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Musik

„Nur ein Don Quijote kann so arbeiten“ – der Komponist Luis Humberto Salgado

Im November 1968 nahm das „Estradenorchester“, ein Ensemble des in Ostberlin ansässigen Deutschlandsenders, die „Suite Ecuatoriana“ von Luis Humberto Salgado auf. Es ist vermutlich die einzige Rundfunkaufnahme eines Werkes dieses Komponisten aus Ecuador, der sein Heimatland niemals verlassen hatte. Salgado war zum Zeitpunkt der Aufnahme 65 Jahre alt; er hatte bereits sechs Sinfonien geschrieben (neun sollten es werden), vier Opern, drei Klavierkonzerte, mehrere Kammermusikwerke und unzählige Kompositionen für Klavier.  Vor wenigen Wochen ist die erste Einspielung aller neun Sinfonien mit dem Sinfonieorchester von Cuenca unter dem deutschen Dirigenten Michael Meissner erschienen. Auf YouTube findet man eine neue Aufnahme des unterhaltsamen Bläserquintetts von 1958,  ansonsten jedoch nur vereinzelte Klavierstücke in eher fragwürdiger Aufnahmequalität.

Auch in Ecuador sind Salgado Werke noch weitgehend unbekannt

Wer war dieser 1903 geborene Luis Humberto Salgado, dessen Name auch heute in Ecuador kaum bekannt ist? Sein Vater Francisco Salgado war musikalischer Autodidakt und begann erst mit über dreißig Jahren an dem im Jahr 1900 gegründeten Konservatorium von Quito, der Hauptstadt Ecuadors, ein Musikstudium. Als Dozent und später sogar Direktor des Konservatoriums nahm er die musikalische Ausbildung seiner ältesten Söhne selbst in die Hand. So erfolgreich, dass die Brüder Luis Humberto und Gustavo ausgezeichnete Klavierspieler wurden. Nur gab es im Quito der Zwanziger Jahre schlichtweg keinen Bedarf an klassisch ausgebildeten Pianisten Während Gustavo schließlich doch Jura studierte, verlegte sich Luis Humberto früh auf das Komponieren. Schon zu Schulzeiten verdingte er sich zudem als Begleiter von Stummfilmen in den lokalen Kinos; ein Versuch, über eine Anstellung als Leiter der Blaskapelle im kolumbianischen Túquerres in die USA auszuwandern, scheiterte ebenso wie die von ihm später wohl nur halbherzig verfolgte Bitte um ein staatliches Stipendium für einen Europaaufenthalt.  

Es blieb ihm schließlich die Anstellung an demselben Konservatorium, an dem schon sein Vater lehrte, und wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1977 Kontrapunkt, Harmonielehre und Gehörbildung unterrichtete. Ansonsten lebte Salgado weitgehend in seiner eigenen musikalischen Welt. Einer Welt, in der er unermüdlich neue Werke schuf, die den Mitgliedern des 1956 gegründeten Nationalen Sinfonieorchesters als unverständlich und unspielbar galten. Nur seine sechste Sinfonie für Streicher und Pauken von 1968 sowie wenige Kammermusikstücke wurden zu seinen Lebzeiten in Ecuador vollständig aufgeführt. 

Europäische Form trifft ecuadorianischen Melos

Was sind das für Kompositionen? Grundsätzlich eine Fusion von folkloristischen Motiven und Rhythmen mit den klassischen Formen der aus Europa importierten „akademischen“ Musik, wie man in Lateinamerika sagt. In der Klaviermusik oft mit Anklängen an die  europäische Salonmusik, in den Orchesterwerken meist deutlich geprägt durch die Klangfarben der traditionellen lateinamerikanischen Blaskapellen, der „Bandas“. Salgados Hoffnung war es, mithilfe von Kompositionen auf hohem Niveau der einheimischen Musik Anerkennung auch außerhalb Ecuadors zu verschaffen. Kein ecuadorianischer Komponist vor oder nach ihm hat ein derart umfangreiches symphonisches Werk hinterlassen.

In unzähligen musikhistorischen und -theoretischen Artikeln entwarf Luis Humberto Salgado die Vision einer ecuadorianisch-andinen Sinfonieform. Vier Sätze wie in den Sinfonien von Haydn, Beethoven oder Schubert, aber geprägt von den Rhythmen und Harmonien einheimischer oder während der Kolonialzeit in Mode gekommener Tänze: Sanjuanito, Yaraví, Danzante, Albazo, Alza und Aire típico.

Eine ecuadorianische Sinfonie: Die Sinfonia Andina

Salgados in den vierziger Jahren komponierte erste Sinfonie (Sinfonia Andina), die nach diesem Konzept aufgebaut wurde, hat Konzertbesuchern in Quito – nur der zweite Satz wurde 1953 uraufgeführt – vielleicht noch vertraut in den Ohren geklungen. Aber bereits Ende der dreißiger Jahre hatte der Komponist begonnen, sich intensiv mit der von Arnold Schönberg entwickelten Zwölftontechnik auseinanderzusetzen. Mit Verspätung, gewiss, aber der Weg über den Atlantik war weit, Partituren und Aufnahmen gelangten ebenso wie das von Salgado favorisierte Notenpapier aus dem Hause Schirmer nur sporadisch aus Europa und den USA nach Ecuador. Mit Zufriedenheit erwähnt Salgado in seinen Schriften häufig seinen 1944 komponierten „Sanjuanito futurista“ – einen Sanjuanito streng nach den Regeln der Zwölftontechnik, aber im Rhythmus des in Ecuador bekannten Tanzes.  Harte Kost nicht nur für das damalige Publikum.  Salgado nutzte die neue Technik in seinen späteren Werken allerdings niemals exklusiv, sondern stets  als eine Inspirationsquelle unter vielen. 

Das ewige Vorbild: Beethoven

Luis Humberto Salgado: Freundlich, aber introvertiert, von der Arbeit besessen. Immer tadellos gekleidet, diszipliniert, perfektionistisch, verständnislos gegenüber weniger begabten Schülern. Detailversessen in seinen Kompositionen, penibel in seiner Notenschrift, unter jeder Komposition das genaue Datum des Beginns und der Fertigstellung. Sein Ideal war Ludwig van Beethoven: Salgado übernahm dessen Formsprache vielleicht konsequenter, als sie Beethoven selbst je beabsichtigt hatte. Gleichzeitig empfand der in Ecuador einsame Komponist wohl eine Art von Seelenverwandtschaft mit seinem Vorbild – auch Beethoven hatte aufgrund seiner Taubheit viele seiner eigenen Werke nur innerlich hören können. Das Manuskript seiner 7. Sinfonie schickte Salgado 1970 mit einer Widmung zum 200. Geburtstag dem Beethovenhaus in Bonn. “Meine Werke können hier nicht gespielt werden, es fehlt an Musikern, Instrumenten und Interesse”, zitieren Zeitgenossen den Komponisten; „nur ein Don Quijote kann so arbeiten.“ 

Nach der Uraufführung von Beethovens spätem B-Dur-Streichquartett im Jahr 1826 schrieb ein Zeitgenosse, „vielleicht kommt noch die Zeit, wo das, was uns beym ersten Blicke trüb und verworren erschien, klar und in wohlgefälligen Formen erkannt wird.“ Anders als sein Idol wartet Luis Humberto Salgado noch immer darauf, in Ecuador und darüber hinaus erkannt zu werden. 

(20. Oktober 2020, aktualisiert 12. April 2021)

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