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Ecuador Leben und Gesellschaft

„Ein wunderschönes, liebenswertes und verrücktes Land“ – Ludwig Bemelmans und Ecuador

Mehrfach besuchte der deutsch-österreichisch-amerikanische Zeichner und Autor Ludwig Bemelmans, bekannt vor allem durch seine „Madeline“-Bilderbücher für Kinder, Ecuador. Von der Hafenstadt Guayaquil aus bereiste er im Jahr 1937 gemeinsam mit Frau und Tochter Barbara drei Monate lang das Land. Er lernte Esmeraldas an der Küste, Baños und das östliche Tiefland, vor allem aber Otavalo im bergigen Norden und die Hauptstadt Quito kennen. Darüber berichtete er in der amerikanischen Wochenzeitschrift „New Yorker“ und in der „New York Times“, und er verfasste im Anschluss an seine Reisen insgesamt drei Bücher.

Der in Wien geborene Bemelmans wuchs nach der Trennung seiner Eltern bei seiner deutschen Mutter in Regensburg auf. Regeln und Autoritäten waren ihm von jeher ein Greuel, und so verließ er die Schule schon mit 14 Jahren ohne Abschluss. Nach einer begonnenen Hotellehre, die angeblich in einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit einem Oberkellner endete, schickte seine Mutter den inzwischen Sechzehnjährigen in die USA. In New York fand er zunächst eine Anstellung als Hilfskellner; nach dem ersten Weltkrieg arbeite er sich zum stellvertretenden Manager des Ritz-Carlton hoch. Seine eigentliche Liebe jedoch galt von jeher dem Zeichnen, so dass er 1929 seine lukrative Stellung kündigte und zunächst mehr schlecht als recht als Illustrator und Autor lebte. 1934 erschien sein erstes Kinderbuch „Hansi“; später begann er auch Romane für Erwachsene zu verfassen.

Ein Buch wie eine Sammlung von Karikaturen – bildhaft und auf den Punkt gebracht

Direkt nach seiner ersten Ecuadorreise 1937 veröffentlichte Bemelmans mit „Quito Express“ ein Bilderbuch, das die unfreiwillige Zugfahrt des kleinen Pedro von Otavalo nach Quito und zurück beschreibt. Das Buch war jedoch in den USA kein Publikumserfolg. In Ecuador erschien es erst vor wenigen Jahren in einer dreisprachigen Ausgabe. Auch „The Donkey Inside“, in dem der Autor 1941 seine Reisen nach Ecuador und in andere lateinamerikanische Staaten in einer Art fantastischem Roman zusammenfasst, ist heute weitgehend vergessen. Zu Unrecht. Zwar mag manches im Tonfall des Autors, insbesondere die Beschreibung der indigenen Bevölkerung, aus heutiger Sicht recht chauvinistisch klingen. Aber der scharfe Beobachter Bemelmans zeichnet zugleich ein liebevolles, nuancenreiches und eindrückliches Bild von Land und Leuten, das seinesgleichen sucht und deswegen auch heute noch eine Lektüre lohnt.

The Donkey Inside – Titelblatt der Londoner Ausgabe von 1947

„Im Inneren des Esels“ ist farbig, bildhaft und oft hemmungslos karikierend. Es berichtet von den reichen Familien der Hafenstadt Guayaquil, die es bis in die Dreißiger des 20. Jahrhunderts häufig vorzogen, in Frankreich zu leben, und nur von Zeit zu Zeit auf den Haciendas ihrer Heimat nach dem Rechten schauten. Von den alteingesessenen Bürgern Quitos, die viel Mühe darauf verwenden, ihre Töchter standesgemäß zu verheiraten. Von den zahlreichen Söhnen eines nicht ganz so vermögenden Landbesitzers, die davon träumen, eines Tages in den USA zu leben. Und von europäischen Glücksrittern und deutschen Auswanderern, die zwischen großer Freiheit und der Sehnsucht nach Ordnung und Gründlichkeit schwanken. 

„Jeden Donnerstag Nachmittag um halb drei haben wir hier eine Revolution“

Bemelmans bewegte sich während seines Ecuadoraufenthalts viel unter Diplomaten und anderen Ausländern. Vor allem diese bekommen im „Inneren des Esels“ ihr Fett weg: Der britische Abenteurer Allan Ferguson, der unermüdlich nach dem Goldschatz des letzten Inka-Herrschers Atahualpa sucht, wird mit den lapidaren Worten kommentiert, „solchen Menschen ist einfach nicht zu helfen“.Vom Botschafter des Deutschen Reiches heißt es mit bitterer Ironie, er sei, „in diesem Land voller Überraschungen“ tatsächlich „ein freundlicher und kultivierter Herr.“ Aber auch die kleine einheimische Elite nimmt Bemelmans gerne aufs Korn: „Hier in Quito haben wir nicht so viel an Unterhaltung zu bieten wie in den großen Städten“, zitiert er einen imaginären früheren Staatspräsidenten. „Hier in Quito müssen Sie ihre Frau lieben; oder Sie gehen nach New York, oder, wenn Sie ganz viel Glück haben, nach Paris.“

Jede der fiktiven Persönlichkeiten des Buchs ist eine Zuspitzung in sich: Der exzentrische Historiker Juan de Palacios charakterisiert sein Heimatland Ecuador mit den Worten: „Geschichte…ist eine Fabel, die von einer Mehrheit als wahr angesehen wird. Bei uns ist es eine blutige, farbenfrohe Fabel – mit Gewalt, Gold, Inkas, Verrat (…) Unsere Archive sind größtenteils unzuverlässig, und unsere Statistiken reine Schätzung (…) Jeden Donnerstag Nachmittag um halb drei haben wir hier eine Revolution“. 

Ein Schelm, wer sich bei der Lektüre an die ecuadorianische Gegenwart erinnert fühlt

Vieles klingt den heute in Ecuador Lebenden nicht unbekannt. Das entspannte Verhältnis vieler Einheimischer zu Terminen und Abfahrtszeiten ist ein wiederkehrendes Thema des Eisenbahnliebhabers Bemelmans: „Nach dem Sonnenstand ist es jetzt halb acht; die Glocken der Kathedrale läuten gerade Dreiviertel sieben, und auf der Bahnhofsuhr ist es zehn Minuten vor sieben. Es gibt eine Sternwarte in Quito, die die richtige Uhrzeit kennt, aber die können wir von hier aus gerade nicht sehen.“ Die Deutsche Schule, 1937 unter enger Kontrolle der Nationalsozialisten, gilt zwar als „die beste Schule des Landes“, aber auf Schulbildung allgemein wird im damaligen Ecuador nicht allzu viel Wert gelegt: „Die Feste aller Heiligen der Katholischen Kirche und diverser lokaler Madonnen, die zahlreichen Feiertage aus Anlass der Unabhängigkeit und wichtiger Schlachten, und die Geburtstage von Sucre und Bolívar sowie des jeweiligen Präsidenten sorgen dafür, dass in Quito immer Festtagsstimmung herrscht, und reduzieren die Zahl der jährlichen Schultage auf 79.“ 

„denn hier habe ich mehr als anderswo die Dinge gefunden, die ich für Südamerika typisch fand“

Ecuador ließ Bemelmans lange nicht los. „Now I lay me down to sleep“, 1943 veröffentlicht, beschreibt die turbulente Reise eines gealterten ecuadorianischen Generals von Biarritz über Casablanca bis zu der heimatlichen Hacienda seiner Familie in Ecuador. Sechs Notizbücher und mehr als einhundert Zeichnungen entstanden auf den Reisen des Autors und Zeichners. „The Donkey Inside ist in gewisser Weise ein Porträt eines Kontinents, aber es spielt in Ecuador, denn hier habe ich mehr als anderswo die Dinge gefunden, die ich für Südamerika typisch fand“ schreibt der Autor im Nachwort zu seinem Buch. „Es ist ein wunderschönes, liebenswertes und verrücktes Land.“

2. September 2022

„The Donkey inside“ lässt sich antiquarisch, wie auch einige andere Romane von Ludwig Bemelmans, im Internet erwerben. Eine deutsche Übersetzung gibt es leider nicht. „Quito Express“ ist in Quito im Buchhandel erhältlich.

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Christkindfiguren und geflügelte Schweine – der Pfarrer und Künstler Tito Heredia

Tito Heredia würde im Publikum nicht auffallen, wenn in einem europäischen Opernhaus Benjamin Brittens „Tod in Venedig“ gegeben wird: Schwarze Brille, beigefarbene Leinenhose, das hellblaue Hemd hängt lässig darüber, Schiebermütze.  Seit acht Jahren ist er Pfarrer der Gemeinde von San Marcos im historischen Zentrum Quitos. Und er ist Künstler, war es schon immer. „Ich wollte die Kunst eigentlich zum Beruf machen. Und dann wurde es doch Theologie. Aber nachdem ich die ersten harten Jahre des Studiums hinter mir hatte, habe ich parallel begonnen, auch Kunst zu studieren.“ Dabei ist es geblieben. „Durch meine Kunst habe ich regelmäßig meine Pfarrgemeinden mitfinanziert. Hier, diese Figur des Jesuskindes („Niño Jesús“) ist seit dreißig Jahren einer meiner Verkaufsschlager. Der jetzige Erzbischof von Quito bestellt zu Weihnachten immer einige davon für seine Kontakte, sogar dem Papst hat er eine geschenkt!“. 

