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Leben und Gesellschaft

Die heimliche Nationalbibliothek

„Warum müssen Sie überhaupt Bücher anschaffen?`, hat uns das Kulturministerium allen Ernstes gefragt! Genauso gut können Sie einen Bäcker fragen, warum er eigentlich Mehl braucht!“ Die Mitarbeiter der „Biblioteca Ecuatoriana Aurelio Espinosa Pólit“, der größten Ecuadors, sind verärgert. In den vergangenen zwei Jahren ist ihnen die staatliche Unterstützung um rund 70% gekürzt worden. Ein aus dem Jahr 1995 datierendes Gesetz bestimmt jedoch, dass von allen im Land publizierten Büchern zwei Exemplare dieser Bibliothek übergeben werden müssen, und der Bibliothek die zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigen Mittel seitens des Staates zur Verfügung gestellt werden. Laut Gesetz wären dies mindestens 1500 Mindestgehälter, nach jetzigem Stand 637.500 Euro.

Von der seit 2021 amtierenden Regierung des bekennenden Katholiken Guillermo Lasso hatte die von Jesuiten begründete und geführte „BEAP“ anderes erwartet.  Denn die 1930 gegründete Einrichtung ist laut dem Gesetz von 1995 eine „Institution von nationalem Interesse“, und mit ihrer umfangreichen Sammlung die heimliche Nationalbibliothek Ecuadors. Über 600.000 Bücher besitzt die Bibliothek. Dazu kommt im historischen Archiv rund eine halbe Million an Originaldokumenten zur Geschichte des Landes. Die ältesten Veröffentlichungen stammen aus dem 16. Jahrhundert und gelangten über die spanischen Kolonialherren in die damalige „Real Audiencia de Quito“. Die im Zentrum der Hauptstadt gelegene „Biblioteca Nacional Eugenio Espejo“, die dem ecuadorianischen Kulturministerium unterstellt ist, verfügt im Vergleich über deutliche geringere Bestände.

Vom Noviziat des Jesuitenordens zur Bibliothek

Wer die BEAP in Cotocollao im Norden Quitos besucht, merkt auf den ersten Blick von der aktuellen Mangellage wenig. Die vier Flügel des 1949 im neokolonialen Stil erbauten Gebäudes umschließen, einem Kloster ähnlich, den großen begrünten Innenhof. „Unser Gebäude ist größer als der Präsidentenpalast in Quito, aber wir bezahlen hier nur 18 Angestellte, nicht 400“, scherzt Padre Iván Lucero, der die Bibliothek seit fünf Jahren leitet. Der klösterliche Charakter der Anlage kein Zufall:  Von 1949 bis Ende der Sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts beherbergte der Komplex das „Colegio Loyola“, ein Internat für die Novizen des Jesuitenordens. Mit der Schließung des Noviziats im Jahr 1969 fanden hier die Bestände der von Padre Aurelio Espinosa Pólit begründeten „Biblioteca de Autores y Temas Ecuatorianos“ ihre Heimat.

Die katholisch-konservative Familie von Aurelio Espinosa Pólit (1894 – 1961) hatte im Jahr 1895, während der sogenannten „liberalen Revolution“, aus politischen Gründen Ecuador verlassen. Ihren Patriotismus und den katholischen Glauben jedoch vermittelten die Eltern ihren Kindern auch im europäischen Exil ungebrochen. Der junge Aurelio trat mit 17 Jahren in Spanien dem Jesuitenorden bei, ebenso wie seine fünf Brüder. Nach einem Jahr des Studiums in Cambridge kehrte er 1929 auf Anweisung seiner Oberen aus Europa nach Ecuador zurück, um am Noviziat in Cotocollao Philosophie zu lehren. Bereits im Mai 1930 begann der junge Padre mit seinem Projekt einer Bibliothek, die das gesamte ecuadorianische Schrifttum vereinen sollte, einer Sammlung „unserer nationalen, religiösen, historischen, wissenschaftlichen und literarischen Tradition“

Bibliophile und kunsthistorische Raritäten an einem Ort

Was zuerst nur drei einfache Bücherregale umfasste, füllt heute das gesamte ehemalige Internatsgebäude. Eine Bibliothek, die zugleich Kunstmuseum und Kulturzentrum ist, und in der man gut und gerne einige Stunden verbringen kann, ohne überhaupt ein einziges Buch zu öffnen. Überall gibt es besondere Dinge zu sehen. So findet sich im Kartensaal eine handgezeichnete Darstellung der Amazonasregion, die 1895 zur Vorbereitung der zweiten französischen Geodäsiemission erstellt wurde: eine aus 25 gleichmäßigen Rechtecken zusammengesetzte, reisetaugliche Kopie der 1750 von Pedro Vicente Maldonado für die Condamine-Mission angefertigten Karte. Aber auch eine Schulkarte des damaligen Ecuador, gedruckt zu Beginn des 20. Jahrhunderts im deutschen Westermann-Verlag, hängt an der Wand.

