Wer beherrschte den Norden Ecuadors vor der Ankunft der Inka? Die Antworten der Historiker auf diese Frage sind mit vielen „vielleicht“ und „möglicherweise“ gespickt. Immer wieder werden dabei die Volksgruppen der Cayambe, der Caranqui, Otavalo und Cochasquí genannt, die seit ungefähr 500 n.Chr. die Gegend besiedelten. Der Kampf dieser Völker gegen die Eroberer aus dem Süden zog sich wohl über eine Reihe von Jahren bis zum Fall der Festung Pambamarca, vermutlich im Jahr 1505, hin.
Die fünfzehn Pyramiden von Cochasquí nördlich von Quito sind der größte zusammenhängende Komplex präinkaischer Ruinen im Norden Ecuadors. Es wird angenommen, dass sie ab ca. 930 n.Chr. erbaut wurden. Ein leider etwas unscharfes Video des Fotografen Jorge Anhalzer zeigt die Ausdehnung der Anlage, die neben den Pyramiden noch 21 Grabstätten, sogenannte „Tolas“ umfasst. Unklar ist freilich, mit welcher Absicht die Pyramiden mit ihren mächtigen Rampen, die wie Zungen bis zu 200 Meter lang in das Land hineinragen, gebaut wurden. Wohn- und Herrschaftssitz der lokalen Stammesführer, Begräbnisort, zeremonielle Kultstätte, astronomisches Observatorium? Für alle Interpretationen gibt es Anhaltspunkte, die von verschiedenen Forschungsmissionen des letzten Jahrhunderts zusammengetragen wurden.
Ein einzigartiger Mondkalender auf einer Pyramide aus Vulkangestein und Lehm
Wer sich das Terrain auf dem vorgegebenen Rundweg zu Fuß erwandert, muss sich vom Parkplatz aus den Weg durch eine Herde von Lamas und Alpakas bahnen – für junge Familien sicherlich eine Attraktion. Schon von hier unten sind einige der flachen Pyramiden mit ihren Rampen erkennbar; alle sind sie nach Norden ausgerichtet. Errichtet wurden sie aus Chocoto, einem Gemisch aus Lehm, Wasser, Stroh und Exkrementen, das flach- und damit festgestampft wurde. Die Ränder der Plattformen sind mit Blöcken des Vulkangesteins Cangahua befestigt, das von einem etwa einen Kilometer entfernten Steinbruch hertransportiert wurden.
Zu sehen ist dies bei der weitgehend freigelegten Pyramide Nummer 13. Deutlich erkennt man die unter einer Grasnarbe verborgene Stufenstruktur. Spektakulär aber ist der auf der Plattform angelegte Mondkalender, der mithilfe der Sonne die Monate des Jahres anzeigte. Dreizehn aufrecht in kreisrunde Löcher eingelassene Holzpflöcke, die je nach Sonnenstand unterschiedliche Schatten warfen, standen offenbar für die dreizehn Mondzyklen im Jahresverlauf.
Die Legende von der Herrscherin Quilago
Immer höher geht es dann hinauf, bis sich schließlich an klaren Tagen der Blick über das ganze Tal und auf das Panorama der umliegenden Berge öffnet – von den Puntas und dem Cayambe m Osten über den Rumiñahui bis zum Pichincha im Westen. Das ist der Moment, wo man sogar der Theorie unserer Reiseführerin Glauben schenken mag, dass Cochasquí ursprünglich auch als Festung konzipiert worden war. Die Legende von der Herrscherin Quilago (1485-1515), die den mit ihr liierten Inca-Fürsten Huayna Capac vergeblich in eine Falle zu locken versuchte, der sie am Ende selbst zum Opfer fiel, klingt jedenfalls gut vor dieser Kulisse.
Eindrucksvoll ist auch die Vogelschau auf die mit rund neunzig mal achtzig Metern größte Pyramide der Anlage, die Nummer neun. In ihre Flanke und Zentrum haben (Grab-)Räuber früherer Zeiten eine tiefe Wunde geschlagen, was schon der deutsche Archäologe Max Uhle während seiner Expedition im Jahr 1932 beklagte. Uhle fand in dieser Pyramide nur noch Hunderte menschlicher Schädel, die die Eindringlinge zurückgelassen hatten.
Cochasquí als Teil des Inka-Weges Quapac Ñan
Folgt man dem Rundweg weiter, trifft man auf einen Abschnitt eines alten Inka-Wegs, markiert durch ein andines Wegkreuz. Auch der Quapac Ñan, die vom Süden des Kontinents nach Norden führende Hauptstraße der Inka, führte über Cochasquí.
Zwei in traditioneller Bauweise zu Museumszwecken errichtete Häuser geben einen Eindruck davon, wie die Bewohner dieses Landstrichs bis vor nicht allzu langer Zeit lebten: In einem Raum gemeinsam mit den zur Speise dienenden Meerschweinchen, die Feuerstelle direkt daneben, als Mittelpfeiler des fensterlosen Rundbaues der „Lebensbaum“, árbol de la vida. So ähnlich mögen die Rundhütten der lokalen Führer einst auf den Plattformen der Pyramiden gestanden haben. Dies lässt zumindest eine Skizze der „Gruppe Ecuador“ der Universität Bonn vermuten. Unter Leitung von Udo Oberem nahmen diese Forscher in den Sechzigern Jahren des letzten Jahrhunderts hier umfangreiche Ausgrabungen vor.
Das zum Ausgang hin gelegene Museum zeigt, anders als beispielsweise im nahegelegenen Otavalo, Ausstellungsstücke, die zu einem großen Teil tatsächlich von hier stammen. Wie oft in Ecuador wäre der Besucher für mehr Information zu Verwendungszweck, Fundort und Datierung dankbar, aber die Präsentierung ist ansprechend, und die Führerin auf Nachfrage gut informiert. Und anschließend: Hühnersuppe oder Mais mit Käse? Und noch ein frischer Salatkopf für zu Hause? In den Büdchen und einfachen Restaurants neben dem Parkplatz gibt es gefühlt kein Corona mehr.
Von Quito aus gelangt man über die Panamericana in einer guten Stunde zum Parque Archeológico Cochasqui. Bei Kilometer 52, direkt hinter der Gebührenstation, links abbiegen, der Weg ist gut ausgeschildert. Besichtigung nur mit Führung; wochenends empfiehlt es sich, früh zu kommen, um den zahlreichen Großfamilien auf Sonntagsausflug zu entgehen.