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Ecuador Leben und Gesellschaft

Das grüne Gold von Ecuador

Zwei Frauen sitzen in Tumbaco bei Quito an einem großen Glastisch und sortieren Vanille. Der betörende Duft der braunen Schoten erfüllt den ganzen großen Raum. Neben sich haben die Arbeiterinnen ein Lineal liegen, das sie eigentlich nicht mehr brauchen. Sie wissen aus Erfahrung genau, welche Schotengröße in welche der drei schwarzen Plastikwannen gehört. Je eine für die großen, mittleren und kleinen Vanillestangen. Rund sechzig Prozent der Ernte machen die besonders langen und dicken Exemplare aus, die beim Verkauf den besten Preis erzielen.

Vor 20 Jahren begann Eduardo Uzcátegui in der Provinz Santo Domingo de los Tsachilas, rund zwei Autostunden westlich der ecuadorianischen Hauptstadt Quito, mit dem gezielten Anbau der zur Familie der Orchideen zählenden Vanille. Zunächst nur aus Neugier, wie er erzählt: „Ein Belgier hatte versucht, sie hier zu züchten, aber das funktionierte irgendwie nicht. Als er das Land etwas frustriert wieder verließ, schenkte er mir eine Pflanze. Ich bin zwar selbst Biologe, hatte mich aber eigentlich immer mehr mit Tieren beschäftigt, insbesondere mit der Zucht von Wachteln, seit 26 Jahren habe ich da ein Unternehmen. Aber dann wollte ich sehen, ob das mit der Vanille nicht doch geht!“

Pro Hektar Anbaufläche ist die Produktion in Ecuador größer als in Madagaskar und Indonesien

Nach fünf ersten erfolgreichen Jahren erlitt aber auch seine eigene Vanilleproduktion einen herben Rückschlag. Das feuchte Tropenklima von Santo Domingo ließ nicht nur die Pflanzen wachsen, sondern begünstigte auch alle Arten von Schädlingen. Erst als Uzcátegui begann, die Vanille im Gewächshaus zu züchten, wo sich Feuchtigkeit, Sonneneinstrahlung und Schädlinge besser kontrollieren ließen, hatte er dauerhaft Erfolg: Seine Vanillepflanzen trugen bereits nach zwei Jahren das erste Mal die begehrten grünen Schoten. Nur zwei Hektar ist die Plantage seiner Firma „VAINUZ“ heute groß, aber der Ertrag ist eindrucksvoll: Auf jedem Hektar stehen 10.000 Pflanzen, die im Jahr etwa 1000 kg frischer Vanille liefern. In Indonesien, dem zweitgrößten Exportland nach Madagaskar, sind es nur 400 kg pro Hektar.

Das „grüne Gold“ hat in Ecuador, wo mehrere wild wachsende Vanillesorten vorkommen, in den letzten Jahren einen großen Aufschwung genommen. Nicht nur in Santo Domingo wird die Pflanze angebaut, auch am Napo-Fluss im östlichen Tiefland und in der Provinz Manabí am Meer gibt es immer mehr meist kleine Produzenten. Denn Ecuador ist privilegiert: Die Zahl der Sonnenstunden am Äquator ist über das Jahr im Vergleich zu anderen Ländern wie Mexico, dem Ursprungsland der Vanille, oder Madagaskar,  äußerst stabil. Das erlaubt auch bei anderen landwirtschaftlichen Produkten mehrere Ernten im Jahr; beim Brokkoli beispielsweise sind es bis zu vier. Ein großer Wettbewerbsvorteil für die hiesigen Exporteure. Während es in anderen Anbauländern für die Vanille nur eine einzige jährliche Reifeperiode gibt, kann die kostbare Ware hier das ganze Jahr hindurch geerntet werden.

Die Bestäubung der Blüten ist Frauensache

Dieser paradiesische Zustand verursacht allerdings ein unerwartetes Problem: Von außen lässt sich kaum erkennen, welche der wie grüne Bohnen anmutenden Vanilleschoten bereits reif sind. Nur mit Hilfe eines detaillierten Kalenders kann sichergestellt werden, dass die Ernte jeweils zur richtigen Zeit erfolgt. Eine andere Herausforderung teilen alle Vanilleproduzenten weltweit: Das systematische Bestäuben der Blüten ist ausschließlich von Hand möglich, und nur in den Vormittagsstunden eines jeden Tages. Dafür beschäftigen VAINUZ und andere in Ecuador produzierende Unternehmen ausschließlich weibliche Angestellte.  „Frauen arbeiten viel sorgfältiger und haben eine bessere Feinmotorik;  wenn wir Männer das machten, würden wir die empfindlichen Blüten der Orchidee zerstören, und ein Großteil der Pflanzen würde wahrscheinlich niemals tragen“, schmunzelt Uzcátegui. 

Eduardo Uzcátegui mit einem Kilo seiner Vanille, bereit für den Versand

Der Ernte folgt in der Regel ein rund zweieinhalb Monate dauernder Prozess von Reinigung, Fermentierung und Trocknen der Schoten, zunächst in der Sonne, dann im Schatten. Wenn Uzcáteguis Vanille nur noch 18% ihres ursprünglichen Feuchtigkeitsgehalts besitzt, reist sie von Santo Domingo nach Tumbaco. Dort wohnt der Unternehmer, der zweiundzwanzig Jahre lang Dekan der landwirtschaftlichen Fakultät an der „Universidad San Francisco de Quito“ (USFQ) war. „Das Sortieren und Verpacken haben wir früher noch an meinem Küchentisch gemacht, bis ich dann auf meinem Grundstück gegenüber diese neue Halle hier gebaut habe“.

Vom wertvollen „Kaviar“ bis zum schlichten Vanilleextrakt

Nach dem Sortieren am Glastisch werden die Schoten in dicken Kilopaketen verpackt. Für den schnellen Verbrauch in der Gastronomie wird nur das Mark der Vanille, der „Kaviar“, benötigt. Wie Goldbarren liegen die Pakete, die jeweils ein Pfund wiegen, im hölzernen Regal. Über 500$ war ein solches Päckchen vor der Pandemie wert, im Moment ist es weniger. Geradezu obszön wirken daneben die großen Vier-Liter-Plastikflaschen mit dem preiswerten Vanilleextrakt, einem Abfallprodukt, das für den Export nach Kanada bestimmt ist. 90% seiner Vanille liefert Uzcátegui nach Europa, Nordamerika, Japan und Hawaii. Nur ein kleiner Teil verbleibt im Land. Anders als die von ihm weiterhin vermarkteten Wachteln: Zwei Millionen der winzigen Vögel verkauft der emeritierte Professor jährlich an Restaurants in Ecuador, tiefgefroren in Paketen zu je zehn Stück. Eine Kreuzung aus einer kleinen japanischen und einer größeren deutschen Art hat sich dabei als besonders erfolgreich erwiesen. Die kleinen, hübsch gefleckten Wachteleier, die man hier in jedem noch so winzigen Supermarkt bekommt,  sind nicht nur bei Schulkindern ein beliebter und vergleichsweise preiswerter Snack. 

Was den Wachteln recht ist, ist der Vanille billig

Wachteln und Vanille – selbst im instabilen Ecuador, wo man möglichst immer mehrere Geschäfte gleichzeitig führen muss, um gegen jede Wirtschaftskrise gewappnet zu sein, erscheint eine solche Verbindung überraschend. „Es gibt aber tatsächlich Parallelen! Wir haben vor einiger Zeit begonnen, mit unseren eigentlich für die Wachteleier gebauten Brutschränken zu experimentieren, um sie als Trockenschränke für die Vanille zu weiterzuentwickeln. Jetzt können wir in einem solchen Schrank 100 kg Vanille in viel kürzerer Zeit als zuvor verarbeiten!“ Vielleicht ist es auch einfach nur die stete Neugier eines begeisterten Biologen und Tüftlers, die Zusammenhänge schafft, wo vorher keine waren. Im Laden in Tumbaco jedenfalls können beide Delikatessen zugleich mit einem einzigen Einkauf erworben werden.

Verkauf von Vanille und Wachteln in Tumbaco (auch in küchentauglichen Mengen): VAINUZ, Gonzalo Pizarro #N5-683/ Machala, Öffnungszeiten Mo-Fr von 8-12 und 14-18 Uhr. Cel. 0998 374 783, 0995 656 016, E-mail vainuzecuador@hotmail.com

5. November 2022

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Ecuador Leben und Gesellschaft

Zwischen Arbeiterbewegung und Dominikanerkloster – das konsequente Leben der Isabel Robalino

Bücher überall. Die Juristin, Gewerkschaftsaktivistin und Laiendominikanerin Isabel Robalino nutzte ihre Hacienda „La Merced“ zeitlebens als großes Arbeitszimmer. Eine Festschrift der von ihr gegründeten ersten katholischen Arbeitergewerkschaft CEDOC liegt in unmittelbarer Nachbarschaft einer Gesetzessammlung zum ecuadorianischen Strafprozessrecht. Eine Reflexion über das Leiden Jesu teilt sich den Raum mit einer rosa leuchtenden Studie zur Teilhabe von Frauen am politischen Leben. Die Zeitschrift „Shalom“ findet sich dort ebenso wie Fachartikel zur katholischen Kirchengeschichte. „Die Wissenschaft und mein Beruf, das war das, was mich immer interessiert hat“, konstatierte sie mit 100 Jahren in einem Fernsehinterview

„Bildung schafft Freiheit“. So lautete das Motto einer anderen, in den 1960-er Jahren von ihr ins Leben gerufenen Institution, des „Instituts für gesellschaftliche Bildung“ (INEFOS). Auch der Zusammenschluss mehrerer Gewerkschaften zur FUT, der „Vereinigten Arbeiterfront“, ging auf ihre Initiative zurück. Über lange Jahre beriet sie die als besonders radikal bekannte FUT in rechtlichen Fragen. Der großen Bevölkerungsmehrheit einfacher Arbeiter und Angestellter in Ecuador Stimme, Rechte und Kenntnisse zu verschaffen war Isabel Robalinos selbstgewähltes Lebensziel. Ihre Tätigkeit empfand sie als Berufung und in ihrem Glauben begründete Verpflichtung. „Die Arbeiterbewegung und Santo Domingo (der Heilige Dominicus) waren die Konstanten von „Isabelitas“ Leben“, sagt ihr langjähriger geistlicher Weggbegleiter, der Dominikanerpater Roberto Fernández.