Pfarrer mit einem Faible für Kunst und Geschichte

Im Pfarrhaus hat der Geistliche nicht nur sein Atelier, sondern auch einen eigenen Verkaufsraum eingerichtet. Ihn faszinieren vor allem traditionelle Druck- und Gießtechniken. Für seine Arbeiten benutzt er alte Stempel, selbst gefertigte hölzerne Druckstöcke oder traditionelle ländliche Gussformen aus Ton. Ganz besonderes gern verwendet er auch dekorative Elemente aus Zinnblech, die er nach eigenen Entwürfen in Mexiko herstellen lässt. Damit dekoriert er unter anderem die hölzernen Kreuze, die eines seiner Markenzeichen sind. Sie leuchten in bunten Farben, lila, rosa, grün und rot.  Konventionell ist wenig an Heredia Werken. Eine Serie von Holzschnitten widmet sich den traditionellen Teufelsdarstellungen in unterschiedlichen Regionen Ecuadors. Die tönernen Schweine, die er mithilfe einer aus der Kleinstadt Pujilí stammenden Gussform anfertigt, tragen entgegen der Tradition goldene Engelsflügel. „Ein Käufer hatte mich darum, gebeten, und Sie wissen, Sterbenden und Kunden erfüllt man jeden Wunsch…“

Die Calle Junín, Straße von Künstlern und Intellektuellen

Das Pfarrhaus von San Marcos wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts errichtet, um die Zeit der Unabhängigkeit Ecuadors im Jahr 1822. Die Calle Junín, an deren Ende Haus und Kirche liegen, war bis in die Sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine Wohngegend des wohlhabenden Bürgertums. In den folgenden Jahrzehnten jedoch zogen sich die großbürgerlichen Familien immer mehr aus dem zunehmend als gefährlich geltenden Zentrum Quitos zurück und bauten sich großzügigere Einzelhäuser in den rasch wachsenden Vororten der Stadt. Die historischen Wohnhäuser in der Straße verfielen, bis zu Beginn des neuen Jahrtausends Intellektuelle wie der Sprachforscher Matthias Abram und der frühere Dirigent des nationalen Sinfonieorchesters, Álvaro Manzano, die Calle Junín für sich entdeckten. Dennoch wurden die Bewohner des Viertels im Durchschnitt immer älter, und viele von ihnen überlebten die ersten Monate der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 nicht. „So viele meiner älteren Gemeindemitglieder sind damals gestorben, als es noch keine Impfung gab, es war dramatisch!“, erzählt Tito Heredia, „Mindestens sechs Häuser in der Nachbarschaft stehen jetzt deshalb leer.“

Kunst und Theologie gehen Hand in Hand: Tito Heredia in seinem Atelier

Als Heredia vor acht Jahren sein denkmalgeschütztes Pfarrhaus bezog, war es in einem erbärmlichen Zustand. Mithilfe der städtischen Denkmalschutzbehörde konnte der kunsthistorisch interessierte Pfarrer binnen dreier Jahre die notwendigen Mittel für die Restaurierung beschaffen. Die Arbeiten beaufsichtigte er persönlich und legte selbst Hand an, wo notwendig. Das Haus ist heute ein Schmuckstück. Die hölzernen Fußböden sind nur in Teilen original erhalten, wohl aber die von der Zeit gezeichnete Treppe zum oberen Stockwerk. Von den langen Fluren zweigen die Räume ab wie Klosterzellen. Das Esszimmer ist mit eindrucksvollen Gemälden ausgestattet, unter anderem mit einer für Quito typischen Darstellung des Heiligen Joseph mit dem Jesuskind. Natürlich kam eine solche Einrichtung nicht mit dem Haus: Tito Heredia ist ein fanatischer Sammler. Selbst in der Küche finden sich in jedem Winkel religiöse Kunstwerke unterschiedlicher Provenienz, direkt neben Haushaltsutensilien und einer Schale mit schrumpligen Mandarinen.

Für Kunsthistoriker gibt in San Marcos noch einiges zu entdecken

Auf einem Stuhl neben der Tür liegt das letzte Buch der US-amerikanischen Kunsthistorikern Susan Webster: „Lettered Artists and the Languages of Empire: Painters and the Profession in Early Colonial Quito“. „Susan ist eine gute Freundin, und dieses Buch ist eine wahre Fundgrube, es liefert so viele interessante Fakten! Hier in Ecuador versteht man unter Geschichte ja eigentlich immer nur eine Sammlung von Legenden und Traditionen, es gibt kaum wissenschaftlichen Werke wie dieses, auch nicht zur Kunstgeschichte!“ Auch in der um 1680 errichteten Pfarrkirche San Marcos gibt es für kunsthistorisch Interessierte einiges zu entdecken: Dort findet sich zum Beispiel ein weiterer Joseph in Lebensgröße, mit silberner Krone. Der Altar ist, verglichen mit anderen in der Stadt, dagegen recht schlicht gehalten. Auffallend sind die zwei auf Zinnblech gemalten knienden Engel, präraffaelitisch angehaucht, die ihn zieren. Hinter dem Hochaltar befindet sich ein nicht sichtbarer Vorgängeraltar, der mangels Geld schlicht auf die Wand gemalt worden war. Auch an den übrigen Wänden verstecken sich unter mehreren Farbschichten Bemalungen aus früheren Zeiten, die freizulegen eine Aufgabe für die Zukunft bleibt. 

Jährlich am Karsamstag organisiert der Geistliche in seiner Gemeinde die kleine, aber feine „Prozession der Einsamkeit Mariens“ („Procesión de la Soledad de Maria“): Nach sorgfältig geplanter Choreographie ziehen auffällig geschmackvoll gekleidete Folkloregruppen mit den Gemeindemitgliedern durch die Straßen, weit weg vom lärmenden Trubel der bekannteren Karfreitags-Prozession. Wie lebt es sich mit diesem permanenten ästhetischen Anspruch, zwischen Kunst und Theologie? „Ach wissen Sie, ich gelte ja in Kirchenkreisen so ein bisschen als Verrückter. So lange man mich in Ruhe meine Arbeit machen lässt, bin ich zufrieden.“ Tito Heredia winkt zum Abschied von der Türschwelle, sichert die Haustür zusätzlich mit einer soliden Eisenstange, und verschwindet im Innern seines Refugiums. 

Pfarrkirche und Gemeindehaus San Marcos, Plaza de San Marcos, Ecke Javier Gutierrez/Junín. Der Verkaufsraum ist zu folgenden Zeiten geöffnet: Dienstag bis Freitag von 9 bis 12 und 15 – 17 Uhr. Außerhalb dieser Zeiten ist Pfarrer Tito Heredia per WhatsApp unter 00593 98 535 8069 zu erreichen.

8. Juli 2022

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Ecuador Leben und Gesellschaft

„Unser Motto ist die Tat“ – der Hilfsverein der „Damas Alemanas“

Patricia und Joselyn kichern und sind bester Laune. Die beiden Dreizehnjährigen haben von ihrer Schulleiterin die Erlaubnis bekommen, für eine Stunde die Schule zu schwänzen. Denn die „Damas Alemanas“ sind heute da mit der monatlichen Essenskiste. Obst, Gemüse, Milch, Hülsenfrüchte, Eier. Über zwanzig Kilo, die können nur mit dem Geländewagen bis zu dem an einem steilen Hang gelegenen Häuschen transportiert werden, in dem Patricia mit ihrer neunköpfigen Familie wohnt. Und die „Damas“ kennen den Weg noch nicht. Also setzt sich Patricia hinten ins Auto, und Joselyn gleich mit, denn sie lebt mit Mutter, Großmutter und zwei kleinen Geschwistern nur etwas weiter unten am Berg.

Die „Damas Alemanas“ sind ein kleiner Hilfsverein von rund fünfzig deutschsprachigen Frauen in Ecuadors Hauptstadt Quito, die sich vor allem die Unterstützung von besonders benachteiligten Kindern und Familien zum Ziel gesetzt haben. Ehrenamtliche Hilfsorganisationen von Deutschen haben in Lateinamerika eine lange Tradition: Die „Deutsche Wohltätigkeitsgesellschaft“  in Argentinien beispielsweise blickt auf eine über hundertjährige Geschichte zurück; auch in Bolivien gibt es seit langem die „Deutschen Freiwilligen“, die in vielfältiger Weise das dortige staatliche Kinderkrankenhaus unterstützen. In Ecuador sind es die „Deutschen Damen“.

Solch ein Name scheint aus der Zeit gefallen. Aber in den Sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts waren es in Quito eben die „Damen der besseren Gesellschaft“, die sich zunächst informell zusammenschlossen:  die Ehefrauen des Leiters der Deutschen Schule und des deutschen Botschafters, die Frau des aus Deutschland eingewanderten Firmenbesitzers. In dem vom Großgrundbesitz weniger Familien und Besitzlosigkeit fast aller übrigen geprägten Ecuador, drei Jahre vor der Landreform von 1964, wollten sie vor allem die Not der Kinder lindern helfen. 1978 wurde, auf Initiative der aus dem nationalsozialistischen Deutschland über Italien nach Ecuador emigrierten Ärztin Ilse Grossmann, aus dem losen Grüppchen ein eingetragener Verein. Die Damen unterstützten das erste SOS-Kinderdorf in Ecuador bei der Renovierung eines Hauses, halfen in entlegenen Bergdörfern und an der Küste mit Schulmaterial und Uniformen, kümmerten sich um Kinder mit angeborenen Behinderungen.

