, schicker, hoffentlich billiger

Die teureren Privatschulen Ecuadors verlangen von ihren Abiturientinnen, zur Abschlussfeier nach Opernball-Manier im langen, weißen Kleid zu erscheinen. Was läge da näher, als den Kauf des Festgewands und der passenden Schuhe mit einer Reise nach Miami zu verbinden? „Ich war da schon ewig nicht mehr, aber viele meiner Freundinnen kennen sich bestens aus in den Einkaufszentren von Florida, die wissen genau, was es wo am günstigsten gibt“, erzählte eine Bekannte in Quito kürzlich beim Kaffee. Ein Besuch in der riesigen „Dolphin Mall“ außerhalb Miamis fühlt sich deshalb an wie der im heimischen „Quicentro“: „Diego, ven acá!“, herrscht eine genervte Mutter ihren kleinen Sohn an. „Estoy de compras, te llamo en seguida!“, wehrt ein mit Papiertüten bepackter Mittvierziger den Anruf eines Bekannten auf dem Handy ab.

Natürlich sind zum Einkauf in der abseits des Stadtzentrums gelegenen Mall alle mit eigenem oder gemietetem Auto angereist. Der Preis für eine Gallone bleifreien Benzins liegt mit rund 3,60 Dollar zwar höher als der in Ecuador mit 2,40 Dollar, ist aber gemessen an den amerikanischen Lebenshaltungskosten bescheiden. Und spätestens beim irgendwann fälligen Imbiss wird zwischen Styroporschalen, Plastikbechern und Papierservietten offensichtlich, warum alle individuellen und kollektiven Anstrengungen innerhalb Europas den weltweiten Klimawandel nicht aufhalten werden. Der Hunger ganzer Kontinente nach Teilhabe am Konsum der Industriestaaten ist so überwältigend, dass er sich durch Appelle an die Vernunft kaum sättigen lassen wird. 

Längst orientiert sich die Ästhetik der großen ecuadorianischen Städte am nordamerikanischen Vorbild

Die nordamerikanischen Vorstädte mit ihren gleichförmigen braun-beige gestrichenen Bauten, wo Einfamilienhaus, Burger-Restaurant, Kirche und Einkaufszentrum äußerlich kaum zu unterscheiden sind, prägen auch in den Städten Ecuadors Geschmack, Ästhetik und Einkaufsvorlieben. Die grellgelb bemalten Bordsteinkanten, die grünen Hinweisschilder auf den Autobahnen, alles bekannt von zu Hause. Das Supermarktsortiment der großen US-amerikanischen Ketten hat Einzug in die vergleichbaren Lebensmittelgeschäfte des südlichen Amerikas gehalten, und dasselbe gilt für die Preisgestaltung. Wer nie verstanden hat, warum Toilettenpapier in Ecuador so exorbitant teuer ist, wundert sich nicht mehr, nachdem er im Anschluss an den Besuch von Disney World in  Orlando „zwei Rollen dreilagig“ erstanden hat. Und sehnt sich kurz nach den ecuadorianischen Straßenverkäufern, wenn er im Zentrum von Miami Beach für eine geschnittene Mango sagenhafte zehn Dollar anstelle der gewohnten Dollarmünze auf den Tresen legen soll.

Ob Urlaubsland, Fluchtziel, Ort des Exils – die USA und Miami sind Teil des ecuadorianischen Kosmos‘