Bildung schafft Freiheit – das „Institut für gesellschaftliche Bildung“ war eine der vielen Gründungen Robalinos

1917 wurde Isabel Robalino Bolle als Tochter des Diplomaten Luís Robalino Dávila und seiner Frau Elsbeth Bolle geboren. Der aus einer vermögenden ecuadorianischen Familie stammende Luis und die aus Berlin gebürtige Elsbeth hatten sich in Paris kennengelernt, der Wunschheimat vieler ecuadorianischer Landbesitzer jener Zeit. Die folgenden zwei Jahrzehnte verbrachte Luís Robalino mit seiner Frau zwischen diplomatischen Missionen in Europa und Lateinamerika, und den Haciendas seiner Familie; zwischen historischen Forschungen und politischem Engagement. 1922 gründete er das Ecuadorianische Rote Kreuz, 1929 verhandelte er die Mitgliedschaft Ecuadors im Völkerbund. 1931 kaufte er die im Jahr 1643  vom Orden der Mercedarier begründete Hacienda „La Merced“ für sich und seine Familie. 

Die Tochter wuchs als Einzelkind, aber im Kontakt mit einer großen Schar von Cousins auf. Geprägt wurde sie vor allem durch ihre gebildete, sozialen Fragen gegenüber aufgeschlossene Mutter. Als eine der ersten weiblichen Schülerinnen schloss sie das renommierte Colegio Mejía in Quito mit dem Abitur ab. Schon früh beschäftigte sie sich mit den Themen der katholischen Soziallehre, die in Ecuador vor allem in den Kreisen um Padre Inocencio Jacome diskutiert wurden. Wie Isabel entstammte dieser aus eher großbürgerlichen Verhältnissen. An der staatlichen Universidad Central erlangte Robalino als erste Frau den Abschluss in Rechtswissenschaften. „Als erste Frau“ waren Worte, die ihr weiter folgen sollten, wohin sie auch ging: Erste weibliche Stadtverordnete Quitos im Jahr 1946, erste weibliche Abgeordnete der verfassunggebenden Versammlung 1966, erste Senatorin Ecuadors 1968. 

1938 hatte sie gemeinsam mit anderen anderen Mitgliedern der katholischen Studentenbewegung den ersten katholischen Arbeiterkongress Ecuadors organisiert. Die Themen der Arbeiterbewegung waren fortan immer auch ihre eigenen, Arbeitsrecht wurde zu einem ihrer Spezialgebiete: geregelte Arbeitsverhältnisse, gerechte Löhne, Möglichkeiten zu Aus- und Fortbildung. Im Jahr 1944 nahm Isabel Robalino aktiv an der von Arbeitern getragenen „glorreichen Revolution“ gegen den konservativen Präsidenten Carlos Arroyo teil. 1947 leitete sie persönlich den Sturm auf den Präsidentenpalast, der die kurze Diktatur von Carlos Mancheno beendete.

Nie akzeptierte sie die in Ecuador herrschenden Wirtschafts- und Machtverhältnisse als gegeben, was ihr immer wieder Konflikte mit der sogenannten „guten Gesellschaft“ des Landes eintrug. Präsident Velasco Ibarra erließ sogar einen Haftbefehl gegen sie – der, da der Präsident ein guter Freund von Luís Robalino war, aber nie vollstreckt wurde. „Die Wohlhabenden Quitos haben sie dann doch immer respektiert“, erinnert sich Isabels Nichte Laura Terán. Ebenso wie die einfachen Arbeiter und alle anderen, die ihren Weg kreuzten. „Sie fand“, beschreibt Terán, „irgendwie bei allen immer den richtigen Ton“.

Als Isabel um die Jahrtausendwende aus ihrer Stadtwohnung wieder nach „La Merced“ umsiedelte, wollte sie die Hacienda zu einem Zentrum der Begegnung machen. „Die von der Geschichte gerissenen Wunden des Landes zu heilen, das war ihr Ziel“, beschreibt Padre Roberto diese Vision. Die Haciendagebäude hatte sie bereits 1986 dem Orden der Dominikaner überschrieben, sich aber dort ein lebenslanges Wohnrecht gesichert. Ihre Angst davor, im Falle ihres Todes die Dinge ungeregelt zu hinterlassen, war groß. Die Ländereien hatte sie ihren eigenen Angestellten übergeben. Zu ihrer Enttäuschung jedoch funktionierte die von ihr propagierte gemeinschaftliche Verwaltung des Bodens nicht, so dass am Ende jeder Arbeiter sein eigenes Stück Land erhielt.

Sie selbst lebte noch rund 10 Jahre in den zugigen Räumen rund um den säulenumstandenen Innenhof. Das Telefon, ihr Draht nach Quito, steht noch heute dort im Gang, das Adressbuch dahinter geklemmt. Regelmäßig fuhr die inzwischen Hochbetagte zu ihren zahlreichen Treffen alleine mit dem Auto nach Quito und überhörte das Drängen der um ihr Leben fürchtenden Padres, doch bitte einen Fahrer anzustellen: „Was soll ich mit einem Fahrer, der schafft das doch gar nicht, mich zu all meinen Terminen zu bringen, vor allem am Abend!“, kommentierte sie das aus ihrer Sicht überflüssige Ansinnen.

Konsequent bis ins Private: Das Schlafzimmer von Isabel Robalino auf La Merced

Als ihr mit Mitte Neunzig das Gehen unmöglich wurde, zog sie schließlich ganz in den Konvent von Santo Domingo im Herzen Quitos. Zwar war sie von nun an auf den Rollstuhl angewiesen, aber die tägliche Arbeit ging für sie weiter: 2015 wurde sie aktives Mitglied der Nationalen Anti-Korruptions-Kommission (CNA). Die von der Kommission gegenüber dem Generalstaatsanwalt Carlos Pólit erhobenen Vorwürfe hätten ihr im Alter von 100 Jahren beinahe noch eine einjährige Gefängnisstrafe wegen angeblicher Verleumdung eingebracht In einem Interview im Anschluss an die Verhandlung sprach sie von „einem politischen Spiel“ – und war dabei analytisch, entspannt, mit lebhaften Handbewegungen und voller Aufmerksamkeit für ihre Gesprächspartner.

„Das war ein politisches Spiel“. Isabel Robalino als Mitglied der Anti-Korruptions-Kommission im Interview 2017

Isabel Robalino Bolle starb am 31. Januar 2022 im Konvent der Dominikaner. Wer heute ihre Hacienda La Merced besucht, sieht das in Stein gemeißelte Wappen der Mercedarier über dem Eingang, und das der Familie von Luis Robalino Dávila über dem Kamin. Aber er sieht auch das Schlafzimmer der letzten Bewohnerin: Ein einfaches metallenes Bett, eine ländliche Matratze, der Rosenkranz am Bettrahmen, das Foto von Papst Benedikt XVI. auf der Kommode, Bücher und Notizzettel auf dem Nachttisch. Das Bild einer Frau, die bis zuletzt sie selbst war, konsequent und überall. 

Die Hacienda La Merced kann leider nicht privat besucht werden; die Dominikanerpadres arbeiten an einem Zukunftskonzept.

18. Oktober 2022

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Ecuador Musik

Jeden Abend ein wenig länger – Ecuador Jazz 2022

Es lebt wieder, das Zentrum von Quito. Am Freitagabend um kurz nach sechs schieben sich die Menschen durch die enge Calle Guayaquil, eilen mit Einkäufen und Kindern beladen über den Theaterplatz. Es dämmert schon, und im wiedereröffneten Café gegenüber dem Teatro Sucre trinken Bildungsbürger und Kunstschaffende den ersten Rotwein des Abends aus Plastikbechern.

Wer im Parkhaus einen Block weiter für das Auto keinen Platz mehr gefunden hat, dem bleiben noch die düsteren Katakomben an der Ecke zur Calle Manabí. Aussteigen im Dämmerlicht, die Tasche fest im Griff, einmal in alle Richtungen umsehen, und dann zügigen Schrittes zum Ausgang. Oben hat sich in einer Ecke des Theaterplatzes ein Streifenwagen positioniert, unübersehbar und mit blinkenden Lichtern. Aus gutem Grund. Denn das größte Problem für die Kultur im Zentrum der Stadt ist mittlerweile nicht mehr die Corona-Pandemie, sondern die Angst der Bürger vor Diebstählen und Überfällen. Die fast zwei Jahre lange Paralysierung des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens führte in der Innenstadt dazu, dass sich schon am frühen Abend kaum noch jemand ohne Not auf der Straße bewegte. Das historische Zentrum wurde zu einer Art rechtsfreiem Raum – einem Raum, den sich die Ladenbesitzer, Theater, Restaurants und Institutionen nun Schritt für Schritt, gewissermaßen Minute für Minute zurückerobern. Dass mit „Ecuador Jazz 2022“ ein wichtiges Festival nun wieder genau hier, im Herzen der Stadt, stattfindet, ist ein gutes Zeichen.