Ohne Geld keine Hilfe

Wer helfen will, braucht neben gutem Willen und engagierten Mitgliedern zunächst eines: Geld. Großes Vermögen war in der kleinen deutschen Gemeinschaft aus Emigranten und vorübergehend im Land lebenden Familien jedoch kaum vorhanden. Mit dem zu Ende der Sechziger Jahre einsetzenden Erdöl-Boom aber eröffneten immer mehr deutsche Unternehmen Vertretungen in Quito, die – zuweilen nach intensivem Klinkenputzen – bereit waren, die Projekte der Damas Alemanas zu unterstützen. Und natürlich wurden die Frauen auch den Erwartungen gerecht, welche die ecuadorianische Oberschicht an sie stellte:  Sie backten „diese wunderbaren deutschen Kuchen“ und verkauften sie, insbesondere bei dem jährlichen Weihnachtsbasar, der über die Jahre zu einer festen Institution in Quito und zu einer Haupteinnahmequelle des Vereins wurde. Aber auch Konzerte und sogar ein immer im Mai organisierter Ball waren nicht nur Attraktionen für die bürgerliche Gesellschaft von Quito, sondern eben auch „fundraising events“.

Was die Damen mit dem verdienten Geld taten, wurde in der Öffentlichkeit lange nur am Rande wahrgenommen. „Wir hatten so einen Kaffeeklatschruf“, erinnert sich eines der aktiven Mitglieder, „dabei bin ich vor zwanzig Jahren vor allem beigetreten, um mich hier sozial zu engagieren.“ Die Frauen arbeiteten diesem Ruf entgegen, schufen spezialisierte Arbeitsgruppen für Medizin, Schulwesen, Veranstaltungen, modernisierten ihre Arbeitsabläufe. „Unser Motto ist die Tat“, zitierte eine Broschüre zum dreißigjährigen formellen Bestehen im Jahr 2008 die langjährige Präsidentin des Vereins Beatriz Schlenker. 

Heute entscheidet nicht Herkunft, sondern das Engagement über die Mitgliedschaft

Beatriz Schlenker, aus Kolumbien stammend, hat ihr Herz an den Verein verloren. 1980 kam sie mit ihrem Mann, einem deutsch-schweizerischen Biologen, nach Ecuador, wurde aber erst zwanzig Jahre später Mitglied. „Ich wollte da eigentlich gar nicht mitmachen, ich hatte mit den Kindern und mit der Arbeit – auf ihrem Grundstück leitete sie lange eine Rettungsstation für Wildtiere – genug zu tun.“ Im Jahr 2001 stieß sie dann doch zu den deutschen Frauen. In Vielem steht sie für eine Generation, die eine neue Epoche bei den Damas einleitete. Zunehmend waren unter den damals fast neunzig Mitgliedern damals nicht mehr nur Deutsche, sondern auch Frauen aus anderen Ländern, die über persönliche Bindungen, Arbeit oder Sprache eine Beziehung zu Deutschland hatten. Immer mehr von ihnen standen selbst im Beruf, brachten neue Erfahrungen und Kontakte mit – aber weniger Zeit. Dennoch fanden sich Mitglieder, die wöchentlich für bedürftige Kinder in einer Kirchengemeinde kochten; die in einer Zwergschule nahe dem Wallfahrtsort El Quinche regelmäßig Musikunterricht erteilten, oder immer wieder persönliche Gespräche mit Familien führten, die um finanzielle Unterstützung bei der Behandlung ihrer schwerkranken Kinder gebeten hatten.

In Portoviejo an der Küste beginnt in diesen Tagen das neue Schuljahr. Hefte und Stifte hätten diese drei Geschwister ohne die Damas Alemanas nicht. ©Cristhian Almeida

Mit jeder Generation ändern sich die Frauen, gibt es andere Erwartungen, werden neue Formen der Kommunikation erprobt. Aber die wirtschaftliche Lage breiter Bevölkerungsschichten ist über die Jahre weitgehend unverändert geblieben. Schon nach dem schweren Erdbeben von 2016 sammelte der Verein Erfahrung mit Nothilfe, half schnell und unbürokratisch zahlreichen Erdbebenopfern mit Lebensmittel- und Kleiderspenden. Mit der Corona-Pandemie erreichte diese Form der Arbeit im Frühjahr 2020 eine neue Dimension. Unzählige im informellen Sektor Beschäftigte verloren binnen Wochen ihre Arbeit, mit der Schließung der Schulen über zwei Jahre fiel auch die oft so notwendige Schulspeisung für bedürftige Kinder aus. Dank intensiver Werbung um Spenden in Deutschland verdreifachten sich binnen kürzester Zeit Budget und Projekte der Damas, und so zogen einige der Frauen vorübergehend fast wöchentlich aus, um Lebensmittelkisten zu packen und für deren Verteilung zu sorgen.

Und immer wieder: Der Hunger im Land als größtes Bildungshemmnis

Mittlerweile ist die Pandemie vorbei, aber die Not keineswegs. „Das größte Bildungshemmnis in unserem Land ist der Hunger“, so die Einschätzung vieler im Bildungssektor Beschäftigter. Und deshalb sind die Damas heute im Flecken „El Carmen“, wo Joselyn und Patricia leben. Die Venezolanerin María Jaimes ist als neues Mitglied zum ersten Mal mit dabei, packt Nahrungsmittel in kleinere Kisten um, schleppt sie durch den Matsch den Berg hinauf. Der Geruch ist gewöhnungsbedürftig, am Hang gegenüber schlachten Nachbarn gerade eine Kuh. Aber die beiden Schülerinnen auf Freigang sind hochzuzufrieden, schieben die Kiste zwischen die kaputten Möbel im Schlafzimmer und schließen die Tür vor der Nase der hungrigen Hunde. Und dann geht es zurück, den langen, holprigen Weg bergab bis zur Schule. „Ich weiß nicht, wie sie das machen, aber die beiden Mädchen sind morgens immer pünktlich“, sagt Klassenlehrer Alexander Panchi.

Erst kommt das Essen, dann die Bücher. Viele Schulkinder in Ecuador sind unter- und fehlernährt.

Warum sie sich bei den „Deutschen Damen“ engagiert, frage ich Sandra Biebeler, Schriftführerin des Vereins und Lehrerin an der Deutschen Schule, die mit Mann und zwei kleinen Kindern seit vier Jahren in Ecuador lebt. „Ich habe schon in Deutschland ehrenamtlich gearbeitet. Als wir nach Quito kamen, war mir klar, dass ich in diesem Land nicht nur nehmen kann, sondern auch geben will. Und die Damas sind einerseits Hilfsorganisation, aber sie sind auch Netzwerk – nie hätte ich neben meiner Arbeit sonst in so kurzer Zeit so viele interessante Frauen kennengelernt!“

Die Mitgliedschaft von Männern allerdings ist bisher nicht vorgesehen in den Statuten, über deren Einhaltung das „Ministerium für wirtschaftliche und gesellschaftliche Inklusion“ (MIES) wie bei allen Nichtregierungsorganisationen im Land penibel wacht. Diese Reform anzustoßen und umzusetzen wird wohl die Aufgabe der nächsten Generation von „Damas Alemanas“ sein.

26. Mai 2022

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Ecuador Leben und Gesellschaft

Junge Mütter ohne Ausweg – Kinderschwangerschaften in Ecuador

Schwester Sonia Cevallos wirkt wie die Queen auf Urlaub: kurzer Haarschnitt, Faltenrock, warme Jacke über der weißen Bluse, „sensible shoes“. Schwester Sonia ist die Leiterin des Heimes für minderjährige Mütter „María de Bethlehem“ in Conocoto am Rande von Quito. Resolut öffnet sie das braune Blechtor. „Kaiser, aus dem Weg!“ Kaiser, der Haus- und Hofhund, ist nun allerdings kein Corgie, sondern eher bescheidener Herkunft; schwerfällig trottet er davon. „Kommen Sie herein, die Mädchen warten schon!“

Die elf Bewohnerinnen des Heimes sitzen ordentlich in zwei Reihen sie auf grünen und weißen Plastikstühlen im sonst leeren Aufenthaltsraum. Zwischen 14 und 18 Jahren sind die jungen Mütter alt, das älteste ihrer Kinder ist fünf. Ein siebzehnjähriges Mädchen im leuchtend blauen Pullover nennt auf Nachfrage einsilbig ihren Namen: „Samira“. „Und Dein Sohn?“ „Fabián.“ Ihr Blick erinnert an den des Panthers in Rainer Maria Rilkes Gedicht: So müde geworden, dass er nichts mehr hält. Schon viele Male haben sie diese Situation erlebt: Fremde Menschen kommen für eine Stunde zu einem Besuch und möchten sich in dieser kurzen Zeit ein Bild von Heim und Bewohnerinnen machen. 

Die Täter sind meistens Familienangehörige oder Nachbarn

Dabei haben diese oft noch nicht genug Zeit gehabt, mit ihrem eigenen Leben zu Rande zu kommen. Die jungen Mädchen stammen aus ganz Ecuador. Sie sind in der Regel hier, weil sie Opfer sexuellen Missbrauchs wurden. Die Täter: oft die eigenen Väter oder Onkel, immer Männer aus der unmittelbaren Umgebung. Die Schicksale der Teenagermütter sind individuell, und gleichen sich dennoch auf eine traurige Weise: Immer geht es um Armut, fehlende Familienstrukturen, Vernachlässigung, mangelnde Bildung. Dennoch hatten diese elf Mädchen Glück. Irgendjemand hat die jeweiligen Täter angezeigt, Sozialarbeiter und Gerichte haben dafür gesorgt, dass sie in diesem Heim erst einmal Schutz für sich und ihre Kinder gefunden haben.