In zwei der ecuadorianischen Malerei gewidmeten Sälen stößt der Besucher, wie so oft in Ecuador, immer wieder auf Darstellungen des heiligen Joseph als hingebungsvollen Vaters: Er hält gemeinsam mit Maria den jungen Jesus an der Hand, trägt ihn auf dem Arm, wendet sich ihm wie im Spiel zu. Im Skulpturensaal gibt es eine Rarität: Eine Darstellung der „Entschlafung Mariens“, wie sie sonst vor allem in den orthodoxen Kirchen üblich ist: die „entschlafene“ Maria auf einem Prunkbett liegend, umringt von den 12 Jüngern (eine lebensgroße Darstellung derselben Szene kann übrigens in Quito im Konvent von Carmen Alto besichtigt werden).

Gleichberechtigte Eltern: Eine Darstellung der Heiligen Familie von Manuel Samaniego (1767 – 1824), einem der bekanntesten Maler der „Schule von Quito“
…ebenso wie Reliquien der ecuadorianischen Geschichte

In dem der Geschichte Ecuadors gewidmeten Raum schließlich befinden sich zahlreiche Reliquien zum Gedenken an den  1875 ermordeten erzkatholischen Präsidenten Gabriel Garcia Moreno. Im Jahr 1883 war der Leichnam des umstrittenen Politikers aus der Kathedrale von Quito in den Konvent von Santa Catalina verbracht worden. Da die neue Begräbnisstelle von Garcia Moreno nicht öffentlich bekannt war, entdeckte man den Sarg dort erst im Jahr 1975. Die historischen Dokumente, aus denen die Fundstelle erkennbar gewesen wäre, fanden sich erst nachträglich im historischen Archiv der BEAP; die Reste des hölzernen Sarges sind heute hier ausgestellt.

Aber zurück zu den Büchern: Neben den ecuadorianischen Werken des 19. und 20. Jahrhunderts findet man hier zahlreiche Schriften europäischer Produktion, die bis zur Vertreibung der Jesuiten im Jahr 1767 ins Land gebracht worden waren. Der deutsche Jesuit Adam („Adán“) Schwartz leitete ab 1755 die erste Buchdruckerei Ecuadors in Ambato; einige der dort gedruckten Exemplare sind in der „antiken“ Sammlung der BEAP zu finden. Und schließlich verfügt die Bibliothek über 26 Nachlässe bedeutender Persönlichkeiten des Landes. Jede für sich sind sie in den früheren Klassenräumen untergebracht, oft gemeinsam mit Möbeln und persönlichen Gegenständen der früheren Besitzer. In manchen Räumen hat man den Eindruck, als habe der verstorbene Eigentümer seine Privatbibliothek nur kurz verlassen.

Der Nachlass des Kunsthistorikers José Gabriel Navarro

Im Arbeitsalltag wird vor allem der kleine Lesesaal der BEAP ständig genutzt. Vor allem unter der Woche ist der Saal bevölkert von Schülern der umliegenden staatlichen Schulen, die hoffen, hier in Ruhe arbeiten zu können. Auch am heutigen Samstag sitzt eine Abiturientin vertieft an einem der Tische. Die Mutter, in indigener Tracht und mit dem Hut auf dem Kopf, wartet geduldig auf einem Stuhl dahinter. Viele der am meisten nachgefragten Zeitungen und Nachschlagwerke sind hier auf den großen Computerbildschirmen direkt einsehbar. Seit vierzehn Jahren arbeitet die BEAP an der Digitalisierung ihrer Bestände; rund ein Viertel davon ist bereits verfügbar, insbesondere große Teile des Zeitungsarchivs.

Und die Mutter schaut geduldig zu. Lernen für den Schulabschluss im Lesesaal der BEAP

„Unsere Besucher wundern sich immer, dass das Haus trotz der schwierigen Finanzlage in einem so guten Zustand ist. Hier ist nichts schmutzig, heruntergekommen, vernachlässigt“, erzählt Padre Iván nach dem Rundgang nicht ohne Stolz. „Ich sage dann immer: Wir drehen jeden Centavo dreimal um und investieren ihn dann dort, wo er am meisten Wirkung entfaltet. Wir wollen diesen Ort, der in gewisser Weise das Gedächtnis unseres Landes ist, bewahren.“

Centro Cultural Biblioteca Ecuatoriana Aurelio Espinosa Pólit

José Nogales N69-22 / Francisco Arcos, Cotocollao, Quito

Tel. 00593 – 2 – 2491-156/157, www.beap.ec

geöffnet Dienstag bis Samstag von 08.00 bis 17.00

15. Januar 2022

2 Antworten auf „Die heimliche Nationalbibliothek“

Was für ein spannender, interessanter Bericht mit sehr guten Fotos unterlegt. Am liebsten würde ich gleich einen Flug buchen, um mich selbst umzusehen!

En Ecuador, mi país, pareciera que siempre debe volver Humboldt a „descubrirnos“ Tan egregia -la biblioteca AEP-, tan abandonada. Sin que a nadie le importe (casi) De tanto en tanto dejamos que „nos descubran“. Como dijo Colón que lo había hecho. Y se lo creímos. Por supuesto, así nos va. Bien, gracias.

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