Das Theater bei Tag – ganz ohne Jazz

Im hell erleuchteten Foyer des 1879 – 1886  im Stil des Neoklassizismus erbauten Teatro Sucre stellt der Caterer Soft Drinks und Häppchen auf. Eine Gruppe von Frauen verkauft Naturprodukte und fair produzierte Kleidung sowie Werbematerial rund um das Festival. Die Komponistin und Pianistin Lyzbeth Badaraco mit ihrer Band präsentiert heute Abend ihr zweites Album „Bucle“; anschließend steht ein Konzert der Banda Metropolitana de Quito unter Leitung des amerikanischen Gastdirigenten Matthew Westgate auf dem Programm. Ein spannender Abend – nur die Zuhörer lassen auf sich warten. Lediglich die Hälfte der fast 800 Plätze ist am Ende besetzt, viele wohl mit Freunden und Verwandten der Musiker. „Unsere zentrale Lage ist im Moment unser größtes Problem“, berichtet Stalin Lucero, der Produktionsleiter der Spielstätte. „Wir haben bieten ein wirklich abwechslungsreiches Programm, haben tausend Ideen, aber die Leute fürchten sich zu kommen.“ 

Angst macht taub und blind – und ein Abend im Zentrum lohnt sich

Dabei lohnt es sich. Lyzbeth Badaraco hat neben ihrer Band eine Reihe von Musikerinnen mitgebracht, darunter die bekannte Liedermacherin Grecia Albán und die wirklich spektakuläre Sängerin Alejandra Cabanilla. „Soleá“, eine traurige Ballade zu Worten von Federico García Lorca, widmet Cabanilla der jungen Anwältin María-Belén Bernal, die vor zwei Wochen in den Räumen der hiesigen Polizeiakademie ermordet wurde. Ihr Fall bewegt seitdem das Land; Frauenorganisationen gehen täglich gegen die Missachtung von Frauenrechten und die zunehmende Zahl an Femiziden auf die Straße. Der im Hintergrund laufende Videoclip zu „Soleá“ interpretiert das Lied als Hoffnungsbotschaft an alle Frauen, die sich in ihrem Leben und in ihren beschränkten Möglichkeiten gefangen fühlen.

Wer diese und andere Kompositionen Badaracos nicht nur einmal hören möchte, kann in der Pause am Verkaufstisch ein Set von handbemalten hölzernen Matrjoschkas erwerben, die über einen am Fuss einer Puppe aufgeklebten Barcode das Herunterladen erlauben – auch hier bleibt das Frauenthema präsent.

Nicht CD, nicht Spotify, sondern Matrjoschka – das neue Album von Lyzbeth Badaraco

Anschließend Szenenwechsel. Mit schmissigen Rhythmen holen die „Banda Sinfónica Metropolitana de Quito“ und der brasilianische Saxofonist Felipe Salles das Publikum in den Saal zurück. Das 1990 gegründete Blasorchester hat sich in den letzten Jahren unter Leitung des jungen venezolanischen Dirigenten Luis Alberto Castro trotz Pandemie zu einer festen Größe im musikalischen Leben Quitos entwickelt. Der US-amerikanische Gastdirigent Matthew Westgate von der Massachusetts University ist bereits zum zweiten Mal in Ecuador, um mit dem Ensemble zu arbeiten. Er ist von der Entwicklung des Orchesters sichtlich begeistert. „Ich bin sehr dankbar dafür, mit diesen wunderbaren Musikern zusammenzuarbeiten!“ Die Schlagzeuger beeindrucken gleich zu Beginn des Konzerts mit virtuosen Soloeinlagen; in der zweiten Programmhälfte mit viel „Westside Story“ sind vor allem die langen Linien der Klarinetten ein Genuss. Und was Musikalität und Zusammenspiel angeht, ist die „Banda Metropolitana“ dem Nationalen Sinfonieorchester im Moment sicherlich überlegen. Als wir nach Beifall und Vorhang zufrieden wieder auf dem Theaterplatz ankommen, hat die Bar gegenüber tatsächlich noch geöffnet für ein zweites Glas…

Die selbstproklamierte „Band der Gegenkultur“, Dozenten der Universidad Central, eine kubanische Frauenband – an Vielfalt mangelt es nicht bei Ecuador Jazz 2022

Das Ecuador Jazz Festival 2022 hat seit dem 15. September zehn Tage lang das Zentrum Quitos bespielt. Konzerte im  ehemaligen Kinosaal des Teatro Variedades und eben im Teatro Sucre, Jam Sessions im Restaurant Caponata und der Lounge Curuba mit Gruppen aus Puerto Rico, Kuba, Frankreich, Peru und Argentinien haben zahlreiche Besucher angelockt. Das kostenlose Abschlusskonzert auf dem Theaterplatz leidet am Sonntag zwar unter strömendem Nachmittagsregen, aber das motivierte Publikum zückt die Regenschirme und bleibt – erst einmal. Erst wenn der Abend kommt, wird der Platz wieder verlassen sein, und der blinkende Streifenwagen umso sichtbarer.

27. September 2022

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Ecuador Leben und Gesellschaft

„Ein wunderschönes, liebenswertes und verrücktes Land“ – Ludwig Bemelmans und Ecuador

Mehrfach besuchte der deutsch-österreichisch-amerikanische Zeichner und Autor Ludwig Bemelmans, bekannt vor allem durch seine „Madeline“-Bilderbücher für Kinder, Ecuador. Von der Hafenstadt Guayaquil aus bereiste er im Jahr 1937 gemeinsam mit Frau und Tochter Barbara drei Monate lang das Land. Er lernte Esmeraldas an der Küste, Baños und das östliche Tiefland, vor allem aber Otavalo im bergigen Norden und die Hauptstadt Quito kennen. Darüber berichtete er in der amerikanischen Wochenzeitschrift „New Yorker“ und in der „New York Times“, und er verfasste im Anschluss an seine Reisen insgesamt drei Bücher.

Der in Wien geborene Bemelmans wuchs nach der Trennung seiner Eltern bei seiner deutschen Mutter in Regensburg auf. Regeln und Autoritäten waren ihm von jeher ein Greuel, und so verließ er die Schule schon mit 14 Jahren ohne Abschluss. Nach einer begonnenen Hotellehre, die angeblich in einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit einem Oberkellner endete, schickte seine Mutter den inzwischen Sechzehnjährigen in die USA. In New York fand er zunächst eine Anstellung als Hilfskellner; nach dem ersten Weltkrieg arbeite er sich zum stellvertretenden Manager des Ritz-Carlton hoch. Seine eigentliche Liebe jedoch galt von jeher dem Zeichnen, so dass er 1929 seine lukrative Stellung kündigte und zunächst mehr schlecht als recht als Illustrator und Autor lebte. 1934 erschien sein erstes Kinderbuch „Hansi“; später begann er auch Romane für Erwachsene zu verfassen.

Ein Buch wie eine Sammlung von Karikaturen – bildhaft und auf den Punkt gebracht

Direkt nach seiner ersten Ecuadorreise 1937 veröffentlichte Bemelmans mit „Quito Express“ ein Bilderbuch, das die unfreiwillige Zugfahrt des kleinen Pedro von Otavalo nach Quito und zurück beschreibt. Das Buch war jedoch in den USA kein Publikumserfolg. In Ecuador erschien es erst vor wenigen Jahren in einer dreisprachigen Ausgabe. Auch „The Donkey Inside“, in dem der Autor 1941 seine Reisen nach Ecuador und in andere lateinamerikanische Staaten in einer Art fantastischem Roman zusammenfasst, ist heute weitgehend vergessen. Zu Unrecht. Zwar mag manches im Tonfall des Autors, insbesondere die Beschreibung der indigenen Bevölkerung, aus heutiger Sicht recht chauvinistisch klingen. Aber der scharfe Beobachter Bemelmans zeichnet zugleich ein liebevolles, nuancenreiches und eindrückliches Bild von Land und Leuten, das seinesgleichen sucht und deswegen auch heute noch eine Lektüre lohnt.

The Donkey Inside – Titelblatt der Londoner Ausgabe von 1947

„Im Inneren des Esels“ ist farbig, bildhaft und oft hemmungslos karikierend. Es berichtet von den reichen Familien der Hafenstadt Guayaquil, die es bis in die Dreißiger des 20. Jahrhunderts häufig vorzogen, in Frankreich zu leben, und nur von Zeit zu Zeit auf den Haciendas ihrer Heimat nach dem Rechten schauten. Von den alteingesessenen Bürgern Quitos, die viel Mühe darauf verwenden, ihre Töchter standesgemäß zu verheiraten. Von den zahlreichen Söhnen eines nicht ganz so vermögenden Landbesitzers, die davon träumen, eines Tages in den USA zu leben. Und von europäischen Glücksrittern und deutschen Auswanderern, die zwischen großer Freiheit und der Sehnsucht nach Ordnung und Gründlichkeit schwanken. 

„Jeden Donnerstag Nachmittag um halb drei haben wir hier eine Revolution“

Bemelmans bewegte sich während seines Ecuadoraufenthalts viel unter Diplomaten und anderen Ausländern. Vor allem diese bekommen im „Inneren des Esels“ ihr Fett weg: Der britische Abenteurer Allan Ferguson, der unermüdlich nach dem Goldschatz des letzten Inka-Herrschers Atahualpa sucht, wird mit den lapidaren Worten kommentiert, „solchen Menschen ist einfach nicht zu helfen“.Vom Botschafter des Deutschen Reiches heißt es mit bitterer Ironie, er sei, „in diesem Land voller Überraschungen“ tatsächlich „ein freundlicher und kultivierter Herr.“ Aber auch die kleine einheimische Elite nimmt Bemelmans gerne aufs Korn: „Hier in Quito haben wir nicht so viel an Unterhaltung zu bieten wie in den großen Städten“, zitiert er einen imaginären früheren Staatspräsidenten. „Hier in Quito müssen Sie ihre Frau lieben; oder Sie gehen nach New York, oder, wenn Sie ganz viel Glück haben, nach Paris.“

Jede der fiktiven Persönlichkeiten des Buchs ist eine Zuspitzung in sich: Der exzentrische Historiker Juan de Palacios charakterisiert sein Heimatland Ecuador mit den Worten: „Geschichte…ist eine Fabel, die von einer Mehrheit als wahr angesehen wird. Bei uns ist es eine blutige, farbenfrohe Fabel – mit Gewalt, Gold, Inkas, Verrat (…) Unsere Archive sind größtenteils unzuverlässig, und unsere Statistiken reine Schätzung (…) Jeden Donnerstag Nachmittag um halb drei haben wir hier eine Revolution“. 

