In unzähligen Kurven windet sich die schmale „Avenida de los Conquistadores“, die „Straße der Eroberer“, vom Tal hinauf nach Quito. Über Schlaglöcher und lose Pflastersteine, gesäumt von Kolonien der „schwarzäugigen Susanne“ mit ihren strahlend orangenen Blüten. Vorhängen gleich bedecken sie am Straßenrand jede Mauer und jeden Laternenpfahl. Leuchtend orange ist auch das Haus der Künstlerin Paula Barragán; wie ein flach am Felsen klebender Turm ist es schon von weit unten zu sehen. Steht man direkt davor, verschwindet es aus dem Blickfeld. „Hierher, das Auto könnt ihr gegenüber stehen lassen!“. Paula Barragán winkt, und strahlt ebenfalls.
80 steinerne Stufen führen von der Straße hinauf zum Eingang des Ateliers; die Künstlerin ist im Nu oben angelangt. Drei Frauen teilen sich die Arbeitsräume des schmalen Gebäudes. Dolores Salgado hat sich auf die Darstellung von Pflanzen vor allem für biologische Fachliteratur spezialisiert; Maria Pérez bietet unter dem Dache des schmalen Hauses Kurse für kunstinteressierte Kinder und Jugendliche an. Dazwischen liegt das Reich von Paula Barragán. Ihre farbenfrohen Collagen und Drucke bedecken die Wände; auf dem Boden stehen hölzerne Druckstöcke; getrocknete Pflanzen, Samenkapseln, Zweige füllen eine Schale auf dem altarähnlichen Tisch.
“Ich hatte Angst, von meiner Kunst nicht leben zu können”
Die 1963 in Quito geborene Tochter eines Ecuadorianers und einer Neuseeländerin studierte Grafikdesign in Paris, New York und San Francisco. „Ich komme aus einem kunstbegeisterten Haushalt. Und als mein älterer Bruder einen Studienplatz am Pratt Institute bekommen hatte, fragte meine Mutter kurzentschlossen dort an, ob man nicht auch die kleine Schwester annehmen könne. Ich habe allen Ernstes nie eine Mappe eingereicht oder ein Vorstellungsgespräch absolviert!”
Gerne hätte sie sich für Freie Kunst eingeschrieben, “aber davon kann man meist nicht leben. Mit dem Grafikstudium konnte ich nach dem Abschluss erst einmal in dem Büro meines Bruders Juan Lorenzo meinen Lebensunterhalt verdienen“, erklärt sie rückblickend ihre Studienwahl. Privat arbeitete sie in ihren ersten Berufsjahren vor allem an sehr eigenwilligen Radierungen. Rostrot, braun, schwarz sind die vorherrschenden Farben in diesen frühen, kleinformatigen Drucken, die manchmal wie eine Reminiszenz an präkolumbianische Keramik wirken. Vieles bleibt abstrakt, nur angedeutet; unregelmäßige geometrische Formen scheinen direkt der Natur entnommen und gewinnen dann auf dem Papier ein Eigenleben. „Meine Arbeiten erregten Interesse, waren irgendwie besonders, so dass ich allmählich immer mehr in Ecuador und dann auch in den USA ausstellen konnte.“
Aber das ständige Hantieren mit der ätzenden Salpetersäure erschien Paula Barragán gesundheitlich bedenklich Sie begann, nach anderen Ausdrucksformen zu suchen. In dieser Zeit entdeckte sie für sich den Siebdruck als eine ihrer bevorzugten Arbeitsweisen; gleichzeitig entstanden Ölbilder und großformatige Zeichnungen. Ihre Darstellungen wandeln sich vom Abstrakten zum Fantasievoll-Konkreten. Formen, Tiere und Menschen erscheinen als Teile einer größeren Kosmovision, werden aber auch aus dem Kontext herausgelöst, abstrahiert, verändert, perpetuiert. An die Stelle der eher erdverbundenen Farbtöne aus den frühen Jahren treten die leuchtenden Farben der tropischen Pflanzenwelt und des ecuadorianischen Dschungels.
Kombination traditioneller Drucktechniken mit digitalen Bearbeitungsmöglichkeiten
Bereits im Jahr 1986 hatte die Künstlerin bei einem Plakatwettbewerb ihren ersten Computer gewonnen. Immer mehr suchte sie in den folgenden Jahren nach Möglichkeiten, klassische Drucktechniken und digitale Bearbeitungsformen miteinander zu kombinieren. Grundlage der „Armani-Mücke“ von 2013 ist eine Zeichnung mit Tinte auf Papier, die fotografiert und digital bearbeitet wurde. Der anschließende Druck diente wiederum als Basis für eine darauf ausgeführte Collage. Paula Barragán fasziniert die zusätzliche Flexibilität, die ihr das digitale Arbeiten ermöglicht. Die physische Basis eines Druckes bleibt dieselbe, aber der Grund, auf dem gedruckt wird, seine stoffliche Vorbereitung, die Form der Weiterverarbeitung, manuell oder digital, und die jeweilige Farbwahl ermöglichen eine unendliche Vielfalt an Variationen. Der Drang, immer wieder Neues zu entdecken ist es, der sie antreibt.
Besonders geht es ihr dabei um das Hinterfragen der menschlichen Rolle in dieser Welt: „Meine Zeichnungen loten das Wesen des Menschen aus, auch sein Gefühl der Ohnmacht. Wenn man uns Angst macht, verspritzen wir Tinte, wie ein Kalmar. Im Grunde sind wir darin den Tieren sehr ähnlich. Ich verspritze meine Tinte auf Papier.“ Aber der Mensch lebt nicht für sich alleine, er ist eingebunden in Natur und Gesellschaft. „Wer trägt die Schuld?“ von 2020 steht für die Fragen, die sich die von der Pandemie geplagte Menschheit stellt: „Wer trägt die Verantwortung für diese Seuche? Bilden wir uns nur ein, selbst schuldig zu sein? Ist es die Gesellschaft insgesamt, der die Bewahrung der Umwelt nichts bedeutet? Oder ist diese Pandemie einfach ein banaler Akt der Natur selbst, die vor uns bestand, weiter bestehen wird, und in der wir Menschen kaum eine Rolle spielen?“
Kunst umgibt uns überall, findet Eingang in den Alltag
Kunst und Alltagsprodukt ergänzen sich in ihrer Arbeit. Früh begann Paula Barragán, Kinderbücher zu illustrieren, mehrere davon wurden international preisgekrönt. Einige ihrer Zeichnungen dienen als Grundlage für Teppiche, die als wertvolle Einzelstücke in einer Werkstatt in Ambato geknüpft werden und zuweilen an die Werke der ungarisch-jüdisch-ecuadorianischen Künstlerin Olga Fisch erinnern. Nestlé produzierte im Jahr 2012 eine Schachtel mit Weihnachtspralinen auf der Basis ecuadorianischen Kakaos; das Design stammte von Paula Barragán. Und auch auf einigen Verpackungen der ecuadorianischen Schokoladenmarke Pacari finden sich ihre stilisierten Früchte. Wer Paula Barragáns Drucke einmal gesehen hat, wird sie überall entdecken. Ihre nächste Ausstellung eröffnet am 21. Mai 2022 in Quito.
15. April 2022
Die nächste Ausstellung von Paula Barragán:
“Que el Pichincha decora. Memoria, geografía y afectos”
Centro Cultural Metropolitano, Quito, 21. Mai bis 4. September 2022