In Ecuador ist eine Abtreibung nach Vergewaltigung bis heute strafbar. Ausnahmen gelten allein bei einer geistigen Behinderung der Frau. Gleichzeitig ist die Zahl minderjähriger Mütter die zweithöchste in ganz Lateinamerika. In der Altersgruppe der Zehn- bis Vierzehnjährigen kommt es jährlich zu rund 3000 ungewollten Schwangerschaften, davon 80% als Folge von Vergewaltigungen, meist im engsten Familienkreis. In Ecuador bringen täglich acht Mädchen unter vierzehn Jahren ein Kind zur Welt.

Das Heim der „Schwestern vom Guten Hirten“ – Schutzraum und Begrenzung zugleich…

In dem Heim, das von den „Schwestern vom guten Hirten“ geführt wird, müssen sich die Mütter an ein strenges Regime gewöhnen. Der Tag ist durchstrukturiert zwischen Mahlzeiten, Gebeten, Therapien für Mütter und Kinder. Und dem Schulunterricht, der seit zwei Jahren, seit Beginn der Corona-Pandemie, virtuell stattfindet. Im besseren Fall heißt das Online-Unterricht; in der Regel aber sind es Aufgaben, die von den Schulen per WhatsApp geschickt werden. Am 14. März dieses Jahres haben die staatlichen Schulen Ecuadors zwar endlich wieder ihre Pforten geöffnet. Aber da die Mädchen durch das Erziehungsministerium nach wie vor in den Schulen ihrer jeweiligen Heimatorte eingeschrieben sind, lernen sie weiter online. Verlassen dürfen sie das Heimgelände ohnehin nicht. „Das gestattet die Staatsanwaltschaft nicht. Die Gefahr, dass die Vergewaltiger ihre Opfer aufspüren oder die Mädchen in schlechte Gesellschaft geraten, wäre zu groß“, sagt die Heimleiterin.

Zum Glück steht nach einem Rundgang über das Gelände als nächstes „Zwischenmahlzeit“ auf dem Tagesprogramm. Bei einem Stück Kuchen und einem Getränk beginnen einige der jungen Mütter dann doch zu sprechen, klagen auch einmal vorsichtig über Monotonie und mangelnde Privatsphäre.  „Ich möchte Jura studieren, oder Model werden“, sagt Samira, das Mädchen im blauen Pullover. Auf einmal sind ihre Augen nicht mehr müde, sondern interessiert, wach. „Beides vielleicht?“, schlage ich vor. Sie lächelt. In der Küche spielt eine Mitbewohnerin mit ihrer Tochter. Das kleine Mädchen lacht, läuft und springt durch den Raum: „Die Kleine war gehbehindert und musste lange Krankengymnastik machen, jetzt ist sie fast völlig gesund“, erzählt die betreuende Sozialarbeiterin. 

… aber nur bis Ende April

Die Tage dieses Heimes sind jedoch gezählt. Im Dezember 2021 wurde Sonia Cevallos als Leiterin eingesetzt. Einen Monat später erfuhr sie, dass sie das Haus würde schließen müssen. „Das Grundstück, auf dem unsere Gebäude stehen, wurde von den Jesuiten gestiftet. Fünf Schwestern unseres Ordens leben im Moment hier. Für die Gehälter der verschiedenen Therapeuten und für unsere laufenden Kosten ist aber ausschließlich der Staat zuständig.“  Und um Ecuadors Staatsfinanzen ist es schlecht bestellt. Die Gehaltszahlungen und die Überweisungen für Nahrungsmittel und Unterhalt trafen im vergangenen Jahr mit sechs Monaten Verspätung ein. „Außerdem verlangt der Staat jetzt weitreichende finanzielle Garantien von uns, notfalls sogar die Aufnahme einer Hypothek auf das Grundstück. So können wir auf Dauer nicht weiterarbeiten, und alleine kann der Orden den Unterhalt nicht bestreiten.“ 

Vielen anderen Institutionen geht es genauso. Auf einer Konferenz ecuadorianischer Nichtregierungsorganisationen im Februar 2022 wurde konstatiert, dass zahlreiche Projekte nicht überleben könnten, sollte die Regierung auf ihrer Forderung nach Finanzierungsgarantien beharren. Schwester Sonia muss nun für jedes ihrer Mädchen mit seinem Kind eine individuelle Lösung finden: Ein anderes Heim, die Unterbringung in einer Pflegefamilie oder notfalls bei Verwandten der jungen Mutter. Vor allem aber sollen die Mütter ihre (Online-) Schulausbildung beenden, vielleicht einmal selbst ihren Lebensunterhalt verdienen können. Ein frommer Wunsch, wenn Schulbesuch in Präsenz nicht vorgesehen ist, und in vielen Familien und Institutionen das Geld für Internet-Zugang und digitale Endgeräte fehlt. Für einige der Mädchen dürfte die Schließung des Heims das Ende ihrer ohnehin dürftigen Schulkarriere bedeuten. 

Sollen minderjährige Vergewaltigungsopfer abtreiben dürfen? Nicht nur die Regierung Lasso ist dagegen

Unterdessen debattiert das ecuadorianische Parlament über eine Lockerung des Abtreibungsverbots bei Vergewaltigungen von Minderjährigen. Das Verfassungsgericht hatte im vergangenen April ausdrücklich eine Neuregelung für diese Altersgruppe gefordert. Staatspräsident Lasso hat nun gegen das vom Parlament nach langen Debatten angenommene neue Gesetz ein umfassendes Veto eingelegt. Seinem Alternativentwurf zufolge wäre eine Beendigung der Schwangerschaft auch bei Minderjährigen nur innerhalb der ersten zwölf Wochen möglich. Die Vergewaltigung müsste durch die gesetzlichen Vertreter des Mädchens formell angezeigt oder durch einen behandelnden Arzt schriftlich bestätigt werden. An den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realitäten vor allem auf dem Land gehen solche Forderungen jedoch gänzlich vorbei.

Sollte der Vorschlag Lassos Gesetz werden, blieben junge Schwangere und Mütter in Ecuador vorerst weiter Gefangene der Verhältnisse: Das Sozialministerium verweigert ihnen de facto den Schutzraum außerhalb ihrer Familien, den sie benötigen. Das Erziehungsministerium ermöglicht den Mädchen kaum die Bildung, die Voraussetzung dafür wäre, dass sie für ihr eigenes Leben Verantwortung übernehmen können. Und der Präsident möchte ihnen per Gesetz wieder ebendiese Verantwortung zuschieben. Der resignierte Kommentar von Schwester Sonia: „Man könnte und müsste so viel tun, aber der Staat macht es uns unmöglich.“

24. März 2022

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Alles verändert sich – Vera Kohn

„Kohn“ steht in schlichten Buchstaben über der Eingangstür des Hauses, das Vera Kohn seit 1952 gemeinsam mit ihrem Mann in Quito bewohnte. Der Architekt Karl Kohn hatte es für seine Familie gebaut und eingerichtet. Oder vielmehr: Er hatte die Räume so gestaltet, dass sie die aus Prag importierten Möbel gewissermaßen einrahmten und zur Geltung brachten. Jedes Detail war durchdacht und von einer für das Quito jener Zeit neuen Modernität. Die Möbel mit klaren Linien und schlichten Oberflächen; die schönen Fußböden aus Holz und farbigem Terrazzo vermitteln Einheit auch dort, wo man einen Raum verlässt und den anderen betritt.

Ein Gang außen um das Gebäude führt in eine andere Welt: Der große, luftige Kellerraum, mit einem schlichten gestreiften Teppich ausgelegt, war das Reich von Vera Kohn. Hier begründete sie gemeinsam mit dem Jesuitenpater Marco Vinicio Rueda das erste Zentrum für Zen-Meditation in Ecuador. „Ich sage immer, dass ich eine buddhistisch-christliche Jüdin bin“, beschreibt sie sich selbst in einem Interview des ecuadorianischen Fernsehens. 

Raum und Möblierung sind eins. Das Wohnzimmer der Villa Kohn in Quito

Zen-Lehrerin, promovierte Psychologin, Schauspielerin, Fotografin, Grande Dame: Vera Kohn ist noch heute eine Legende in Quito. Geboren 1912 im Prag der Habsburgermonarchie als Vera Schiller, wuchs sie im bildungsbürgerlichen deutsch-jüdischen Milieu ihrer Heimatstadt auf. Theater, Oper und Literatur gehörten zum Alltag, Franz Kafka und Max Brod waren nicht nur Namen sondern Teil ihres Lebensumfeldes. Im Jahr 1934 heiratete sie den damals bereits erfolgreichen Architekten Karl Kohn, bezog 1936 ein von ihm erbautes modernes Haus mit großem Garten.

Flucht aus Prag nach Ecuador

Mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in der Tschechoslowakei am 1. Oktober 1938 gab es für die Familie im Land keine Zukunft mehr; über London emigrierte Vera Kohn 1939 mit vielen Familienangehörigen ihres Mannes nach Ecuador, landete nach dreiwöchiger Schiffsreise zu nächtlicher Stunde vor Salinas, eine Szene, die sie in ihrem autobiographischen Buch „Terapia initiática“ von 2006 noch einmal in Erinnerung ruft: „Wohin? Wohin geht man in der völligen Dunkelheit? Eigentlich ist es egal.“ 

Vera zog es in die ecuadorianische Hauptstadt Quito. Dort hoffte sie, schauspielern zu können – eine Leidenschaft, der sie schon als Kind und junge Frau gefrönt hatte. Karl Kohn seinerseits erhielt rasch eine Anstellung als Dozent an der Academia de Bellas Artes, der Kunsthochschule der Stadt; auch als Architekt der bürgerlichen Elite Quitos war er bald ein gefragter Mann. Eines der bekanntesten von ihm gebauten Häuser gehörte den 1935 nach Ecuador emigrierten späteren Stiftern des Konzertsaals von Quito, dem Ehepaar Hans und Gisela Neustätter.