Ein Schelm, wer sich bei der Lektüre an die ecuadorianische Gegenwart erinnert fühlt

Vieles klingt den heute in Ecuador Lebenden nicht unbekannt. Das entspannte Verhältnis vieler Einheimischer zu Terminen und Abfahrtszeiten ist ein wiederkehrendes Thema des Eisenbahnliebhabers Bemelmans: „Nach dem Sonnenstand ist es jetzt halb acht; die Glocken der Kathedrale läuten gerade Dreiviertel sieben, und auf der Bahnhofsuhr ist es zehn Minuten vor sieben. Es gibt eine Sternwarte in Quito, die die richtige Uhrzeit kennt, aber die können wir von hier aus gerade nicht sehen.“ Die Deutsche Schule, 1937 unter enger Kontrolle der Nationalsozialisten, gilt zwar als „die beste Schule des Landes“, aber auf Schulbildung allgemein wird im damaligen Ecuador nicht allzu viel Wert gelegt: „Die Feste aller Heiligen der Katholischen Kirche und diverser lokaler Madonnen, die zahlreichen Feiertage aus Anlass der Unabhängigkeit und wichtiger Schlachten, und die Geburtstage von Sucre und Bolívar sowie des jeweiligen Präsidenten sorgen dafür, dass in Quito immer Festtagsstimmung herrscht, und reduzieren die Zahl der jährlichen Schultage auf 79.“ 

„denn hier habe ich mehr als anderswo die Dinge gefunden, die ich für Südamerika typisch fand“

Ecuador ließ Bemelmans lange nicht los. „Now I lay me down to sleep“, 1943 veröffentlicht, beschreibt die turbulente Reise eines gealterten ecuadorianischen Generals von Biarritz über Casablanca bis zu der heimatlichen Hacienda seiner Familie in Ecuador. Sechs Notizbücher und mehr als einhundert Zeichnungen entstanden auf den Reisen des Autors und Zeichners. „The Donkey Inside ist in gewisser Weise ein Porträt eines Kontinents, aber es spielt in Ecuador, denn hier habe ich mehr als anderswo die Dinge gefunden, die ich für Südamerika typisch fand“ schreibt der Autor im Nachwort zu seinem Buch. „Es ist ein wunderschönes, liebenswertes und verrücktes Land.“

2. September 2022

„The Donkey inside“ lässt sich antiquarisch, wie auch einige andere Romane von Ludwig Bemelmans, im Internet erwerben. Eine deutsche Übersetzung gibt es leider nicht. „Quito Express“ ist in Quito im Buchhandel erhältlich.

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Ecuador Leben und Gesellschaft

Christkindfiguren und geflügelte Schweine – der Pfarrer und Künstler Tito Heredia

Tito Heredia würde im Publikum nicht auffallen, wenn in einem europäischen Opernhaus Benjamin Brittens „Tod in Venedig“ gegeben wird: Schwarze Brille, beigefarbene Leinenhose, das hellblaue Hemd hängt lässig darüber, Schiebermütze.  Seit acht Jahren ist er Pfarrer der Gemeinde von San Marcos im historischen Zentrum Quitos. Und er ist Künstler, war es schon immer. „Ich wollte die Kunst eigentlich zum Beruf machen. Und dann wurde es doch Theologie. Aber nachdem ich die ersten harten Jahre des Studiums hinter mir hatte, habe ich parallel begonnen, auch Kunst zu studieren.“ Dabei ist es geblieben. „Durch meine Kunst habe ich regelmäßig meine Pfarrgemeinden mitfinanziert. Hier, diese Figur des Jesuskindes („Niño Jesús“) ist seit dreißig Jahren einer meiner Verkaufsschlager. Der jetzige Erzbischof von Quito bestellt zu Weihnachten immer einige davon für seine Kontakte, sogar dem Papst hat er eine geschenkt!“. 

Pfarrer mit einem Faible für Kunst und Geschichte

Im Pfarrhaus hat der Geistliche nicht nur sein Atelier, sondern auch einen eigenen Verkaufsraum eingerichtet. Ihn faszinieren vor allem traditionelle Druck- und Gießtechniken. Für seine Arbeiten benutzt er alte Stempel, selbst gefertigte hölzerne Druckstöcke oder traditionelle ländliche Gussformen aus Ton. Ganz besonderes gern verwendet er auch dekorative Elemente aus Zinnblech, die er nach eigenen Entwürfen in Mexiko herstellen lässt. Damit dekoriert er unter anderem die hölzernen Kreuze, die eines seiner Markenzeichen sind. Sie leuchten in bunten Farben, lila, rosa, grün und rot.  Konventionell ist wenig an Heredia Werken. Eine Serie von Holzschnitten widmet sich den traditionellen Teufelsdarstellungen in unterschiedlichen Regionen Ecuadors. Die tönernen Schweine, die er mithilfe einer aus der Kleinstadt Pujilí stammenden Gussform anfertigt, tragen entgegen der Tradition goldene Engelsflügel. „Ein Käufer hatte mich darum, gebeten, und Sie wissen, Sterbenden und Kunden erfüllt man jeden Wunsch…“

Die Calle Junín, Straße von Künstlern und Intellektuellen

Das Pfarrhaus von San Marcos wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts errichtet, um die Zeit der Unabhängigkeit Ecuadors im Jahr 1822. Die Calle Junín, an deren Ende Haus und Kirche liegen, war bis in die Sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine Wohngegend des wohlhabenden Bürgertums. In den folgenden Jahrzehnten jedoch zogen sich die großbürgerlichen Familien immer mehr aus dem zunehmend als gefährlich geltenden Zentrum Quitos zurück und bauten sich großzügigere Einzelhäuser in den rasch wachsenden Vororten der Stadt. Die historischen Wohnhäuser in der Straße verfielen, bis zu Beginn des neuen Jahrtausends Intellektuelle wie der Sprachforscher Matthias Abram und der frühere Dirigent des nationalen Sinfonieorchesters, Álvaro Manzano, die Calle Junín für sich entdeckten. Dennoch wurden die Bewohner des Viertels im Durchschnitt immer älter, und viele von ihnen überlebten die ersten Monate der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 nicht. „So viele meiner älteren Gemeindemitglieder sind damals gestorben, als es noch keine Impfung gab, es war dramatisch!“, erzählt Tito Heredia, „Mindestens sechs Häuser in der Nachbarschaft stehen jetzt deshalb leer.“

Kunst und Theologie gehen Hand in Hand: Tito Heredia in seinem Atelier

Als Heredia vor acht Jahren sein denkmalgeschütztes Pfarrhaus bezog, war es in einem erbärmlichen Zustand. Mithilfe der städtischen Denkmalschutzbehörde konnte der kunsthistorisch interessierte Pfarrer binnen dreier Jahre die notwendigen Mittel für die Restaurierung beschaffen. Die Arbeiten beaufsichtigte er persönlich und legte selbst Hand an, wo notwendig. Das Haus ist heute ein Schmuckstück. Die hölzernen Fußböden sind nur in Teilen original erhalten, wohl aber die von der Zeit gezeichnete Treppe zum oberen Stockwerk. Von den langen Fluren zweigen die Räume ab wie Klosterzellen. Das Esszimmer ist mit eindrucksvollen Gemälden ausgestattet, unter anderem mit einer für Quito typischen Darstellung des Heiligen Joseph mit dem Jesuskind. Natürlich kam eine solche Einrichtung nicht mit dem Haus: Tito Heredia ist ein fanatischer Sammler. Selbst in der Küche finden sich in jedem Winkel religiöse Kunstwerke unterschiedlicher Provenienz, direkt neben Haushaltsutensilien und einer Schale mit schrumpligen Mandarinen.

Für Kunsthistoriker gibt in San Marcos noch einiges zu entdecken

Auf einem Stuhl neben der Tür liegt das letzte Buch der US-amerikanischen Kunsthistorikern Susan Webster: „Lettered Artists and the Languages of Empire: Painters and the Profession in Early Colonial Quito“. „Susan ist eine gute Freundin, und dieses Buch ist eine wahre Fundgrube, es liefert so viele interessante Fakten! Hier in Ecuador versteht man unter Geschichte ja eigentlich immer nur eine Sammlung von Legenden und Traditionen, es gibt kaum wissenschaftlichen Werke wie dieses, auch nicht zur Kunstgeschichte!“ Auch in der um 1680 errichteten Pfarrkirche San Marcos gibt es für kunsthistorisch Interessierte einiges zu entdecken: Dort findet sich zum Beispiel ein weiterer Joseph in Lebensgröße, mit silberner Krone. Der Altar ist, verglichen mit anderen in der Stadt, dagegen recht schlicht gehalten. Auffallend sind die zwei auf Zinnblech gemalten knienden Engel, präraffaelitisch angehaucht, die ihn zieren. Hinter dem Hochaltar befindet sich ein nicht sichtbarer Vorgängeraltar, der mangels Geld schlicht auf die Wand gemalt worden war. Auch an den übrigen Wänden verstecken sich unter mehreren Farbschichten Bemalungen aus früheren Zeiten, die freizulegen eine Aufgabe für die Zukunft bleibt. 

Jährlich am Karsamstag organisiert der Geistliche in seiner Gemeinde die kleine, aber feine „Prozession der Einsamkeit Mariens“ („Procesión de la Soledad de Maria“): Nach sorgfältig geplanter Choreographie ziehen auffällig geschmackvoll gekleidete Folkloregruppen mit den Gemeindemitgliedern durch die Straßen, weit weg vom lärmenden Trubel der bekannteren Karfreitags-Prozession. Wie lebt es sich mit diesem permanenten ästhetischen Anspruch, zwischen Kunst und Theologie? „Ach wissen Sie, ich gelte ja in Kirchenkreisen so ein bisschen als Verrückter. So lange man mich in Ruhe meine Arbeit machen lässt, bin ich zufrieden.“ Tito Heredia winkt zum Abschied von der Türschwelle, sichert die Haustür zusätzlich mit einer soliden Eisenstange, und verschwindet im Innern seines Refugiums. 