Die Sehnsucht ist groß: Über ein Jahr beträgt in Quito zurzeit die Wartezeit auf ein Touristenvisum für die Vereinigten Staaten. Wer weiß, dass er mangels finanzieller Rücklagen keine Einreisegenehmigung erhalten wird, und sich die dafür fällige Gebühr oder gar den Flug ohnehin nicht leisten könnte, versucht es immer häufiger zu Fuß: Allein in den letzten drei Monaten des Jahres 2022 wurden mehr als 35.000 Ecuadorianer bei dem Versuch, illegal in die Vereinigten Staaten einzuwandern, an der mexikanisch-amerikanischen Grenze  aufgegriffen. Angesichts der sich rapide verschlechternden Sicherheitslage in Ecuador und eines Arbeitsmarktes, der fast nur noch informelle Arbeitsverhältnisse kennt, dürfte der Auswanderungsdruck weiter zunehmen. Sollte das im ecuadorianischen Parlament betriebene Verfahren zur Amtsenthebung von Präsident Guillermo Lasso wegen Korruption Erfolg haben, könnte bald wieder ein anderer, typisch lateinamerikanischer Aspekt des USA-Tourismus’ aktuell werden: Immer schon waren Miami und andere größere US-amerikanische Städte beliebte Exilorte ehemaliger hiesiger Regierungsmitglieder oder anderer von Prozessen bedrohter Bürger.

Zwischen Quito und Miami liegen rund 2900 Kilometer Luftlinie. Das ist viel oder wenig, je nach Perspektive und Transportmittel. Die auf Shoppen und Genuss gepolten Wochenend-Touristen werden bei der Ankunft in Florida begrüßt von heimischen Reggetón-Klängen im Flughafenhotel, Salsa in den Bars von Wynwood, und kubanischer Live-Musik in Little Havana. Studenten, Exilanten und Migranten hoffen auf schnelle Integration in das Netzwerk der vielen Landsleute vor Ort. Ob kultureller Bezugspunkt, Stadt der Träume oder Zufluchtsort – Miami ist aus dem ecuadorianischen Kosmos nicht wegzudenken.

15. Januar 2023

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Ecuador Leben und Gesellschaft

„Kollektive Gedächtnisstütze?“ Zum Schutz des Kulturerbes in Ecuador

Es waren Baggerführer, die die Reste der rund 5000 Jahre alten Siedlung entdeckten. Beim Bau einer neuen Straße zwischen Valdivia und San Pedro stießen sie im Jahr 1957 auf zahlreiche Tonscherben. Nur ein Jahr zuvor hatte der Archäologe Emilio Estrada wenige Kilometer entfernt, an der ecuadorianischen Pazifikküste, erste Spuren derselben, heute unter dem Namen „Valdivia“ bekannten Kultur gefunden. Keine großen Tempel, keine Königsgräber – aber riesige Mengen an Gefäßscherben sowie unzählige kleinere und größere Figuren aus Ton und Stein. Heute wird von Fachleuten vermutet, dass es sich bei der Valdivia-Kultur um die älteste des amerikanischen Kontinents handelt.

Was auf diese Entdeckung folgte, charakterisiert der Altertumswissenschaftler Karl Dieter Gartelmann als für Ecuador typische „Wochenendarchäologie“: Jeder, der wollte, kam nun nach Valdivia, sah und grub, wann und soviel es ihm seine Zeit erlaubte. Im besseren Fall erfassten diese Hobbyarchäologen gewissenhaft alle Fundstücke, bewahrten sie in ihrer privaten Sammlung auf, machten sie vielleicht sogar Dritten zugänglich. Im schlechteren boten die Kinder der umliegenden Dörfer interessierten Strandtouristen ihre Fundstücke mit den Worten, „Möchten Sie auch ein Püppchen?“ zum Verkauf an.

Kulturerhalt zwecks Schaffung einer nationalen Identität

Vor dem Hintergrund dieser und ähnlicher Erfahrungen wird auch in Ecuador immer mehr  vom Schutz des Kulturerbes gesprochen. Die unter dem Präsidenten Rafael Correa 2016 erlassene Ley Orgánica de Cultura, sozusagen das „Kulturgrundgesetz“ des Landes, versteht darunter Kulturgüter, die „aufgrund ihrer historischen oder künstlerischen Bedeutung…eine soziale Funktion erfüllen…und als kollektive Gedächtnisstütze bei der Schaffung und Stärkung unserer nationalen Identität dienen“.  Eine sehr weite Definition. Welches aber ist die nationale Identität, die hier geschaffen und gestärkt werden soll? Welches sind die historischen Ereignisse, und welches die Kunstwerke, auf die man sich gemeinsam als Staatsvolk beziehen möchte? In einem Land, dessen Geschichte die wirtschaftliche Elite ganz anders erzählen würde als jene über sechzig Prozent der Bevölkerung, die keiner vertraglich geregelten Arbeit nachgehen? Und wo die bedingungslose Hingabe an die Familie, die Begeisterung über die Schönheit der einheimischen Natur und die Liebe zum hiesigen Essen vielleicht der einzige gemeinsame Nenner sind, auf den sich die Gesellschaft einigen könnte?