Schauspielerin – oder doch nicht? Auf der Suche nach einem eigenen Leben

Karl Kohns Frau jedoch kümmerte sich zu ihrer Enttäuschung vor allem um Haus und Hof, um ihren Mann und die beiden Töchter Katya und Tanya. Nachdem sie in das neue Haus in der Calle Lizardo Garcia gezogen waren, „verbrachte ich ein Jahr damit, das Gebäude und seine Einrichtung anderen zu zeigen.“ Noch im Krieg allerdings hatte sie begonnen, in den „Deutschen Kammerspielen“ unter der Leitung des ebenfalls emigrierten Regisseurs Karl Löwenberg Theater zu spielen. In der Rolle der Christine in Arthur Schnitzlers „Liebelei“ machte sie 1944 erstmals auf sich aufmerksam – „immer nur Hauptrollen“ habe sie übernommen, konstatiert sie später in einem Dokumentarfilm von Bernd Hetzenauer. Schließlich verfolgte sie in New York tatsächlich eine professionelle Schauspielausbildung, nur um am Ende festzustellen, „dass ich eigentlich keine Schauspielerin bin“.

Es begann eine neue Phase der Dunkelheit auf der Suche nach dem Licht. 1957 reiste Vera Kohn für längere Zeit nach Europa, ohne klare Vorstellung dessen, was sie dort zu finden hoffte. Über einen Zufall erfuhr sie von dem Psychotherapeuten Karlfried Graf Dürckheim, der sich in einem kleinen Ort im Schwarzwald niedergelassen hatte; sie lernte ihn und seine Lebensgefährtin Maria Hippius kennen und verbrachte schließlich drei Jahre als Schülerin der beiden. Bereits im Vorkriegs-Prag und später erneut in Quito hatte Vera ein Psychologiestudium angefangen, es aber nie zu Ende geführt. 

Im dritten Anlauf dann doch ein Psychologiestudium

Die Begegnung mit Dürckheim, der lange in Japan gelebt und sich dort intensiv mit dem Zen-Buddhismus beschäftig hatte, stellte einen Wendepunkt im Leben der Suchenden dar. 1961 kehrte sie nach Quito zurück und begann dort erneut ein Studium der Psychologie, das sie dieses Mal mit der Promotion abschloss. In ihrem Haus und in dem von ihr Mitte der Siebziger Jahre gemeinsam mit Padre Marco Vinicio Rueda gegründeten „Centro de Desarrollo Integral“ (Zentrum für ganzheitliche Entwicklung) in Tumbaco bei Quito behandelte Vera von nun an junge und alte Patienten. Die Meditation spielte im Rahmen ihrer „Initiatischen Therapie“, deren Konzept sie von Dürckheim übernommen hatte, eine wichtige Rolle. 

Filmaufnahmen aus ihren letzten Lebensjahren zeigen die alte Dame einmal in ihrem alten Meditationskeller, einmal in den neuen Räumen des Zentrums – immer in sich ruhend, immer fokussiert. In den Interviews mit Vera Kohn faszinieren ihre Augen: klar, leuchtend, wach. Ein Enkel berichtet, er habe seine Großmutter in hohem Alter einmal spätabends auf dem Hometrainer radelnd gefunden, während sie portugiesische Fernsehnachrichten schaute.  Vera Kohn war an allem interessiert, was um sie herum vorging, und begann in hohem Alter noch, Portugiesisch zu lernen. In Filmaufnahmen sieht man sie an ihrem hundertsten Geburtstag im Jahr 2012 ausgelassen tanzen, im Kreis von Familienmitgliedern, Freunden und Weggefährten.

Dass sich alles verändert, ständig, gehörte für Vera Kohn zum Leben – nicht als Schicksal, sondern als Chance. Das Bild des Lichtes in der Dunkelheit, wie sie es schon am Strand von Salinas wahrnahm, ließ sie bis zuletzt nicht los: „Dieses Licht ist unglaublich, ist unbeschreiblich. Ein unendlich helles Licht.“ Vera Kohn starb am 29. Juni 2012. Ihr Haus sucht ohne sie noch nach einer Zukunft.

08. März 2022

Der Garten des „Centro de Desarollo Integral“ in Tumbaco ist manchen hier Lebenden auch als Ort eines samstäglichen Bio-Markts bekannt. Der Film von Eva Selig „An unknown country“ kann bei YouTube angeschaut werden.

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Ecuador Leben und Gesellschaft

Das Guggenheim von Coca

Acht Uhr früh im Zentrum der kleinen Stadt Coca im östlichen Tiefland Ecuadors. Vor dem einstigen Ölarbeiterhotel Auca tropft Wasser vom schmutzigen Vordach. Das D’Gisell gegenüber ist eigentlich ein Laden für billige Kleider; von dort schallen schon jetzt laute Milonga-Klänge über die staubige Straße. Der Schuhverkäufer einige Meter weiter baut seinen improvisierten Stand auf, holt die Maske aus der Tasche. Coca ist heiß, laut und hässlich. Aus der Notwendigkeit geboren mit dem Beginn des ecuadorianischen Erdölbooms in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Unvermeidliche Durchgangsstation der Touristen auf dem Weg in die Artenvielfalt des Regenwaldes. 

Und doch gibt es wenige Schritte weiter, am Ufer des Rio Napo, ein ganz anderes Coca zu entdecken. Das „Museo Arqueológico y Centro Cultural de Orellana“ (MACCO) hat sich seit seiner Eröffnung 2016 zu einem Zentrum für Kultur und Begegnung entwickelt. Wer sich der von den Flüssen Napo, Coca und Putumayo umschlungenen  Stadt vom Wasser aus nähert, kann die elegante dreistöckige Konstruktion aus Holz, Metall und Beton nicht übersehen. Das MACCO beherbergt rund 300 prächtige Begräbnisurnen und Gebrauchsgefäße des Volkes der Omagua. Die Omagua lebten bis zur Kolonisierung Ecuadors durch die Spanier im 16. Jahrhundert in größerer Zahl in der Region der Flüsse Coca, Napo und Amazonas. Ihr Hauptsiedlungsgebiet lag allerdings immer im Gebiet des heutigen Brasilien und Peru.

Vor dem Museum steht eine Statue des Mannes, der 1541 als erster Europäer mit den Omagua in Kontakt kam: Francisco de Orellana (1511-1546), der auf der Suche nach dem sagenhaften „El Dorado„, auch „Zimtland“ (Pais de la Canela) genannt, den Coca, den Napo und den Amazonas bis zu seiner Mündung bereiste.  Von seiner zweiten Expedition dorthin kehrte er nicht mehr zurück. Fans von „Indiana Jones“ mögen sich an dessen viertes Abenteuer erinnern, das den Protagonisten in das Amazonas-Tiefland und zum (fiktiven) Grab Orellanas führt. Die heutige Stadt Coca, deren Anfänge auf eine von Kapuzinermönchen 1953 begründete Missionsstation zurückgehen, heißt heute offiziell  „Puerto de Francisco de Orellana“.

Ein zeitgenössischer Chronist berichtet von der ersten Begegnung der Männer Orellanas mit den Omagua am Rio Coca und hebt dabei die aus seiner Sicht überraschende Kultiviertheit dieses Volkes hervor: Die Bevölkerung sei „sehr sauber und freundlich“, die Männer trügen zuweilen goldene Brustbehänge, die Frauen goldene Ohrringe, auch von Nasen- und Lippenschmuck aus Gold wird gesprochen. Die Menschen lebten in Häusern, seien geschickte Kanufahrer und verfügten über Waffen. Spätere Reisende beschreiben die typische abgeflachten Stirn der Omagua und ihr Schönheitsideal des „Mondgesichts“, dem sie durch gezielte Manipulation des Schädels in jungen Jahren näher zu kommen versuchten.

Das Volk pflegte einen besonderen Totenkult. Die Verstorbenen wurden zunächst begraben, bis sie verwest waren, was in der Hitze und Feuchtigkeit des Regenwaldes schnell geschah; anschließend wurden die Knochen exhumiert, gereinigt und in einer Urne in Menschengestalt aufbewahrt, die nach einer gewissen Zeit erneut begraben wurde. In den Vitrinen des MACCO sind diese fein gearbeiteten, detailliert gestalteten Urnen zu bewundern: Rumpf und Gliedmaßen bilden jeweils das Gefäß, der Kopf mit dem Mondgesicht den Deckel. Ein anderer Schwerpunkt sind die buntfarbigen Gebrauchsgefäße verschiedener Größe; ihre wellenförmigen, verschlungenen Muster erinnern an Wasser und die Flusslandschaft, die den Lebensraum der Omagua darstellte.

Mit Liebe zum Detail: Graburne der Omagua in Form einer weiblichen Figur

Schon bald nach der Ankunft der Spanier verschwanden die meisten Angehörigen dieses Volkes aus der Gegend am Zusammenfluss von Coca und Napo. Der Bonner Völkerkundler Udo Oberem vermutete 1967, dass es auf dem Gebiete des heutigen Ecuador verschiedene Untergruppen der Omagua gab, die sich im Laufe der Jahrhunderte immer weiter nach Süden und Osten bewegten und allmählich auflösten. In Brasilien und Peru gibt es noch heute vereinzelt Angehörige dieser Volksgruppe. Die letzten Omagua in Ecuador lebten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Nähe des Rio Tiputíni, eines Nebenflusses des Napo. Von dort stammen auch die beiden jüngeren, schlichten Urnen im oberen Stockwerk des MACCO, die erst vor wenigen Jahren entdeckt wurden. 