Pfarrkirche und Gemeindehaus San Marcos, Plaza de San Marcos, Ecke Javier Gutierrez/Junín. Der Verkaufsraum ist zu folgenden Zeiten geöffnet: Dienstag bis Freitag von 9 bis 12 und 15 – 17 Uhr. Außerhalb dieser Zeiten ist Pfarrer Tito Heredia per WhatsApp unter 00593 98 535 8069 zu erreichen.

8. Juli 2022

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Ecuador

Die Kuppeln von Santo Domingo

Am 28. Mai 1990 besetzte eine Gruppe von Indigenen die Kirche von Santo Domingo im Herzen Quitos. Sieben Tage lang hielten sich rund 240 Menschen auf dem Gelände des Dominikanerklosters auf. Die von den Besatzern an die ecuadorianische Regierung gerichteten Forderungen bildeten gewissermaßen den Prolog zum ersten großen „levantamiento indígena“ („Indigenenaufstand“) Ecuadors wenige Tage später. Zweiunddreißig Jahre danach, wieder im Juni, ist die Plaza von Santo Domingo allabendlicher Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei. Leónidas Iza, Vorsitzender der „Konföderation der indigenen Nationen Ecuadors“ (CONAIE), hat zu einem unbegrenzten Generalstreik aufgerufen. Seit fünf Tagen sind zahlreiche Straßen im Land von Baumstämmen, Autos und brennenden Reifen blockiert. Viele Läden im Zentrum der Hauptstadt haben aus Angst vor Plünderungen geschlossen; der Schulunterricht fällt aus. Morgens um neun Uhr an diesem Freitag ist der Kirchplatz allerdings menschenleer. Die kleine Reinigung gegenüber öffnet gerade, die Kerzenverkäuferin in der Kittelschürze baut vor der Kirchentür ihren Stand auf.

Wenige Minuten später stehe ich mit Padre Oswaldo, dem Prior des Klosters, und Bruder Roberto auf dem Dach der Kirche und schaue auf die Stadt. Direkt gegenüber  erhebt sich der „Brötchenhügel“ Panecillo mit seiner übergroßen Statue der „Jungfrau von Quito“; im Nordwesten ist am Hausberg Pichincha das Denkmal zur Erinnerung an die Befreiungsschlacht von 1822 zu erkennen. „Bei uns Dominikanern gibt es seit dem 16. Jahrhundert eine besondere Beziehung zu den Indigenen, weil sich Angehörige des Ordens, wie zum Beispiel Francisco de Vitoria, schon damals die Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung durch die spanischen Kolonialherren mit deutlichen Worten anklagten“, erklären sie mir. 

Indigene in der Sakristei von Santo Domingo am 28. Juni 1990 (© Anahí Macaroff)

Die beiden Geistlichen sind behende die schmale Treppe zum Dach hinaufgeklettert, steigen entspannt über lose Kabel und brüchige Stufen. Nun setzen sie sich in einer Nische, baumeln mit den Beinen und erzählen. „Neulich hat sich ein Hochzeitspaar nach der Trauung hier oben fotografieren lassen. Die Braut ist bis ganz oben auf die Kuppel geklettert, mit hochhackigen Schuhen!“ Die zwei grünen Kuppeln von Santo Domingo bilden das Dach der darunter liegenden Rosenkranzkapelle. Eine dritte, viel kleinere Kuppel zur Calle Maldonado hin, erhebt sich über dem „Camarín“, einem winzigen Raum hinter dem Altar der Kapelle, an dem die Kleidung der Marienstatue in einer Truhe verwahrt wird. 

So sah einmal das Dach aus: Überreste bunter Fliesen mit Pflanzendekor

Im 16. Jahrhundert ordnete der Dominikanerpapst Pius V. aus Dank über den Sieg der christlichen Truppen in der Seeschlacht von Lepanto (1531) an, dass jede Kirche seines Ordens der „Maria vom Rosenkranz“ eine eigene Kapelle weihen solle. Die erste Kapelle in Quito wurde etwa zur Zeit der Fertigstellung der Kirche im Jahr 1624 errichtet. Rund einhundert Jahre später wurde sie dann erheblich vergrößert. Das abschüssige Klostergelände reichte dafür allerdings nicht mehr aus. Deshalb wurde die angrenzende Calle Loma (heute die Calle Rocafuerte) mit der neuen Kapelle überbaut; bis heute ist der „Arco de Santo Domingo“ ein Wahrzeichen des Viertels. Vor wenigen Jahren noch war das Kapellendach deutlich bunter: an seinem Rand finden sich Überreste von vielfarbigen Kacheln mit Pflanzenornamenten, die möglicherweise aus Spanien oder Peru importiert wurden und früher große Flächen des Dachs bedeckten.

Eine Kapelle wächst über die Straße: der „Arco de Santo Domingo“

Geplant wurde die Kapelle in der Zeit, in der der begabte Maler Pedro Bedón (gestorben 1621) Prior der Klostergemeinschaft war. Gemeinsam mit dem Architekten Sebastián Avila (dieser erkennbar am Kompass in seiner Hand) ist er auf einem Wandgemälde oberhalb der Vierung, ganz links von der Rosenkranzmadonna zu sehen. 

Rot für das Blut Christi, Gold für die Vollkommenheit Gottes
Rot und Gold: Im Innern der Rosenkranzkapelle

Durch eine rotgestrichene, eiserne Pforte betritt man die rechts vom Kirchenschiff gelegene prächtige Kapelle. Auch die Wände sind vollständig in den Farben Rot und Gold gehalten, zur Erinnerung an das vergossene Blut Christi und Gottes Vollkommenheit. Es gibt dort wunderbare Details zu entdecken. An der Kanzel zur Linken das Wappen der Dominikaner, eine lebendige Darstellung jenes Hundes mit der Fackel im Maul, der zum Symbol des Heiligen Dominikus wurde. Gegenüber an der westlichen Wand ein ungewöhnliches Bild der Heiligen Anna, der Mutter Marias, als Schwangere. Und, wie so oft in Ecuador, ein fast jugendlicher Joseph, der den neugeborenen Jesus nicht seiner Frau überlässt, sondern ihn selbst auf dem Arm trägt. Die Kuppeln sind auch von innen schön, obgleich sie im Jahre sie im Zuge der letzten Renovierungsarbeiten von 2018 eher schlicht bemalt wurden.

Im kolonialen Quito war auch die Rosenkranzbruderschaft streng nach Herkunft gegliedert
Die Mutter des heiligen Dominikus träumte, sie werde einen Hund mit einer Fackel im Maul gebären: Das Wappen der Bruderschaft an der Kanzel

In der Rosenkranzkapelle versammelten sich seit dem 16. Jahrhundert die Angehörigen der örtlichen Rosenkranzbruderschaft, einer von den Dominikanern gestifteten Laiengemeinschaft, zum Gebet. Unter den besonderen Bedingungen der Kolonie mit ihrer stratifizierten Gesellschaft gab es jedoch nicht nur eine, sondern drei Gemeinschaften: Die Spanier und ihre vor Ort geborenen Nachkommen, die „Criollos“, feierten ihre Gottesdienste streng getrennt von den Indigenen und den in den Quellen so genannten „Africanos“, den Nachkommen afrikanischer Sklaven.

Mit der umfangreichen Erweiterung von 1730 wurde die Kapelle physisch und auch spirituell vorübergehend beinahe zu einer Art Nebenkirche, deren von Laien gebildete Führung sich weitgehend der Kontrolle durch die Dominikaner entzog. Dieser Wettbewerb zwischen Geistlichen und Laiendominikanern scheint jedoch heute vergessen. Die ecuadorianische Juristin und Gewerkschaftsaktivistin Isabel Robalino, die dem Orden achtzehnjährig als Laiin beigetreten war, verbrachte die letzten zwölf Jahre ihres langen Lebens auf Einladung der Padres im Konvent Santo Domingo, wo sie im Januar 2022 mit 104 Jahren verstarb. Aufgebahrt wurde sie in der Rosenkranzkapelle.

Der Weg aus der Stille der Kirche und des Kreuzgangs führt mich vorbei an vier Polizisten in gelben Warnwesten; noch sitzen sie entspannt auf den Sofas im Eingangsbereich und widmen sich ihren Handys. Aber fast bin ich zurück in der Wirklichkeit des unruhigen Ecuador. „Seien Sie vorsichtig“, ermahnt mich die Blumenverkäuferin am Straßenrand. „Ich selbst verschwinde spätestens um drei Uhr nachmittags von hier, bevor es wieder losgeht!“ Am Abend die bereits vertrauten Bilder in den sozialen Medien: Steine werfende junge Leute, Tränengas sprühende Polizisten, fallende Absperrgitter, Polizeisirenen auf der Plaza vor der Kirche. Santo Domingo ist und bleibt ein symbolträchtiger Ort für Viele. 

19. Juni 2022

Kirche und Museum von Santo Domingo sind Montag bis Samstag täglich ab 9.15 geöffnet. Der selbständige Besuch der Kuppeln ist leider nicht immer möglich, Glück hat man oft am Samstag oder an Feiertagen. Führungen werden zum Beispiel hier angeboten: https://quitotourbus.com/tour-cupulas-de-santo-domingo

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Ecuador Musik Textos en español

Dame la fuerza para luchar – „Manuela y Simón“ en Quito

El 24 de mayo de 2022, Quito celebró su „Bicentenario“, el aniversario 200 de la Batalla del Pichincha, en la que los patriotas al mando de Antonio José de Sucre derrotaron al ejército realista y sellaron así la independencia de Ecuador de la corona española. Simón Bolívar, el „libertador de América del Sur“, no tomó parte en la batalla porque se detuvo peleando en Pasto, al sur de lo que hoy es Colombia. Pero, poco después entró a Quito con gran aclamación. Durante esta estancia conoció a Manuela Sáenz, la hija natural de un noble español, mujer comprometida en la lucha por la libertad, quien pronto se convirtió en su amante. Bajo el título „Manuela y Simón – Música de cuando Quito se declaró libre“, estudiantes de la Universidad Central presentaron una síntesis de las artes en la Casa de la Cultura Ecuatoriana, el día de la Batalla de Pichincha, e inspirada en melodías del Quito de 1820.

