Elisa ist fünfzehn Jahre alt. Mit ihren sechs Geschwistern und dem verwitweten Vater lebt sie sie auf der Straße: In einigen Autowracks, die am Straßenrand liegen, unter über Ziegelmauern gebreiteten Planen, auf dem noch unbebauten Grundstück daneben. Die Mutter ist vor sieben Jahren wohl an einem Hirntumor verstorben, der Vater arbeitet als Tagelöhner, teilt aber den Tagelohn nicht unbedingt mit seinen Kindern.
„Als Elisa zu uns kam, war sie beinahe wie ein wildes Tier – sie schaute niemanden an, sie sprach nicht, niemals ließ sie sich berühren“. Mónica Váca, die Leiterin der nach Johann Heinrich Pestalozzi benannten Grundschule in Otavalo im Norden Ecuadors umarmt das Mädchen dennoch. „Wo ist dein Bruder Fabian?“ Fabian musste mit dem Vater in die zwei Stunden entfernte Hauptstadt Quito – offenbar hatte er einen kleineren Unfall, aber das Krankenhaus in Otavalo nimmt zur Zeit nur Corona-Patienten an. „Können wir Deinen Vater anrufen, braucht er Hilfe?“ Nein, eine Telefonnummer hat sie nicht. Der ältere Bruder schaut in sein Handy, aber auch er weiß nicht, wie man den Vater erreichen kann.
Schulleiterin Mónica Vaca: Ich wollte eine inklusive Schule
Solche Szenen gehören zum Alltag von Mónica Vaca. Selbst aus Otavalo gebürtig, kam die Lehrerin und Psychologin mit praktischer Erfahrung in der Montessori-Pädagogik vor 26 Jahren in ihre Heimatstadt zurück. Nach mehreren Jahren sozialer und pädagogischer Arbeit in Quito hatte sie sich in den Kopf gesetzt, eine inklusive Schule zu gründen. Einrichtungen für Kinder mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen gab es damals in der Stadt nicht, und die Behörden erklärten sie schlichtweg für verrückt. Das Gebäude mietet sie von der Stadt; ein Gehalt bezieht sie nicht – die Schulleiterin lebt von ihrer Tätigkeit als Psychologin für private Patienten.
Mit zwölf Kindern und unendlich viel Eigeninitiative begann sie damals. Die Zahl der Kinder wuchs über die Jahre stetig, der eigene Beitrag, den die Leiterin und ihre Lehrkräfte leisteten ebenso. Sie sammelten bei Verwandten und Bekannten Möbel, strichen mit Hilfe der Eltern die Wände, richteten sogar eine kleine Bibliothek ein. „Vor drei Jahren hatten wir 93 Kinder, davon 43 mit Behinderungen“. Dann öffnete in Otavalo eine staatliche Schule für behinderte Kinder, und viele Eltern, die 30 Dollar Schulgeld im Monat ohnehin nur mit Mühe aufbringen konnten, wechselten mit ihren Kindern an die staatliche Einrichtung. „Aber das ist nicht dasselbe, dort werden die Kinder nur aufbewahrt, bei uns lernen sie, um später selbständig leben und arbeiten zu können.“
Fast unmöglich: Schule in der Pandemie
Jetzt sind es noch 32 Kinder. Aber seit März 2020 sind alle Schulen geschlossen in Ecuador. Fast alle Eltern sind mittlerweile arbeitslos. Mónica Vaca ist allein mit ihrer Tochter und einer weiteren Lehrerin. Sie versuchen, was menschenmöglich ist: Elisa und Fabian kommen drei- bis viermal in der Woche in ihren Klassenraum. Nur zwei kleine Pulte stehen dort, versehen mit ihren Namen, dazwischen ein gelbes Stühlchen für die Lehrerin. Andere Kinder werden von den Lehrerinnen zu Hause besucht, die ihnen den Stoff erklären. Wieder andere wohnen zu weit, bis zu zweieinhalb Stunden entfernt. Wenige sind über Internet zu erreichen: „Die meisten haben keinen Anschluss; fünf Dollar bezahlen sie wöchentlich, um beim Nachbarn ab und zu über WhatsApp unsere Arbeitsanleitungen herunterzuladen“. Ein informeller Tarif, der in Ecuador seit Beginn der Schulschließungen landesweit gilt, ob in den Bergen oder an der Küste.
Ein geschützter Raum für Kinder mit besonderen Bedürfnissen
Der achtjährige Dylan ist klein und dünn für sein Alter. Als er vor wenigen Jahren in die staatliche Schule kam, konnte er nicht sprechen, lernte nicht zu lesen, konnte nicht schreiben. wurde gehänselt. In der Pestalozzi-Schule und dem angegliederten Maria-Montessori-Zentrum hat er einen geschützten Raum gefunden, Sprechen, Lesen und Schreiben gelernt. „In den staatlichen Schulen gehen manche Eltern so weit, dass sie dem Lehrer Geld anbieten, wenn er Kinder wie Dylan nur irgendwie los wird“, berichtet Patricia, Mónicas Tochter. „Wenn immer wir von solchen Fällen hören, versuchen wir, sie bei uns unterzubringen“. Für viele dieser Kinder wird die Schule ihr Lebensmittelpunkt, ein Ort, an dem sie sich uneingeschränkt wohl fühlen. Die Lehrerin erzählt von zwei krebskranken Geschwistern, die darum baten, in ihrer Schuluniform, in der Schule sterben zu dürfen.
Der ecuadorianische Staat leistet keine Hilfe, auch nicht bei der Finanzierung der Schulspeisung, für viele Kinder die einzige Mahlzeit des Tages. Eine Abordnung von Lehrkräften an die Schule wurde zwar mehrfach seitens der Regierung versprochen – Wirklichkeit wurde sie nie. Zuweilen bittet die Leiterin bei Vereinen und Nichtregierungsorganisationen um Stipendien für die allerärmsten ihrer Kinder. Elisa, Fabian und Dylan werden zur Zeit von den Damas Alemanas aus Quito unterstützt. Aber am Ende sind es doch immer wieder die Lehrer selbst und ihre Familien, die den eigenen Gemüsegarten plündern, Schreibmaterial besorgen und die Toiletten reparieren. „Wir geben den Kindern ein neues Leben“, sagt Mónica Vaca dazu. So einfach ist das.
21. Januar 2021
aktuell zum Thema: „Fernab des Fernunterrichts“, FAZ.net vom 21.01.2021