1999 war ein Teil dieser Sammlung in einer größeren Ausstellung in Quito zu sehen gewesen. Erstmals erfuhr eine breitere Öffentlichkeit, dass es im „Oriente“, dem niemals wirklich ernst genommenen östlichen Tiefland Ecuadors, eine eigene kulturelle Geschichte gab, die es zu schätzen und zu dokumentieren galt. Schon 1975 hatten die Kapuzinermönche in Pompeya auf der Insel Lunchi ein kleines Forschungszentrum mit Museum gegründet. Dessen Sammlung diente nun als Grundstock für das „Guggenheim von Coca“, von dem nicht nur der Sammler und Kurator der Ausstellung Iván Cruz geträumt hatte. Aber das neue Museum sollte noch viel mehr sein:

„Das MACCO ist ein Symbol für die Wertschätzung der indigenen Kultur und für indigenes Selbstbewusstsein; es ist ein Wahrzeichen der Stadt geworden“, sagt Milagros Aguirre, Journalistin und Mitbegründerin des Museums. Sie selbst hat zwölf Jahre hier gelebt. „Das Museum hat Coca von Grund auf verändert. Als ich hier ankam, war dies eine Stadt von Ölarbeitern, sonst nichts. Es gab keinen Ort zum Spazierengehen, nicht einmal zum Eis essen. Viele Leute haben uns für verrückt erklärt, weil wir hier „Kultur“ vermitteln wollten“. 

Heute wird der Veranstaltungsraum des Museums regelmäßig für Vorträge oder als Kinosaal genutzt. In einem Raum für Wechselausstellungen sind Werke lokaler Künstler zu besichtigen. Mal- und Schreibwettbewerbe laden die Bevölkerung zum Mitmachen ein. Und die kleine Bibliothek im ersten Stock ist ein riesiger Erfolg: Vor allem Schulkinder kommen in großer Zahl, um hier unbehelligt von lärmenden Geschwistern ihre Hausaufgaben zu machen oder, in den fast zwei Jahren der pandemiebedingten Schulschließungen, das Internet zu nutzen. „Wir mussten zusätzliche Tische in den Flur stellen, so groß war die Nachfrage“, sagt Milagros Aguirre.

Am Abend flanieren die 45.000 Einwohner des Städtchens nicht mehr nur am Malecón, der Uferpromenade. Die Architekten des MACCO gaben der Stadt 2013 auch einen zentralen Platz, der von der Bevölkerung angenommen wird, als habe es ihn schon immer gegeben. Coca ist immer noch heiß, die Fastfood-Restaurants laden nicht zum Verweilen ein, und der kitschig geschmückte  Plastikweihnachtsbaum am Malecón ist längst von der Sonne ausgeblichen. Aber auf einmal hat der Ort nicht nur eines, sondern viele Gesichter.

07. Januar 2022

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Pragmatismus gegen den Mangel: Rückkehr in die Schule

Früh am Samstagmorgen in Checa, in der staatlichen Schule „Tres de Diciembre“.  Ein Dutzend Eltern in Gummistiefeln hackt vor einem Klassenraum die Grasnarbe auf. Es mögen etwa 25 Quadratmeter Boden sein, die heute umgegraben werden. Schulleiterin Rocio Hidalgo ist seit sieben Uhr vor Ort. „Wir müssen diesen Klassenraum vergrößern, sonst reicht der Platz nicht – nicht jetzt nach der Pandemie, wo immer mehr Kinder in die Schule zurückkommen.“ Eine zweite Gruppe ist mit dem Schneiden des Rasens beschäftigt, die laut lärmenden Rasenmäher haben wiederum andere Eltern für den Tag zur Verfügung gestellt.

Rund 1600 Schüler sind eingeschrieben an dieser Schule, die Kindergarten, Grundschule und Sekundarstufe umfasst. „Unsere Schule ist attraktiv, weil wir auch ein Fachabitur in den Bereichen Hotelwesen und Unterhaltungselektronik anbieten. Da kommen die Jugendlichen teilweise von weit her, in jeder Klasse sind rund vierzig Schüler.“ Das Schulgelände ist groß und grau, der Putz bröckelt an vielen Stellen, die sauberen Toiletten wirken rustikal. Für den Unterhalt gab es in den anderthalb Jahren, die die Schule wegen Corona geschlossen war, vom Staat kein Geld. Die jetzt vorgeschriebenen zusätzlichen Waschbecken auf dem Schulhof, die das regelmäßige Händewaschen ermöglichen sollen, wurden von der Schulleiterin durch das Sammeln von Altpapier und Plastikflaschen finanziert.

Wer keinen Internetzugang hat, kehrt schneller in die Schule zurück

Checa liegt nur eine Dreiviertelstunde von der ecuadorianischen Hauptstadt Quito entfernt in einer schon ländlichen Gegend. Es gibt den üblichen begrünten Platz im Ortszentrum, eine Hauptstraße, kleine Läden, und hinter einem rostigen Tor die riesige Schule. Über 60% aller Schüler hier gelten nach ecuadorianischen Maßstäben als arm. Etwa die Hälfte aller Familien verfügt über keinen Zugang zum Internet. In der Pandemie, als der Unterricht ausschließlich digital erfolgen konnte und Hausaufgaben per WhatsApp verteilt und zurückgeschickt wurden, ein großes Problem. Deshalb besuchen die Kinder dieser besonders armen Familien bereits zu 90% wieder den Präsenzunterricht. Bei den Familien mit Internetzugang über Handy oder Computer ist es etwas mehr als die Hälfte, Tendenz steigend.

Die Klassen 10-12 der Fachoberschule sind die einzigen, die bereits wieder täglich in die Schule kommen dürfen. Alle anderen erhalten nur dreimal wöchentlich Unterricht – wenn es die Eltern denn erlauben. Denn nach den staatlichen Vorgaben darf niemand darf zum physischen Schulbesuch gezwungen werden. Die Angst vor Ansteckung ist noch immer weit verbreitet. Dabei sind in der Provinz Pichincha, in der Checa liegt, rund 83% der Über-Zwölfjährigen geimpft. In dieser Woche erhalten alle Schüler zwischen fünf und zwölf Jahren ebenfalls ihre zweite Impfung – klassenweise und im Zweifelsfall ohne Ausnahme. Ab dem Februar 2022 hat das Schulministerium die vollständige Rückkehr aller Kinder in den Unterricht vorgesehen.

Groß ist die wirtschaftliche Not. Zwar ist der Schulbesuch formal gesehen kostenlos, ist die Pflicht zum Tragen der Schuluniform zurzeit ausgesetzt, sollen in diesem Jahr möglichst keine neuen Schulbücher angeschafft werden. Aber bereits der Transport von den oft weit entfernt liegenden Dörfern und die angemessene Ernährung der Schulkinder kostet Geld, über das viele Familien in der Wirtschaftskrise nicht mehr verfügen. Die sogenannten Schulspeisung erreicht sie in diesen Zeiten nur tröpfelnd: Alle zwei bis drei Monate gibt es ein paar Pakete mit Keksen, gesüßter Milch und zuckerhaltigen Säften, die allenfalls als Snack durchgehen können.

Wer nicht isst, kann auch nicht lernen

Sechs Familien mit kleinen Schulkindern warten deshalb an diesem Morgen geduldig auf dem Schulhof. Die „Damas Alemanas“, ein ehrenamtlicher Hilfsverein aus Quito, haben die Übergabe einer monatlichen Lebensmittelspende angekündigt. Schwere Kartons mit Reis, Hülsenfrüchten, Kartoffeln, Tomaten und Obst werden ausgepackt. „Eure Kinder erhalten diese Unterstützung, damit sie genug und gesund essen. Eure Verpflichtung als Eltern ist es, dafür zu sorgen, dass die Kinder regelmäßig in die Schule kommen und so gut lernen, wie sie es eben können!, erklärt Rocio Hidalgo der schweigend lauschenden Gruppe. 

Die Geschichten der Familien sind so eindrücklich wie vielfältig. Die Mutter des achtjährigen Paolo (Namen geändert) weint, als sie die Essenskiste entgegennimmt; sie hat mehrere Kinder, ist alleinerziehend und ohne Arbeit. Die sechsjährige Adriana kommt mit ihrem Großvater – der Vater ist in der Nacht davor bei einem Messerangriff schwer verletzt worden. Miguel lebt mit seinen sieben Geschwistern in einem baufälligen Häuschen am Dorfrand.

Die Familien brauchen die Schule, die Schule die Familien

Schulen wie die „Unidad Educativa Tres de Diciembre“ sind für die Kinder und ihre Familien Lernort und Sozialzentrum zugleich. Durch den Präsenzunterricht erhält der Tag für die Schüler wieder eine Struktur; die Klassenlehrer andererseits wissen genau, welche ihrer Schützlinge besondere Nöte haben. Auch die Schule braucht die Eltern: Malen, mauern, mähen, Altpapier verkaufen – die Liste der Aufgaben ließe sich lange fortschreiben. Ohne eine aktive Schulleitung aber läuft nichts: „Wir waren die erste Schule im Bezirk, die wieder Präsenzunterricht angeboten hat. Man muss diese Dinge wollen und seine Pläne selbst umsetzen. Auf den Staat können wir hier nicht warten.“ 

14. Dezember 2021

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Kirche, Kinder, Küche – live

Zachäus der Zöllner heißt eigentlich Philip, ist neun Jahre alt und noch klein. Mangels Maulbeerbaum steht er auf einer Leiter, um den großen Jesus besser zu sehen. Das Volk schreit „Jesus kommt“ und „Halleluja“, die Kinder des Zöllners zupfen ihrer Mutter an der imaginären Schürze, und die Gemeinde schmunzelt. Endlich wieder Gottesdienst in der Gemeinschaft, mit Großeltern, kleinen Geschwistern, und ja: sogar mit den Hunden. Auf einer Finca in der „Mitte der Welt“, in „Mitad del Mundo“ nördlich der ecuadorianischen Hauptstadt Quito.