El Teatro Nacional, con sus 1500 butacas, en esta ocasión se llenó por completo; tampoco hubo mucho espacio en el escenario: alrededor de 60 estudiantes de la Carrera de Artes Musicales conformaban la „Orquesta de la Independencia“, integrando a la vez instrumentos sinfónicos y autóctonos (como quenas, marimbas y zampoñas) que actualmente se estudian en la carrera de música. La orquesta, dirigida por Juan Carlos Panchi y César Santos Tejada, estuvo complementada por un coro de veinte estudiantes y un conjunto de danza interdisciplinario. Moderaron el evento dos experimentados actores y narradores, los docentes Santiago Rodríguez y Madeleine Loayza.

Dos mundos musicales se encuentran

El Quito musical de principios del siglo XIX se caracterizó por dos mundos que no podían ser más diferentes: la música tradicional, pentatónica del pueblo andino, interpretada en su mayoría con instrumentos de viento y percusión, que era lo que la gente común escuchaba y tocaba fuera de los servicios católicos. Los colonos y mestizos de origen español, por otro lado, tuvieron contacto con la música religiosa y cada vez más secular de los gobernantes coloniales europeos, que fue asimilada por compositores locales y desarrollada en su propio estilo.

Ambos elementos confluyen en una colección, del año 1848, de “varias tocatas de violín antiguas y nuevas”, cuyas melodías bailables forman la base de la mayoría de los arreglos sinfónicos de “Manuela y Simón”. Tarea nada fácil, este paso de una forma tan pequeña a una tan grande. Las piezas orquestales “simbióticas” resultantes fueron escritas por Pablo Guerrero Gutiérrez, un incansable y meticuloso investigador de la historia de la música ecuatoriana, y por Juan Carlos Panchi, Coordinador de la carrera de Artes Musicales, entre otros.

La velada comenzó con sonidos folklóricos, o más bien místicos, que, según el excelente folleto del programa, querían evocar la diversidad musical del Ecuador. Pero las siguientes piezas ya cerraron la brecha entre el nuevo y el viejo mundo, entre eventos revolucionarios en dos continentes. A estas composiciones las llamaron “El Yacovino” (Jacobino) y “La guillotina“. En esta su ritmo marcial y su melodía abiertamente hacen alusión a la Marsellesa, para luego convertirse en una ligera pieza de baile.

Melodías que acompañaron la lucha por la independencia

Muchas de las composiciones compiladas en la edición del 1848 tienen títulos originales que hacen referencia a hechos de la lucha por la independencia de Quito: „La derrota en el Panecillo“ o „1° Pichincha“, presuntamente en homenaje a un batallón de luchadores por la independencia que se denominaba así. Y se vuelve aún más específico: „Este valse tocaba la tropa cuando Bolívar entró a Quito“, dice el manuscrito de 1848. Además del vals “moderno” a la época, la contradanza ya un tanto anticuada, aparentemente figuraba entre las danzas preferidas de los quiteños: en la serie de Netflix “Bolívar”, Manuela Sáenz baila esta danza grupal con su futuro amante, a quien acaba de conocer en persona, tal como ella lo escribió en una carta.

En la Casa de la Cultura las cosas ahora se animan con una „Bomba“, un baile tradicional de la población afroecuatoriana del Valle del Chota, que aún hoy es popular en Ecuador; el ritmo en el escenario aumenta, al igual que el entusiasmo en el auditorio. Una de las bailarinas balancea una botella sobre su cabeza sin detenerse en su movimiento de caderas: el público aplaude con fuerza. Y el siguiente „Capuchino“, en realidad un vals con toques de música de salón, también contribuye significativamente a la atmósfera.

No se ha hablado aún de los bailarines. Los doce jóvenes provenientes de todo el Ecuador le dan a la actuación la viveza que de otro modo tal vez le hubiera faltado a un concierto tan sabiamente abordado. Corren, saltan, ruedan por el suelo, transformando lo escuchado en algo concreto y vivido, creando entre la música y el público una conexión, que con su corporeidad recuerda representaciones de „La consagración de la primavera“ de Stravinsky. Y así también forman un vivo contraste con las imágenes de aspecto un poco pálido en el fondo del escenario.

La Universidad Central es la universidad más antigua de Ecuador, pero se ve frente a muchos retos

La Facultad de Artes de la tradicional Universidad Central, la más antigua del Ecuador, cuenta con 1100 estudiantes. “La educación es más importante que cualquier cosa”, se puede traducir su lema del latín. “Nuestros estudiantes provienen de las zonas más pobres del país”, explica la decana de la Facultad de Artes, Carmen Jijón. Lo que muchos estudiantes de costosas universidades privadas dan por sentado, como tener una buena educación y acceso a los estudios de arte, música y danza, a estos jóvenes les ha costado gran esfuerzo. 

“Dame la fuerza para luchar, Manuela” cantan en el estribillo final, escrito para la ocasión por el docente y compositor Luis Rodríguez Pazmiño. Un guiño que incita a recordar la sonoridad de la Carmina Burana. En cualquier caso, no faltan las emociones en esta velada. En la prensa circulan estos días comentarios sobre una supuesta campaña de la nueva dirección de la “Casa de las Culturas”, como ahora se hace llamar en las redes sociales, contra el eurocentrismo y la herencia colonial. Llamémoslo pragmáticamente solo una expresión de confianza en sí mismo. „Adelante, adelante, adelante Universidad Central“, esclama la sala mientras los músicos y bailarines hacen reverencias. Uno solo puede estar de acuerdo con eso. (Adaptación del Alemán: Andrés Torres, Marcela García, Benita Schauer)

25 de mayo de 2022

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Ecuador Musik

„Manuela y Simón“ in der Casa de la Cultura

Am 24. Mai 2022 feiert Quito sein „Bicentenario“, den 200. Jahrestag der Schlacht am Vulkan Pichincha, in der die Aufständischen unter Antonio José de Sucre das spanientreue Heer schlugen und damit die Unabhängigkeit Ecuadors von der spanischen Krone besiegelten. Simón Bolivar, der „Befreier Lateinamerikas“, nahm an der Schlacht nicht teil, da er durch Kämpfe in Pasto, im Süden des heutigen Kolumbiens, aufgehalten wurde, zog aber wenig später umjubelt in Quito ein. Bei diesem Aufenthalt lernte er Manuela Sáenz kennen, uneheliche Tochter eines spanischen Edelmannes und engagierte Freiheitskämpferin, die alsbald seine Geliebte wurde. Unter dem Titel „Manuela und Simón – Musik aus der Zeit, als Quito seine Unabhängkeit erklärte“, präsentieren Studenten der Universidad Central am Tag der Schlacht von Pichincha in der Casa de la Cultura Ecuatoriana ein Gesamtkunstwerk, dessen Inspiration Melodien aus dem Quito der 1820er Jahre bilden.

In dem mit 1500 Zuschauern vollständig gefüllten Saal ist auch auf der Bühne an diesem Abend nur wenig Platz: Rund 60 Studierende des Fachbereiches für Musik bilden das eigens formierte „Orchester der Unabhängigkeit“, das unter der Leitung von Juan Carlos Panchi und César Santos Tejada symphonische und einheimische Instrumente wie Quena und Zampoña vereint. Dazu ein zwanzigköpfiger Chor, ein interdisziplinär genanntes Tanzensemble, und das Ganze moderiert von den souverän agierenden Schauspielern und Dozenten Santiago Rodriguez und Madeleine Loayza.

Zwei musikalische Welten treffen aufeinander

Das musikalische Quito zu Beginn des 19. Jahrhunderts war geprägt durch zwei Welten, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Die traditionelle, pentatonisch geprägte Musik der Andenbevölkerung, meist von Blas- und Schlaginstrumenten interpretiert, war das, was die einfache Bevölkerung außerhalb der katholischen Gottesdienste hörte und spielte. Die bereits in Lateinamerika geborenen spanischstämmigen Siedler und Mestizen dagegen hatten Kontakt zur religiösen und zunehmend auch weltlichen Musik der europäischen Kolonialherren, die von Komponisten vor Ort aufgenommen und in ihrem eigenen Stil weiterentwickelt wurde. 

Beide Elemente vereinen sich in der 1848 in Quito zusammengestellten Ausgabe von „Alten und neuen Toccaten für Violine“, deren tänzerische Melodien die Grundlage der meisten symphonischen Arrangements von „Manuela y Simón“ bilden. Keine leichte Aufgabe, dieser Schritt von der ganz kleinen zur ganz großen Form. Die meisten der so entstandenen „symbiotischen“ Orchesterstücke entstammen der Feder von Pablo Guerrero Gutiérrez, einem unermüdlichen und präzisen Forscher zur ecuadorianischen Musikgeschichte. Der Abend beginnt mit volkstümlichen, eher mystischen Klängen, die laut dem exzellenten Programmheft die musikalische Vielfalt Ecuadors evozieren sollen. Aber schon die nächsten Stücke schlagen die Brücke zwischen Neuer und Alter Welt, zwischen revolutionären Ereignissen auf zwei Kontinenten. „Der Jakobiner“ und „Die Guillotine“ nennen sich die beiden Kompositionen, von denen letztere ganz unverhohlen auf Melodie und Duktus der Marseillaise anspielt, um sich anschließend in ein eher leichtfüßiges Tanzstück zu verwandeln.