Wie viele früher von Kolonialmächten beherrschte Staaten hat Ecuador ein gebrochenes Verhältnis zu seiner Geschichte. Die Auseinandersetzung darüber, wer hier die Geschichtsbücher schreibt, hat sich zwar längst von der internationalen Ebene in die eigene Gesellschaft verlagert. Unstrittig ist glücklicherweise auch seit langem, dass zahlreiche Werke der präkolumbianischen Kunst ebenso einen „außergewöhnlichen universellen Wert“ (so die Definition der UNESCO-Konvention zum Schutz des kulturellen Erbes von 1972) besitzen, wie die von europäischen Vorbildern und Lehrern beeinflussten Gemälde und Skulpturen der „Schule von Quito“ des 17. und 18. Jahrhunderts. Aber der Regierung Rafael Correas ging es in ihrem Gesetz weniger um die Bewahrung von Zeugnissen der Vergangenheit um ihrer selbst willen, sondern ausdrücklich um die Zukunft, um die Schaffung von nationaler Identität.

Alles bewahren, um nichts zu verlieren – Anspruch und Wirklichkeit

Und so entschied man sich dafür, prophylaktisch alles unter staatlichen Schutz zu stellen, was vielleicht einmal als „kollektive Gedächtnisstütze“ dienen könnte. Gemäß dem Gesetz von 2016 sind archäologische Fundstücke automatisch Eigentum des Staates. Jedes Kunstwerk oder Gemälde, welches der gesetzlichen Definition von „Kulturerbe“ entspricht, jedes Dokument, das älter als 50 Jahre alt ist, darf nur mit ausdrücklicher Genehmigung des „Instituto Nacional de Patrimonio Cultural“ INPC verkauft, vererbt, im Ausland ausgestellt werden. Der Staat erklärt sich damit zum Stifter und Hüter kultureller  Identität – aber kann er dieser Rolle auch gerecht werden? Viele Kunsthistoriker im Land zweifeln daran, und erzählen Geschichten wie diese: 

In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts befand sich in der öffentlich verwalteten Casa de la Cultura in Guayaquil eine einzigartige Goldsammlung aus der Zeit der Inka. Schmuckstücke, eine wertvolle Totenmaske. Im Zuge der notwendigen Neugestaltung der Museumsvitrinen sei dieser Schatz eine Zeitlang schlichtweg im Büroschrank der Kuratorin in einem der oberen Stockwerke aufbewahrt worden. Ein Vorgehen, dass niemanden überrascht, der länger in Ecuador lebt. Eines Tages sei ein Brand just in diesem Büro ausgebrochen, und als man die zu einem traurigen Goldklumpen zusammengeschmolzene Sammlung später gewogen habe, sei sie um zwei Kilogramm leichter gewesen als früher. Im Zuge  der polizeilichen Untersuchung des Vorfalls habe sich dann herausgestellt, dass der Pförtner des Gebäudes ein lukratives Geschäft mit dem Verkauf von Gold an einen ihm bekannten Zahnarzt betrieb, das er durch die Brandstiftung habe vertuschen wollen. 