Seit im März 2020 alle Kirchen des Landes schlossen, hat sich die deutsche evangelische Gemeinde in Ecuador fast nur noch online getroffen. Im überschaubaren Kreis derer, die auch nach anderthalb Jahren noch die Geduld für den kühlen, flachen Bildschirm hatten. Zwar boten die Zoom- Gottesdienste neue Möglichkeiten: Auf einmal konnten Gemeindemitglieder aus der Hafenstadt Guayaquil und aus Quito gemeinsam eine Predigt hören und Fürbitten halten. Aber das Gemeindeleben fiel der virtuellen Barriere weitgehend zum Opfer; Kinder und Jugendliche kamen auf dem Bildschirm gerade noch einmal zu Heiligabend vor. 

Einen Monat nach der Ankunft des Pfarrers kam der Lockdown

Und nun steht Pfarrer Walter Baßler vor dem improvisierten, von einem Wellblechdach geschützten Altar und teilt das Abendmahl aus, an Erwachsene und Kinder. Die Hunde schauen zu. Wenn man so will, ist Baßler ein Corona-Opfer. Am 01. Februar 2020 landete er mit seiner Frau Susanne in Quito, um dort für einige Monate als von der EKD geschickter „Ruhestandspfarrer“ in der deutschen Gemeinde auszuhelfen. Die 1957 gegründete „Evangelisch- lutherische Kirche deutscher Sprache“ (IELE) hatte da schon lange keinen regulären entsandten Geistlichen mehr; die vierzehntäglich stattfindenden Gottesdienste wurden mit viel Engagement von zu Prädikanten fortgebildeten Gemeindemitgliedern gehalten. 

Dabei verfügt die deutsche Gemeinde über ein eigenes Grundstück, mit der 1958 erbauten Kirche, Pfarrhaus, den ein paar Jahre später errichteten Gemeinderäumen und einem großem Garten. Das großzügige Gelände steht auch der ecuadorianischen lutherischen Gemeinde und den amerikanischen Anglikanern für ihre Gottesdienste zur Verfügung. Das Ehepaar Baßler sollte Haus und Garten gut kennenlernen, denn einen Monat nach ihrer Ankunft kam Corona, und damit der strenge Lockdown. Nur noch zum Einkaufen von Lebensmitteln durfte das Haus verlassen werden. Flüge nach Europa gab es über Monate nicht mehr. 

Walter Baßler in Aktion © Christoph Hirtz

Gemeindeaufbau über Zoom und Handy

Aber das Pfarrerehepaar ließ sich nicht entmutigen. Beschloss, erst einmal in Quito zu bleiben. Knüpfte über Handy und Computer Kontakte. Hackte tagelang Holz, nachdem ein großer Baum im Pfarrgarten umgestürzt war. Organisierte, sobald das wieder möglich war, die technische Ausstattung für die Zoom-Gottesdienste. Und begann, unterstützt von der EKD, mit dem seit langem erhofften Wiederaufbau der Kirche „an Leib und Seele“. Nicht nur wurden umfangreiche Renovierungsarbeiten an Pfarrhaus und -garten durchgeführt, auch in Kirchenvorstand und Gemeindeleitung gab es mit der Zeit zahlreiche neue Gesichter. 

„Wir wollen jetzt einmal im Monate einen Gottesdienst im Freien für die ganze Familie anbieten“, kündigt Jens Kläne, der neue Verwaltungschef der Gemeinde an. „Es gibt noch einige bürokratische Hemmnisse, die uns daran hindern, den eigentlichen Kirchenraum wieder zu nutzen“, erklärt Anke Naumann, die Vorsitzende des Kirchenvorstandes. „Aber wir finden schon eine Lösung; wir haben ja den Pfarrgarten, in dem wir Gottesdienst feiern können, und auch über Weihnachten haben wir uns bereits Gedanken gemacht.“ 

Gottesdienst im Freien: In Quito zum Glück immer eine Option

Dabei erwähnt sie nicht, dass natürlich auch das Geld immer knapp ist in einer Gemeinde, die von den Spenden ihrer Mitglieder leben muss, und von den Kollekten, die anderthalb Jahre lang faktisch ausblieben. Freiluftgottesdienst – in Quito und Umgebung fast an jedem Sonntagvormittag eine Option, denn der tägliche heftige Regenguss ereilt die Stadt meist erst am Nachmittag. Und so toben die Scharen blonder Kinder, die eben noch nach Regieanweisung in der Predigt Jesus zugejubelt haben, jetzt wild durch den Garten. Die Bratwürste brutzeln auf dem Grill, und irgendwo hat einer der Jünger zur Gitarre gegriffen. Die Tischgesellschaft singt entspannt mit. Wir wissen jetzt, was uns gefehlt hat im letzten Jahr. 

27. Oktober 2021

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Neues Schuljahr in Ecuador: Kaum Schule, keine Zukunft

„Wir beginnen mit dem Unterricht im September 100% digital; sobald wie möglich wollen wir diejenigen Schüler, die keinen Zugang zum Internet haben, in die Schule holen. Aber solange wir hier kein fließendes Wasser haben, geben uns die Behörden nicht die Erlaubnis“, erzählt der Lehrer einer unweit der Stadt Portoviejo gelegenen staatlichen Schule mit rund 900 Kindern. „Wir haben schon ein Waschbecken am Eingang installiert,  jetzt müssen wir noch die Beschilderung planen, dann können wir die Genehmigung zur Öffnung beantragen“, erklärt der Leiter einer kleinen Grundschule in den Bergen bei Quito. Zum Ende der Sommerferien in Ecuador schauen Lehrer und Eltern dem Schulbeginn mit Hoffnung und Skepsis entgegen. 

Während in Europa das Schuljahr trotz zum Teil steigender Inzidenzen vergleichsweise normal begonnen hat, sind weite Teile Lateinamerikas und der Karibik von der Rückkehr zur schulischen Normalität noch weit entfernt. Seit im März 2020 alle Schulen des Kontinents (mit Ausnahme Nicaraguas) geschlossen wurden, gab es zwar in einzelnen Ländern vorsichtige Versuche, unter strengen Auflagen wieder Präsenzunterricht zuzulassen. Im Durchschnitt jedoch versäumte ein Kind auf diesem Kontinent bis zum 30. Juni 2021 bereits 154 Schultage – mehr als in jeder anderen Weltregion. 

Fast fünfzig Prozent sind doppelt geimpft, aber die meisten Schulen öffnen nicht

Seitdem hat sich das Bild differenziert. Während das kleine Uruguay mit einer Impfquote von 72,% seine Schulen schnell wieder öffnete, ist in Peru (24%) und Venezuela (21,7%) bisher kein Datum für eine Rückkehr der Schulkinder in Sicht. In Ecuador hat die Ende Mai angetretene Regierung von Guillermo Lasso offiziell die Rückkehr zur Präsenzschule als Ziel bekanntgegeben und jenen Schulen, die bereits über ein genehmigtes Hygienekonzept verfügten, die Öffnung mit bis zu 30% ihrer Schülerzahl gestattet. Mittlerweile haben im Landesdurchschnitt fünfzig Prozent der Bevölkerung beide Impfungen gegen COVID erhalten; in der Hauptstadt Quito und der sie umgebenden Provinz Pichincha sind es fast achtzig Prozent. 

Tatsächlich hat jedoch zum 1. September, wenn im Hochland und im Amazonasgebiet das neue Schuljahr beginnt, nur rund ein Fünftel aller Schulen im Land eine Genehmigung zur Öffnung beantragt und erhalten. Bei vielen dieser Schulen handelt es sich um Zwergschulen in entlegenen ländlichen Gegenden, mit sehr geringen Schülerzahlen. So werden deshalb nur wenig mehr als 200.000 von rund viereinhalb Millionen ecuadorianischen Schulkindern ab September tatsächlich wieder Unterricht in einem Klassenraum haben. Kindergärten und Vorschulen bleiben weiterhin geschlossen.

Die Angst vor einer Ansteckung von Kindern ist übergroß

Dass die Rückkehr zur Präsenzschule in fast ganz Lateinamerika so schleppend vorangeht, liegt an mehreren Faktoren. Die hiesigen Eliten, denen die Regierungsmitglieder in der Regel angehören, konnten mit Homeoffice und Homeschooling gut leben: Ihre Kinder gehen auf gut ausgestattete Privatschulen, die zu Beginn der Pandemie schnell auf zuverlässigen, modernen und akademisch durchaus anspruchsvollen Online-Unterricht umstellten. Dass beispielsweise in Ecuador rund die Hälfte aller Kinder anderthalb Jahre lang überhaupt keinen Zugang zu digitalem Unterricht hatte, und die große Mehrheit der übrigen mehr schlecht als recht per WhatsApp betreut wurde, spielte in der Beurteilung der Krise durch die Eliten kaum eine Rolle. Viele dieser Familien sehen bis heute keinerlei Grund, weshalb ihre Kinder jemals wieder physisch eine Schule betreten sollten.