Melodien, die den Kampf um die Unabhängigkeit begleiteten

Viele der hier bearbeiteten Kompositionen tragen Originaltitel, die auf Ereignisse des Unabhängigkeitskampfes von Quito verweisen: „Die Niederlage am Panecillo“ oder „1° Pichincha“, vermutlich eine Referenz an ein so benanntes Batallion der Unabhängigkeitskämpfer. Und es wird noch konkreter: „Diesen Walzer spielten die Soldaten, als Simón Bolivar in Quito einzog“, heißt es in dem Manuskript von 1848. Neben dem modernen Walzer zählte offenbar auch der schon etwas altmodische Kontratanz zu den bevorzugten Tänzen der Quiteños: In der Netflix-Serie „Bolivar“ tanzt Manuela Sáenz mit ihrem zukünftigen Liebhaber, den sie gerade erst persönlich kennengelernt hat, diesen Gruppentanz – so wie es auch aus ihren Briefen an Bolivar überliefert ist.

In der Casa de la Cultura aber wird es jetzt lebhaft: Mit der „Bomba“, einem traditionellen Tanz der afroamerikanischen Bevölkerung des Chota-Tals, der bis heute in Ecuador populär ist, steigt das Tempo auf der Bühne wie auch die Begeisterung im Zuschauerraum. Eine der Tänzerinnen balanciert eine Flasche auf dem Kopf, ohne dabei im Hüftschwung innezuhalten – das Publikum applaudiert lautstark. Und auch der folgende „Kapuziner“ (Capuchino), eigentlich ein Walzer mit Salonmusik-Anklängen, trägt deutlich zur Stimmung bei. 

Von den Tänzern war bisher noch nicht die Rede. Die zwölf jungen Leute aus ganz  Ecuador geben der Aufführung die Lebendigkeit, der bei einem so wissenschaftlich angegangenen Konzert sonst vielleicht gefehlt hätte. Sie rennen, springen, rollen über den Boden, machen das Gehörte konkret und plastisch, schaffen eine Verbindung zwischen Musik und Zuschauern, die in ihrer Körperlichkeit an Aufführungen des „Sacre du Printemps“ von Strawinsky erinnert.  Und bilden so auch einen lebendigen Kontrast zu den etwas blutleer wirkenden Bildprojektionen im Bühnenhintergrund.

Die Universidad Central ist die älteste Universität Ecuadors – und eine der ärmsten

1100 Studenten hat die Fakultät für Bildende und Darstellende Kunst an der traditionsreichen Universidad Central, der ältesten Universität Ecuadors. „Wichtiger als alles ist die Bildung“, lautet ihr Motto. „Unsere Studierenden kommen aus den ärmsten Gegenden des Landes“, erläutert die Dekanin der Fakultät, Carmen Jijón. Was für viele Studierende teurer Privatuniversitäten selbstverständlich ist, eine gute Ausbildung, Zugang zu Kunst, Musik und Tanz, haben sich diese jungen Leute hart erarbeitet. 

„Da me la fuerza para luchar, Manuela“ (Gib mir den Mut zu kämpfen) singen sie in dem für den Anlass geschriebenen Schlusschor des Komponisten Luis Rodríguez Pazmiño. Ein Schelm, wer sich dabei klanglich an die Carmina Burana erinnert fühlt. An Emotionen jedenfalls mangelt  es nicht an diesem Abend. Dieser Tage kursieren in der Presse Kommentare zu einer angeblichen Kampagne der neuen Leitung der „Casa de las Culturas“, wie sie sich in den sozialen Medien nun nennt,  gegen Eurozentrismus und koloniale Erblasten. Nennen wir es pragmatisch einfach eine Äußerung von Selbstbewusstsein. „Adelante, adelante, adelante Universidad Central“ (Vorwärts, Universidad Central), ruft der Saal, als sich die Musiker und Tänzer verbeugen. Da kann man nur mit einstimmen.

25. Mai 2022

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Ecuador Leben und Gesellschaft

„Unser Motto ist die Tat“ – der Hilfsverein der „Damas Alemanas“

Patricia und Joselyn kichern und sind bester Laune. Die beiden Dreizehnjährigen haben von ihrer Schulleiterin die Erlaubnis bekommen, für eine Stunde die Schule zu schwänzen. Denn die „Damas Alemanas“ sind heute da mit der monatlichen Essenskiste. Obst, Gemüse, Milch, Hülsenfrüchte, Eier. Über zwanzig Kilo, die können nur mit dem Geländewagen bis zu dem an einem steilen Hang gelegenen Häuschen transportiert werden, in dem Patricia mit ihrer neunköpfigen Familie wohnt. Und die „Damas“ kennen den Weg noch nicht. Also setzt sich Patricia hinten ins Auto, und Joselyn gleich mit, denn sie lebt mit Mutter, Großmutter und zwei kleinen Geschwistern nur etwas weiter unten am Berg.

Die „Damas Alemanas“ sind ein kleiner Hilfsverein von rund fünfzig deutschsprachigen Frauen in Ecuadors Hauptstadt Quito, die sich vor allem die Unterstützung von besonders benachteiligten Kindern und Familien zum Ziel gesetzt haben. Ehrenamtliche Hilfsorganisationen von Deutschen haben in Lateinamerika eine lange Tradition: Die „Deutsche Wohltätigkeitsgesellschaft“  in Argentinien beispielsweise blickt auf eine über hundertjährige Geschichte zurück; auch in Bolivien gibt es seit langem die „Deutschen Freiwilligen“, die in vielfältiger Weise das dortige staatliche Kinderkrankenhaus unterstützen. In Ecuador sind es die „Deutschen Damen“.

Solch ein Name scheint aus der Zeit gefallen. Aber in den Sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts waren es in Quito eben die „Damen der besseren Gesellschaft“, die sich zunächst informell zusammenschlossen:  die Ehefrauen des Leiters der Deutschen Schule und des deutschen Botschafters, die Frau des aus Deutschland eingewanderten Firmenbesitzers. In dem vom Großgrundbesitz weniger Familien und Besitzlosigkeit fast aller übrigen geprägten Ecuador, drei Jahre vor der Landreform von 1964, wollten sie vor allem die Not der Kinder lindern helfen. 1978 wurde, auf Initiative der aus dem nationalsozialistischen Deutschland über Italien nach Ecuador emigrierten Ärztin Ilse Grossmann, aus dem losen Grüppchen ein eingetragener Verein. Die Damen unterstützten das erste SOS-Kinderdorf in Ecuador bei der Renovierung eines Hauses, halfen in entlegenen Bergdörfern und an der Küste mit Schulmaterial und Uniformen, kümmerten sich um Kinder mit angeborenen Behinderungen.

Ohne Geld keine Hilfe

Wer helfen will, braucht neben gutem Willen und engagierten Mitgliedern zunächst eines: Geld. Großes Vermögen war in der kleinen deutschen Gemeinschaft aus Emigranten und vorübergehend im Land lebenden Familien jedoch kaum vorhanden. Mit dem zu Ende der Sechziger Jahre einsetzenden Erdöl-Boom aber eröffneten immer mehr deutsche Unternehmen Vertretungen in Quito, die – zuweilen nach intensivem Klinkenputzen – bereit waren, die Projekte der Damas Alemanas zu unterstützen. Und natürlich wurden die Frauen auch den Erwartungen gerecht, welche die ecuadorianische Oberschicht an sie stellte:  Sie backten „diese wunderbaren deutschen Kuchen“ und verkauften sie, insbesondere bei dem jährlichen Weihnachtsbasar, der über die Jahre zu einer festen Institution in Quito und zu einer Haupteinnahmequelle des Vereins wurde. Aber auch Konzerte und sogar ein immer im Mai organisierter Ball waren nicht nur Attraktionen für die bürgerliche Gesellschaft von Quito, sondern eben auch „fundraising events“.

Was die Damen mit dem verdienten Geld taten, wurde in der Öffentlichkeit lange nur am Rande wahrgenommen. „Wir hatten so einen Kaffeeklatschruf“, erinnert sich eines der aktiven Mitglieder, „dabei bin ich vor zwanzig Jahren vor allem beigetreten, um mich hier sozial zu engagieren.“ Die Frauen arbeiteten diesem Ruf entgegen, schufen spezialisierte Arbeitsgruppen für Medizin, Schulwesen, Veranstaltungen, modernisierten ihre Arbeitsabläufe. „Unser Motto ist die Tat“, zitierte eine Broschüre zum dreißigjährigen formellen Bestehen im Jahr 2008 die langjährige Präsidentin des Vereins Beatriz Schlenker. 

Heute entscheidet nicht Herkunft, sondern das Engagement über die Mitgliedschaft

Beatriz Schlenker, aus Kolumbien stammend, hat ihr Herz an den Verein verloren. 1980 kam sie mit ihrem Mann, einem deutsch-schweizerischen Biologen, nach Ecuador, wurde aber erst zwanzig Jahre später Mitglied. „Ich wollte da eigentlich gar nicht mitmachen, ich hatte mit den Kindern und mit der Arbeit – auf ihrem Grundstück leitete sie lange eine Rettungsstation für Wildtiere – genug zu tun.“ Im Jahr 2001 stieß sie dann doch zu den deutschen Frauen. In Vielem steht sie für eine Generation, die eine neue Epoche bei den Damas einleitete. Zunehmend waren unter den damals fast neunzig Mitgliedern damals nicht mehr nur Deutsche, sondern auch Frauen aus anderen Ländern, die über persönliche Bindungen, Arbeit oder Sprache eine Beziehung zu Deutschland hatten. Immer mehr von ihnen standen selbst im Beruf, brachten neue Erfahrungen und Kontakte mit – aber weniger Zeit. Dennoch fanden sich Mitglieder, die wöchentlich für bedürftige Kinder in einer Kirchengemeinde kochten; die in einer Zwergschule nahe dem Wallfahrtsort El Quinche regelmäßig Musikunterricht erteilten, oder immer wieder persönliche Gespräche mit Familien führten, die um finanzielle Unterstützung bei der Behandlung ihrer schwerkranken Kinder gebeten hatten.