Solche „Anekdoten“ werden in Ecuador zuhauf kolportiert. Es wird von zahllosen Kunstwerken gemunkelt, die sich seit Jahren ungeordnet und ungeschützt in den Magazinen des Hauptsitzes der Casa de la Cultura in Quito befinden. In den historischen Archiven des Landes sieht die Realität trübe aus: Allerorten begegnet der Historiker wild durcheinanderliegenden, teils zerrissenen oder geknickten Dokumenten. Bindungen, die beim Berühren zerfallen, alte Partituren, die immer wieder von Forschenden direkt vor Ort mit der eigenen Kamera abfotografiert werden. Stapel von Akten, die zum Schutz vor dem Smog der Innenstadt schlichtweg in Plastiktüten aufbewahrt werden, den Insekten zur Freude. Nicht zu reden von jenen Dokumenten, die, nun ja, irgendwann einfach nicht mehr aufzufinden sind. Bei der Digitalisierung ihrer Bestände, die zum Schutz der Originale beitragen würde, stehen viele Bibliotheken und insbesondere das Nationalarchiv erst am Anfang. Es fehlen die Mittel, es fehlt die Ausbildung, es fehlt das Personal.

Was wollen wir vergessen, was sollen wir erinnern?

Fehlt vielleicht manchmal auch die Identifizierung mit dem, was da zu bewahren wäre? Dem Komponisten Luis Humberto Salgado, der als erster Ecuadorianer  umfangreiche symphonische Werke schrieb, wurde und wird zuweilen vorgeworfen, er habe nicht nur zu kompliziert, sondern auch zu europäisch, zu „kolonial“ geschrieben. Von einem hiesigen Musikwissenschaftler wird dies als ein Grund dafür gesehen, dass sich die staatliche ecuadorianische Kulturpolitik mit der Anerkennung und Verbreitung von Salgados Werken bis heute schwer tut. Welches ist die Geschichte, deren Zeugnisse es zu bewahren gilt, und wofür? „Bei der Fortbildung junger Museumsmitarbeiter merke ich immer wieder, dass sie meinen, zwischen zwei Geschichten wählen zu müssen“, kommentiert ein Historiker. „Früher galt all das als gut und nachahmenswert, was uns die Spanier hinterlassen haben, und unsere eigene Kultur war nicht von Bedeutung. Heute möchten manche am liebsten alles vergessen machen, was zwischen der Ankunft Francisco Pizarros 1531 und der Schlacht am Pichincha 1822 geschehen ist.“

Die Begegnung einer Bevölkerung mit der eigenen Kunst- und Kulturgeschichte setzt voraus, dass deren Zeugnisse auch der Öffentlichkeit zugänglich sind. „Wenn wir unsere Kulturgüter bewahren, ist das doch kein Selbstzweck! Es geht darum, dass unsere Bevölkerung sie sehen, sich mit ihnen auseinandersetzen kann!“, erklärt derselbe Interviewpartner enthusiastisch den Sinn seiner Arbeit. Aber genau hier stößt der ecuadorianische Staat an seine Grenzen. Zum einen gelingt es ihm nicht, das zu schützen und angemessen auszustellen, was sich bereits in seinem Besitz befindet. Zugleich droht er den privaten Sammlern mit der Quasi-Verstaatlichung ihrer Kollektionen und hindert sie damit effektiv, diese ihrerseits einer breiten Öffentlichkeit zu zeigen. Die Schaffung eines kollektiven kulturhistorischen Gedächtnisses, die das erklärte Ziel der „Ley orgánica“ war, wird dadurch unmöglich gemacht.

Der Staat kann nicht effektiv schützen, die privaten Sammler dürfen es eigentlich nicht

Die eindrucksvollste Sammlung von Valdivia-Skulpturen findet sich heute im privat betriebenen Museo del Alabado direkt neben der Kirche von San Francisco in Quito. Wer das eine oder andere Haus von Angehörigen der wirtschaftlichen und intellektuellen Elite des Landes besucht, kann seine Kenntnis dieser Kultur noch beträchtlich erweitern. In dem von Ehrenamtlichen betreuten kleinen Museum von Valdivia jedoch bleibt es bei der gut gemeinten Aufforderung: „Bitte nichts anfassen!“

21. Februar 2023

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