Dazu kommt, dass lateinamerikanische Eltern ihre Kinder, wenn die ökonomischen Verhältnisse dies erlauben, sehr behütet erziehen. Die Angst davor, dass dem Kind etwas geschehen könne, ist insbesondere in der Mittel- und Oberschicht unendlich. So halten sich hartnäckig auch in gebildeten Kreisen Gerüchte, denen zufolge neben den älteren Menschen besonders die Kinder durch Corona gefährdet und regelmäßig auf den Intensivstationen zu finden seien. Dass die Sterblichkeit in Ecuador inzwischen auf einem niedrigerem Niveau als dem vor Beginn der Pandemie angekommen ist, wird von den Medien kaum kommuniziert. 

Zahlreiche bürokratische Hürden verhindern Präsenzunterricht

Am Ende aber ist es vor allem die staatliche Bürokratie, die dazu führt, dass Millionen von Kindern in Lateinamerika der Aufstieg durch Bildung verwehrt bleiben wird: „Nächstes Jahr im Februar werden meine Kinder vielleicht wieder in die Schule gehen, hat uns die Schulleitung gestern gesagt“, berichtet Amalia, eine Mutter von zwei Kindern. Jede einzelne der 3.000 privaten und 14.000 staatlichen Schulen im Land muss einen Antrag auf Wiederöffnung stellen; jede dieser Schulen wird von Mitarbeitern des Schulministeriums persönlich geprüft; jedes Kind, das wieder in seine Schule möchte, muss dies einzeln beim Ministerium beantragen. Jede Schule ist verpflichtet,  parallel zum Präsenzunterricht eine virtuelle Variante anzubieten, solange sich nicht 90% der Eltern für eine Rückkehr ausgesprochen haben – so bestätigte es die ecuadorianische Schulministerin Maria Brown unlängst in einem Interview.

Das überfordert nicht nur die schlecht ausgestatteten staatlichen Institutionen: „Es ist ganz schön heftig mit dem hybriden Unterricht, denn da habe ich immer gleichzeitig 12 Kinder online und sechs Kinder präsent, und es ist eben Schule, und da passieren Sachen: Ein Kind ist hingefallen und bricht sich den Arm, ein anderes muss sich übergeben, und da müssen die, die zu Hause an den Bildschirmen sitzen, eben warten“, erzählt die Lehrerin einer privaten Grundschule. 

Eine Generation verliert die Hoffnung auf Aufstieg durch Bildung

Hunger und Gewalt haben im vergangenen Jahr in den ärmeren Haushalten Ecuadors messbar  zugenommen. In den vielen kleinen Küstenorten, wo es jetzt erstmal seit über einem Jahr wieder ein wenig Tourismus gibt, müssen die Eltern dringend arbeiten gehen, um überhaupt wieder Geld ins Haus zu bringen – dann passt die Neunjährige auf den vierjährigen Bruder auf, während die Mutter am Strand Eis verkauft. Es wird gefürchtet, dass bis zu 25% dieser Kinder nicht wieder in das Schulsystem zurückkehren werden. 

Das Kinderhilfswerk UNICEF fordert seit rund einem Jahr eine kontrollierte, aber zügige Öffnung der Schulen: „Wir können nicht warten, bis die Infektionsrate bei Null ist….Wir können nicht warten, bis alle Lehrer und Schüler geimpft sind…Wenn wir die Schulen geschlossen halten, nehmen wir unseren Kindern ihre Zukunft.“

31. August 2021

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Regierungslose, schreckliche Zeit: Warten auf Guillermo Lasso

Am 24. Mai wird Guillermo Lasso als Präsident Ecuadors in sein Amt eingeführt. Damit, so hoffen es viele, enden die gut anderthalb Jahre, in denen die scheidende Regierung von Lenin Moreno sich immer weiter in Korruption und Bedeutungslosigkeit verlor. Seit dem 21. Mai ist auch der zur Pandemie-Bekämpfung verhängte Ausnahmezustand beendet, und in der Bevölkerung macht sich angesichts eines langen Wochenendes ohne nennenswerte Restriktionen Karnevalsstimmung breit. Die Autos sind für den Wochenendausflug gepackt, Restaurants und Innenstädte voll von Menschen, aus den Gärten der Vorstädte schallt Musik.

Der neuen Regierungsmannschaft allerdings dürfte kaum nach Party zumute sein, denn die vor ihr liegenden Aufgaben sind riesig: Die staatlichen Kassen sind leer, das Land ächzt unter der dritten Corona-Welle, der Impfprozess läuft wegen Mangels an Impfstoff und Desorganisation schleppend. Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger haben rapide zugenommen; Bildungschancen sind als Folge der seit März 2020 andauernden Schulschließungen verschwunden.

Die Neuerfindung des Guillermo Lasso

Der erfolgreiche Selfmadebanker Lasso, der selbst aus einfachen Verhältnissen stammt und nie eine Universität besuchen konnte, hat sich in den vergangen Monaten in Demut geübt und um die Unterstützung von Frauen, Indigenen, sozial Schwächeren geworben. Mit 52,4 Prozent konnte er sich im zweiten Wahlgang im April gegen seinen Herausforderer Andrés Arauz, eine Marionette des diktatorischen Ex-Präsidenten Rafael Correa, durchsetzen. Er  tritt mit einem motivierten Experten-Kabinett und dem Versprechen an, mit vereinten Kräften dem von Wirtschafts- und Gesundheitskrise gebeutelten Land wieder auf die Beine zu helfen. Dabei will er den Kontakt zu allen Teilen der tief gespaltenen ecuadorianischen Gesellschaft  suchen: „Encontrémonos“ – „Sprechen wir miteinander“, ist seit den letzten Wochen des Wahlkampfes sein Motto. 

Das neue Kabinett trägt ungewohnt junge, professionelle und individuelle Züge. Die zukünftige Integrationsministerin Mae Montaño, Erziehungswissenschaftlerin und Ingenieurin aus der Küstenprovinz Esmeraldas, beantwortet die Frage nach ihrem Kindheitstraum nüchtern: Sie habe in der Regel davon geträumt, am nächsten Tag etwas zu essen zu bekommen. Dagegen stammt der designierte Finanzminister Simon Cueva aus einer traditionsreichen Familie von Politikern und Akademikern, hat in Frankreich studiert und verfügt aus seiner früheren Tätigkeit über gute Beziehungen zum Internationalen Währungsfonds, wichtig für das verschuldete Ecuador. Die Gesundheitsministerin Ximena Garzón ist Spezialistin in Öffentlichem Gesundheitswesen und Epidemiologie; Außenminister Mauricio Montalvo ist ein erfahrener Karrierediplomat, der zuletzt als Botschafter in Australien diente.

Regierung und Parlament: Feuer und Wasser

Auf zahlreichen Videos auf YouTube und TikTok präsentiert sich die Regierungsmannschaft als modernes und visionäres Team, beseelt von dem Gedanken, Ecuador mit Offenheit und neuen Ideen aus der Krise zu bringen. Doch dieser Optimismus dürfte bald auf eine harte Probe gestellt werden. Denn die Zusammensetzung des ebenfalls neu gewählten Parlaments spricht eine andere Sprache: In der von linken Kräften dominierten „Asamblea Nacional“ bilden die Anhänger der vom früheren Präsidenten Correa aus dem belgischen Exil ferngesteuerten UNES mit 49 Abgeordneten den größten Block. Zweitstärkste Kraft ist die Indigenenbewegung Pachakutik, die mit Guadalupe Llori die erste indigene Parlamentspräsidentin Ecuadors stellt. 

Lassos eigene Partei CREO verfügt nur über eine Handvoll Sitze im Parlament, ist also zum Regieren auf immer neue Konstellationen angewiesen, um die erforderliche Mehrheit von 70 der 137 Abgeordnetenstimmen zu erreichen. Bei der Wahl der Parlamentspräsidentin gelang dies durch einen Ad-Hoc-Zusammenschluss von CREO, Pachakutik und der Demokratischen Linken.  Gleichzeit kam es zum Bruch mit dem ehemaligen Wahlkampfpartner PSC, deren Abgeordneten nun jedes Mittel recht ist, um dem neuen Präsidenten Steine in den Weg zu legen. So konnte CREO anders als erwartet nicht den Vorsitz im wichtigen Wirtschaftsausschuss übernehmen. Dies wird die Ausgestaltung und Durchsetzung der von Lasso angekündigten Steuerreform im Parlament problematisch machen.

Lasso: für Ecuador – mit Gottes Hilfe

Bisher ist Lasso der Kritik seiner Gegner mit Humor begegnet. Ein bei TikTok vor wenigen Tagen veröffentlichtes Filmchen zeigt einen gutgelaunten Präsidenten in spe in Hemd, Jeans und den bereits emblematischen roten Turnschuhen; seine Hände umfassen ein Herz in den ecuadorianischen Nationalfarben: „Mir geht es um Ecuador, nicht um politische Ränkeschmiede“.  Während die Legislative um die Besetzung ihrer Ausschüsse rang, stellte ein entspannter Lasso der Öffentlichkeit seine Ministerriege vor.

Zur Amtseinführung am 24. Mai werden unter anderem der spanische König sowie Regierungschef Felipe Gonzalez, eine hochrangige Delegation aus den Vereinigten Staaten und diverse lateinamerikanische Staatschefs erwartet. Anders als bei früheren Präsidenten werden die Feierlichkeiten auf Wunsch des Opus-Dei-Mitglieds Lasso mit einer Messe in der Kathedrale beginnen. Und dann geht es an die Arbeit: Achtzig Dekrete sind bereits für den ersten Tag des neuen Kabinetts angekündigt. Die Sehnsucht des Landes nach einem Ende der de facto regierungslosen „schrecklichen“ Zeit ist groß. Aber ob die neue Regierung diese Sehnsucht wird befriedigen können, ist mehr als ungewiss.

22. Mai 2021

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