In Portoviejo an der Küste beginnt in diesen Tagen das neue Schuljahr. Hefte und Stifte hätten diese drei Geschwister ohne die Damas Alemanas nicht. ©Cristhian Almeida

Mit jeder Generation ändern sich die Frauen, gibt es andere Erwartungen, werden neue Formen der Kommunikation erprobt. Aber die wirtschaftliche Lage breiter Bevölkerungsschichten ist über die Jahre weitgehend unverändert geblieben. Schon nach dem schweren Erdbeben von 2016 sammelte der Verein Erfahrung mit Nothilfe, half schnell und unbürokratisch zahlreichen Erdbebenopfern mit Lebensmittel- und Kleiderspenden. Mit der Corona-Pandemie erreichte diese Form der Arbeit im Frühjahr 2020 eine neue Dimension. Unzählige im informellen Sektor Beschäftigte verloren binnen Wochen ihre Arbeit, mit der Schließung der Schulen über zwei Jahre fiel auch die oft so notwendige Schulspeisung für bedürftige Kinder aus. Dank intensiver Werbung um Spenden in Deutschland verdreifachten sich binnen kürzester Zeit Budget und Projekte der Damas, und so zogen einige der Frauen vorübergehend fast wöchentlich aus, um Lebensmittelkisten zu packen und für deren Verteilung zu sorgen.

Und immer wieder: Der Hunger im Land als größtes Bildungshemmnis

Mittlerweile ist die Pandemie vorbei, aber die Not keineswegs. „Das größte Bildungshemmnis in unserem Land ist der Hunger“, so die Einschätzung vieler im Bildungssektor Beschäftigter. Und deshalb sind die Damas heute im Flecken „El Carmen“, wo Joselyn und Patricia leben. Die Venezolanerin María Jaimes ist als neues Mitglied zum ersten Mal mit dabei, packt Nahrungsmittel in kleinere Kisten um, schleppt sie durch den Matsch den Berg hinauf. Der Geruch ist gewöhnungsbedürftig, am Hang gegenüber schlachten Nachbarn gerade eine Kuh. Aber die beiden Schülerinnen auf Freigang sind hochzuzufrieden, schieben die Kiste zwischen die kaputten Möbel im Schlafzimmer und schließen die Tür vor der Nase der hungrigen Hunde. Und dann geht es zurück, den langen, holprigen Weg bergab bis zur Schule. „Ich weiß nicht, wie sie das machen, aber die beiden Mädchen sind morgens immer pünktlich“, sagt Klassenlehrer Alexander Panchi.

Erst kommt das Essen, dann die Bücher. Viele Schulkinder in Ecuador sind unter- und fehlernährt.

Warum sie sich bei den „Deutschen Damen“ engagiert, frage ich Sandra Biebeler, Schriftführerin des Vereins und Lehrerin an der Deutschen Schule, die mit Mann und zwei kleinen Kindern seit vier Jahren in Ecuador lebt. „Ich habe schon in Deutschland ehrenamtlich gearbeitet. Als wir nach Quito kamen, war mir klar, dass ich in diesem Land nicht nur nehmen kann, sondern auch geben will. Und die Damas sind einerseits Hilfsorganisation, aber sie sind auch Netzwerk – nie hätte ich neben meiner Arbeit sonst in so kurzer Zeit so viele interessante Frauen kennengelernt!“

Die Mitgliedschaft von Männern allerdings ist bisher nicht vorgesehen in den Statuten, über deren Einhaltung das „Ministerium für wirtschaftliche und gesellschaftliche Inklusion“ (MIES) wie bei allen Nichtregierungsorganisationen im Land penibel wacht. Diese Reform anzustoßen und umzusetzen wird wohl die Aufgabe der nächsten Generation von „Damas Alemanas“ sein.

26. Mai 2022

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Ecuador Musik Textos en español

„Siempre de protesta“ – la musicóloga Inés Muriel

“Desde las salas de concierto de Latinoamérica”, reporta la voz femenina con un ligero acento, pero en selecto alemán. Inés Muriel presenta en Radio DDR II, de la RDA, un resumen de lo que pasa en el mundo de la música clásica en las grandes urbes de Latinoamérica, informa sobre una presentación del Cuarteto Ulbrich de Dresda en La Habana, elogia la “política musical consecuente y efectiva de Cuba”. Estamos en el año 1977. La ecuatoriana Inés Muriel Bravo vive desde inicios de los sesentas en la RDA. Los programas radiales concebidos y producidos por ella en aquella época dibujan la imagen de una mujer erudita, militante y sumamente disciplinada; son testimonio de una vida agitada y a su vez retraída entre Ecuador, Colombia y Alemania.

Nacida en la ciudad ecuatoriana de Riobamba en 1926, fue hija de inmigrantes colombianos. Posteriormente, se mudó junto con sus padres a Quito, la capital, en cuyo Conservatorio recibió clases de piano y canto. Junto con su hermano Guillermo Muriel, un año menor que ella, quien más tarde llegaría a ser un conocido pintor, militó en círculos izquierdistas siendo miembro activo del Partido Comunista del Ecuador.

Por medio del Partido Comunista, a estudiar musicología en la RDA 

Continuó con su militancia luego de mudarse con sus dos pequeñas hijas a Colombia en 1957. Pero en ese tiempo de la Revolución Cubana, marcado por la violencia y la represión, la afiliación al partido representaba para ella un riesgo permanente. El Partido Comunista Colombiano le facilitó, finalmente, una beca política, y fue así que emigró a la RDA en 1963. Inés Muriel quería ocuparse allá de aquello que siempre le había interesado: la música y la musicología. Y quería ver cómo era posible que “sobre el suelo de un antiguo estado fascista pudiera formarse un sistema socialista”, relata su hija Lucía Muriel.

Antes de los estudios, la RDA la puso a sudar: la incipiente musicóloga habría de ganarse su plaza universitaria con trabajo práctico en una fábrica de lámparas. Solo entonces ─tenía treinta y tantos años─ pudo matricularse en la Universidad de Leipzig. La ciudad donde presentó su tesis de graduación sobre la “Cultura musical de los jívaros del Ecuador” se convirtió en su tierra por 18 años: “Creo que no podía ser mejor”, dijo en una entrevista con Rodrigo Villacis Molina en 1980. Trabajó para la radio de la RDA, asistió a artistas como Mercedes Sosa y Oswaldo Guayasamín durante sus estadías; evidentemente, tenía buenas conexiones. Pero ello no le impedía lidiar con aquello que no funcionaba bien en la RDA, ─“siempre de protesta”, dicen que estuvo ─.

“No le voy hacer competencia a nadie”: intento de regreso al Ecuador

Obviamente, existía absoluto interés de parte de la cátedra de Leipzig en llegar a saber más acerca del mundo musical de Latinoamérica por medio de la becaria. “Pero”, como le escribió, resignadamente, al compositor Luis Humberto Salgado en 1967, “nuestros queridos compatriotas ni siquiera por cortesía contestan < a las consultas pertinentes provenientes de Alemania>”. Sin embargo, quería regresar a Ecuador. Tenía la esperanza de un empleo en el Conservatorio, quizás también de la ayuda del compositor Gerardo Guevara, quien, luego de sus estudios en Francia, se convirtió en director titular de la Orquesta Sinfónica Nacional y, más tarde, en director del Conservatorio. Pero fue en vano: que estaba sobrecalificada, se dijo lacónicamente, lo cual Inés Muriel lo interpretó para sí de esta manera: “…les tiene miedo a quienes han superado los niveles de la aldeana mediocridad <…>  Sin embargo, no le voy a hacer competencia a nadie! No soy compositora, no soy directora de orquesta <…> Los machos siempre le cortan el camino a la mujer.”

El trompetista y compositor Édgar Palacios le consiguió, finalmente, una función en el Conservatorio de la melómana localidad de Loja. Ahí investigó sobre la música del pueblo saraguro, incluso llevó a algunos saraguros jóvenes de alumnos a Loja, entre ellos al ulterior dirigente indígena Luis Macas. Luego de seis meses, cuando al Conservatorio se le agotaron los recursos, Muriel encontró un empleo en un proyecto de la UNESCO acerca de las fiestas tradicionales del Ecuador. Pero ahí también se chocaron la ambición científica de la investigadora y la realidad ecuatoriana: el informe final que redactó Muriel rebosaba de quejas de la mala planificación, la falta de equipamiento técnico y el inexistente apoyo de parte del personal.

Por segunda vez: emigración a Colombia

Por ello, cuando la Universidad Libre de Bogotá le hizo una oferta de trabajo como docente en la facultad de musicología de esa institución, Inés Muriel no dudó en aceptarla. Emigró por segunda vez a Colombia… y ahí se quedó. Dio clases, gozando del afecto y respeto de sus alumnos, hasta más allá de sus ochenta años; produjo, aún a los 77 años, notas radiales sobre la música del siglo XX. La música ecuatoriana no aparece en sus más de 200 programas de ese tiempo, ahora disponibles en línea, a excepción de Gerardo Guevara, a quien le dedicó un único programa.

En Ecuador, hay solo unas pocas personas que se acuerdan de la doctora Muriel. En los archivos alemanes, dormitan los informes del servicio de inteligencia de la RDA. En Colombia, la COVID y sus consecuencias impiden el acceso a bibliotecas y registros académicos que podrían revelar informaciones más precisas sobre su actividad. La persona Inés Muriel, de quien unos hablan con admiración, otros, con incomprensión, pero unos pocos, con conocimiento, se sustrae ampliamente al acercamiento periodístico. En las fuentes constan cuatro diferentes años de nacimiento, pero ninguna foto suya. Inés Muriel es hoy en día sobre todo: una voz. La musicóloga falleció el 9 de enero de 2022 en Bogotá. (Traducción del Alemán: Enrique Novas)

26 de abril de 2022

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