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Leben und Gesellschaft

Alles verändert sich – Vera Kohn

„Kohn“ steht in schlichten Buchstaben über der Eingangstür des Hauses, das Vera Kohn seit 1952 gemeinsam mit ihrem Mann in Quito bewohnte. Der Architekt Karl Kohn hatte es für seine Familie gebaut und eingerichtet. Oder vielmehr: Er hatte die Räume so gestaltet, dass sie die aus Prag importierten Möbel gewissermaßen einrahmten und zur Geltung brachten. Jedes Detail war durchdacht und von einer für das Quito jener Zeit neuen Modernität. Die Möbel mit klaren Linien und schlichten Oberflächen; die schönen Fußböden aus Holz und farbigem Terrazzo vermitteln Einheit auch dort, wo man einen Raum verlässt und den anderen betritt.

Ein Gang außen um das Gebäude führt in eine andere Welt: Der große, luftige Kellerraum, mit einem schlichten gestreiften Teppich ausgelegt, war das Reich von Vera Kohn. Hier begründete sie gemeinsam mit dem Jesuitenpater Marco Vinicio Rueda das erste Zentrum für Zen-Meditation in Ecuador. „Ich sage immer, dass ich eine buddhistisch-christliche Jüdin bin“, beschreibt sie sich selbst in einem Interview des ecuadorianischen Fernsehens. 

Raum und Möblierung sind eins. Das Wohnzimmer der Villa Kohn in Quito

Zen-Lehrerin, promovierte Psychologin, Schauspielerin, Fotografin, Grande Dame: Vera Kohn ist noch heute eine Legende in Quito. Geboren 1912 im Prag der Habsburgermonarchie als Vera Schiller, wuchs sie im bildungsbürgerlichen deutsch-jüdischen Milieu ihrer Heimatstadt auf. Theater, Oper und Literatur gehörten zum Alltag, Franz Kafka und Max Brod waren nicht nur Namen sondern Teil ihres Lebensumfeldes. Im Jahr 1934 heiratete sie den damals bereits erfolgreichen Architekten Karl Kohn, bezog 1936 ein von ihm erbautes modernes Haus mit großem Garten.

Flucht aus Prag nach Ecuador

Mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in der Tschechoslowakei am 1. Oktober 1938 gab es für die Familie im Land keine Zukunft mehr; über London emigrierte Vera Kohn 1939 mit vielen Familienangehörigen ihres Mannes nach Ecuador, landete nach dreiwöchiger Schiffsreise zu nächtlicher Stunde vor Salinas, eine Szene, die sie in ihrem autobiographischen Buch „Terapia initiática“ von 2006 noch einmal in Erinnerung ruft: „Wohin? Wohin geht man in der völligen Dunkelheit? Eigentlich ist es egal.“ 

Vera zog es in die ecuadorianische Hauptstadt Quito. Dort hoffte sie, schauspielern zu können – eine Leidenschaft, der sie schon als Kind und junge Frau gefrönt hatte. Karl Kohn seinerseits erhielt rasch eine Anstellung als Dozent an der Academia de Bellas Artes, der Kunsthochschule der Stadt; auch als Architekt der bürgerlichen Elite Quitos war er bald ein gefragter Mann. Eines der bekanntesten von ihm gebauten Häuser gehörte den 1935 nach Ecuador emigrierten späteren Stiftern des Konzertsaals von Quito, dem Ehepaar Hans und Gisela Neustätter.

Schauspielerin – oder doch nicht? Auf der Suche nach einem eigenen Leben

Karl Kohns Frau jedoch kümmerte sich zu ihrer Enttäuschung vor allem um Haus und Hof, um ihren Mann und die beiden Töchter Katya und Tanya. Nachdem sie in das neue Haus in der Calle Lizardo Garcia gezogen waren, „verbrachte ich ein Jahr damit, das Gebäude und seine Einrichtung anderen zu zeigen.“ Noch im Krieg allerdings hatte sie begonnen, in den „Deutschen Kammerspielen“ unter der Leitung des ebenfalls emigrierten Regisseurs Karl Löwenberg Theater zu spielen. In der Rolle der Christine in Arthur Schnitzlers „Liebelei“ machte sie 1944 erstmals auf sich aufmerksam – „immer nur Hauptrollen“ habe sie übernommen, konstatiert sie später in einem Dokumentarfilm von Bernd Hetzenauer. Schließlich verfolgte sie in New York tatsächlich eine professionelle Schauspielausbildung, nur um am Ende festzustellen, „dass ich eigentlich keine Schauspielerin bin“.

