Sieben Uhr abends am Karsamstag, Im überdachten Hinterhof eines typischen alten Stadthauses in Cuenca, der drittgrößten Stadt Ecuadors, spielt Musik. Auf der Bühne des Restaurants ein singender Gitarrist und ein Saxophonspieler, die die zumeist jungen Gäste mit eigenen Arrangements erfreuen. Es wird geklatscht und gelacht, gut gegessen und der ein oder andere Cocktail genossen. Zwar stehen die wenigen Tische mit Abstand, tragen die Kellner Maske, sind ohnehin nicht allzuviele Menschen da, aber dennoch: Ein unwirkliches Ambiente. Je weiter der Zeiger der Uhr vorrückt, desto mehr. Während wir vorsichtig berechnen, ob die Zeit bis zur Sperrstunde um acht Uhr noch für einen Nachtisch reicht, beruhigt uns der Kellner: „Keine Eile, wir machen dann nur die Türen nach draußen zu. Die Taxis fahren eh auch noch später.“
In der Nacht zu Karfreitag beschloss die Regierung von Präsident Lenin Moreno, nicht nur alle Strände und Nationalparks über die Feiertage zu schließen, sondern mit unmittelbarer Wirkung in acht Provinzen des Landes wieder den Ausnahmezustand zu verhängen: Sperrstunde ab 20.00 Uhr, Autofahren nur an jedem zweiten Tag je nach Kennzeichen, Weiterführung des verpflichtenden Home Office für alle Staatsbediensteten, Fortsetzung der seit März 2020 bestehenden Schulschließungen. Treffen mit Personen außerhalb der Familie seien verboten, ebenso wie der Verkauf von Alkohol am Abend und an den Wochenenden. Das Militär werde die Einhaltung der Maßnahmen überwachen, deren Dauer noch ungewiss sei.
Als die Ecuadorianer am Karfreitag Morgen aufwachten, rieben sie sich verwundert die Augen, und wandten sich wieder ihrem Tagesgeschäft zu. Nach der gängigen Devise, dass in diesem Land nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird. Auf den Landstraßen waren an diesem Feiertag tatsächlich nur wenige Fahrzeuge unterwegs, aber deren Kennzeichen endeten auf alle nur denkbaren Ziffern. Bis zum Abend erreichten das gegenüber der Regierung und ihren Verlautbarungen weitgehend gleichgültig gewordene Volk immer neue Versionen der Empfehlungen des nationalen Notstandskomitees und des begleitenden Präsidentendekrets.
Ein Präsidentendekret und seine Umsetzung in der Wirklichkeit
Samstag Morgen gegen neun Uhr brechen wir in die Innenstadt von Cuenca auf, und der Spuk scheint vergessen. In der Kathedrale am Hauptplatz beten die Gläubigen weit verstreut im riesigen Gebäude; davor haben die Verkäufer von Kerzen, Weihrauch und Kochbananenchips ihre üblichen Stände neben den Schuhputzern aufgebaut. Die Autos drängeln sich in den engen Straßen, das Geschäft auf dem Blumenmarkt floriert, und das in einer ehemaligen Entzugsanstalt untergebrachte städtische Museum für Moderne Kunst kann sich über Besuchermangel nicht beklagen. Auch dort die typischen, ineinander übergehenden Innenhöfe, offenen Durchgänge, luftigen Räume. Im gegenüberliegenden Kaffee entspannen junge Familien in der Sonne, studieren Studenten bei einem frischen Obstsaft, teilen Paare das Eis mit dem Hündchen auf dem Schoß.
Mittags sind wir bei einer befreundeten Familie im Garten zum Essen eingeladen. Wo man vorher noch schnell eine gute Flasche Wein bekommen könne, fragen wir die Empfangsdame im Hotel? Der von ihr empfohlene Supermarkt erweist sich als Fehlschlag: Gelbes Klebeband ziert das Weinregal, und die zur Bewachung abgestellte Verkäuferin erinnert uns an die „Ley seca“, das „Gesetz zum Trockenbleiben“, das heute doch gelte. Also Schokolade statt Wein mitbringen. Oder doch nicht? Es klopft an der Tür unseres Hotelzimmers: „Falls Sie eine Flasche brauchen, meine Schwester könnte Ihnen da helfen…“
Wo Tests und Impfungen unerreichbar sind, wird Corona in den Alltag integriert
Seit dem 17. März 2020 lebt Ecuador mit den Maßnahmen zur Bekämpfung von Corona – und um sie herum. Mal mit, mal ohne Ausgangssperre. Mal mit, mal ohne Alkohol. Mit ständig wechselnden Regelungen zum Autofahren. Einige Museen sind geschlossen, andere geöffnet. Restaurants und Hotels dürfen 50% ihrer Plätze besetzen, aber das ist ein dehnbarer Begriff. Auf wenige Dinge kann man sich verlassen: Familien dürfen sich in jeder beliebigen Größe treffen unter Einschluss aller Cousins und der Urgroßeltern; die Regierung und ihre Beamten arbeiten von zu Hause über WhatsApp, und die Schulen bleiben geschlossen. Kostenlose Tests und Impfungen sind für den Großteil der Bevölkerung Ecuadors eine Fata Morgana: Seit Beginn dieses Jahres hat das Land 455.000 Impfdosen erhalten, von denen kaum 250.000 bisher ausgegeben wurden. Schnelltests? Außerhalb des Flughafens von Quito, wo jeder Einreisende verpflichtend getestet wird, ein unbekanntes Wort.
Es ist viertel vor acht an diesem Abend. Wir zahlen, treten auf die dunkle Straße. Am Bremsverhalten der Autofahrer ist leichte Nervosität zu erkennen. Polizei ist keine zu sehen. Wir laufen dennoch zügigen Schrittes Richtung Hotel. Durchqueren die Halle. Zimmertür zu, Maske ab. Wenn uns Corona eines bisher gelehrt hat ist es, mit Widersprüchlichkeiten zu leben.
3. April 2021