Es begann eine neue Phase der Dunkelheit auf der Suche nach dem Licht. 1957 reiste Vera Kohn für längere Zeit nach Europa, ohne klare Vorstellung dessen, was sie dort zu finden hoffte. Über einen Zufall erfuhr sie von dem Psychotherapeuten Karlfried Graf Dürckheim, der sich in einem kleinen Ort im Schwarzwald niedergelassen hatte; sie lernte ihn und seine Lebensgefährtin Maria Hippius kennen und verbrachte schließlich drei Jahre als Schülerin der beiden. Bereits im Vorkriegs-Prag und später erneut in Quito hatte Vera ein Psychologiestudium angefangen, es aber nie zu Ende geführt. 

Im dritten Anlauf dann doch ein Psychologiestudium

Die Begegnung mit Dürckheim, der lange in Japan gelebt und sich dort intensiv mit dem Zen-Buddhismus beschäftig hatte, stellte einen Wendepunkt im Leben der Suchenden dar. 1961 kehrte sie nach Quito zurück und begann dort erneut ein Studium der Psychologie, das sie dieses Mal mit der Promotion abschloss. In ihrem Haus und in dem von ihr Mitte der Siebziger Jahre gemeinsam mit Padre Marco Vinicio Rueda gegründeten „Centro de Desarrollo Integral“ (Zentrum für ganzheitliche Entwicklung) in Tumbaco bei Quito behandelte Vera von nun an junge und alte Patienten. Die Meditation spielte im Rahmen ihrer „Initiatischen Therapie“, deren Konzept sie von Dürckheim übernommen hatte, eine wichtige Rolle. 

Filmaufnahmen aus ihren letzten Lebensjahren zeigen die alte Dame einmal in ihrem alten Meditationskeller, einmal in den neuen Räumen des Zentrums – immer in sich ruhend, immer fokussiert. In den Interviews mit Vera Kohn faszinieren ihre Augen: klar, leuchtend, wach. Ein Enkel berichtet, er habe seine Großmutter in hohem Alter einmal spätabends auf dem Hometrainer radelnd gefunden, während sie portugiesische Fernsehnachrichten schaute.  Vera Kohn war an allem interessiert, was um sie herum vorging, und begann in hohem Alter noch, Portugiesisch zu lernen. In Filmaufnahmen sieht man sie an ihrem hundertsten Geburtstag im Jahr 2012 ausgelassen tanzen, im Kreis von Familienmitgliedern, Freunden und Weggefährten.

Dass sich alles verändert, ständig, gehörte für Vera Kohn zum Leben – nicht als Schicksal, sondern als Chance. Das Bild des Lichtes in der Dunkelheit, wie sie es schon am Strand von Salinas wahrnahm, ließ sie bis zuletzt nicht los: „Dieses Licht ist unglaublich, ist unbeschreiblich. Ein unendlich helles Licht.“ Vera Kohn starb am 29. Juni 2012. Ihr Haus sucht ohne sie noch nach einer Zukunft.

08. März 2022

Der Garten des „Centro de Desarollo Integral“ in Tumbaco ist manchen hier Lebenden auch als Ort eines samstäglichen Bio-Markts bekannt. Der Film von Eva Selig „An unknown country“ kann bei YouTube angeschaut werden.

4 Antworten auf „Alles verändert sich – Vera Kohn“

Zwei sehr schöne Beiträge – Gi Neustätter und Vera Krohn. Und welch ein ermutigender Gegensatz zu den seit nun mehr als zehn Tagen anhaltenden täglichen Berichten aus der Ukraine. Das Ermutigende an den beiden Biographien ist, daß auch sie ihren Anfang in einer Zeit hatten, in der Menschenverachtung politisches Handeln dominierte, dies aber letztlich – wenn auch unter sehr großen Opfern – überwunden wurde.

Eine beeindruckende Vita. Ihr wurde nichts geschenkt, sie hat sich alles erarbeitet und nie aufgehört zu suchen . Bedrückend die Erkenntnis, dass die Menschheit aus den beiden Weltkriegen nichts gelernt hat und der dritte womöglich bevorsteht.

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