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Ecuador

Schmetterlinge und singende Frösche – die Quinta de Goulaine

Die Flügelspitzen von Copiopteryx semiramis gleichen langen Frackschößen. Die handtellergroße Motte sitzt auf dem Arm von Mathieu de Goulaine, und der Franzose ist begeistert: „Das ist ein befruchtetes Weibchen; es lebt nur wenige Tage, und seine einzige Aufgabe ist es, in diesen Tagen seine Eier abzulegen. Wenn ich schnell  die richtige Wirtspflanze herausfinde, kann ich auch diese Art züchten, das wäre wunderbar!“ In Zeiten des Internets antworten die Schmetterlingsfreunde aus aller Welt schnell auf die Frage „was frisst Copiopteryx“. Und die Lieblingsnahrung des Tieres findet sich tatsächlich in einem der weitläufigen Gewächshäuser der Quinta de Goulaine.

Seit 2015 züchtet Mathieu de Goulaine Schmetterlinge im ecuadorianischen Regenwald, etwa eine Stunde entfernt von dem beliebten Touristenort Mindo. Auf einer Höhe von 450m über dem Meeresspiegel hat er 50 Hektar Land gekauft, die zum größten Teil noch aus Primärwald bestehen. Eine Seltenheit in dieser Gegend. Anfang der  1980-er Jahre wollte die damalige  ecuadorianische Regierung die Region besiedeln und vergab das Land  an Interessenten. Unter der Bedingung, dass diese mindestens die Hälfte der Fläche abholzten und dort Viehzucht betrieben. „Aber das war Wahnsinn, hier ernährt ein Hektar Land nur eine einzige Kuh, und durch den Einsatz von Pestiziden gerät das gesamte ökologische Gleichgewicht durcheinander.“

Mehr Schmetterlingsarten auf 50 Hektar als in ganz Europa

Der Regenwald hier ist ein Paradies. 350 Arten von Tagfaltern, also tagaktiven Schmetterlingen, leben hier – in  ganz Europa sind es nur 250. Rund vierzig  Arten fliegen durch die drei weitläufigen Volieren auf der Quinta de Goulaine. Es riecht penetrant nach überreifen Bananen, einer Leibspeise vieler Falter. Überall stehen Behälter mit einer Mischung aus Zuckerwasser und Sojasauce, Energietrunk für die Schmetterlinge. Die Angestellten sammeln die auf den Blättern abgelegten winzigen Eier ein, desinfizieren und prüfen sie.

Die für gut befundenen Eier jeweils einer Art wandern gemeinsam mit einer passenden Wirtspflanze in ein geschlossenes Netz, das einem weißen Kleidersack ähnelt. Dort schlüpfen nach 7-10 Tagen die Raupen. Schmetterlingsraupen sind wählerisch: Manche Arten ernähren sich nur von einer einzigen Pflanze und würden eher sterben, als auf anderes Futter auszuweichen. Es müssen also immer ausreichend Futterpflanzen der richtigen Art zur Verfügung stehen – für den Züchter eine logistische Herausforderung.

Damit die Schmetterlinge nicht zu früh schlüpfen, werden die Puppen im Weinkeller kühl gehalten

Mit der Verpuppung der Raupen naht ihr Abschied von der Quinta. Ab Februar öffnen in Europa die beliebten Schmetterlingsgärten für den Publikumsverkehr. Dann bringt Mathieu de Goulaine wöchentlich 1.500 bis 2.000 Puppen, sorgfältig in Styroporkästen verpackt, zum Flughafen nach Quito. „Wenn ich Angst habe, dass einige Schmetterlinge zu früh schlüpfen, lagere ich die Puppen im kühlen Weinkeller; damit gewinne ich ein bisschen Zeit“. Mit Wein hat de Goulaine Erfahrung: Das südlich von Nantes gelegene Château de Goulaine ist eines der bekannten Weingüter Frankreichs; Mathieus Vater, Robert de Goulaine, errichtete dort bereits 1984 eine Voliere für Schmetterlinge.

Der Wein ist auch das Bindeglied zu dem zweiten Geschäftszweig der Quinta: dem Kakao. Zwischen den Futterpflanzen für die Schmetterlinge sind in den letzten Jahren zahlreiche Kakaopflanzen der endemischen Sorte „Nacional – Fino de Aroma“, auch „Arriba“ genannt, angebaut worden. „Mein Traum ist es, dass Kakao demnächst wie Wein nach bestimmten Lagen klassifiziert wird. Dann würde nicht nur die Verarbeitung, sondern auch die Herkunft der Kakaobohne bei der Bewertung berücksichtigt.“ Ein einfacher Produzent erhält in dieser Gegend zur Zeit 3,20 US-Dollar pro Kilo fermentierter Kakaobohnen.

Pflanzenvielfalt bedeutet Schmetterlingsvielfalt – und Lebensraum für den Menschen

Alles ist miteinander verbunden: Während unserer mehrstündigen Wanderung  durch den dichten, vor Feuchtigkeit dampfenden Wald bleibt Mathieu de Goulaine immer wieder stehen und erklärt. „Dies ist die Futterpflanze des Diaethria clymena, der wegen der Zeichnung auf seinen Flügeln den Spitznamen 89/98 trägt. Und schauen Sie, hier, diese Pflanze, die halb Farn, halb Flechte ist, ist typisch für den Primärwald! Eigentlich müssten wir nur die Pflanzenvielfalt hier erhalten, dann bleiben auch die Schmetterlinge.“ Offenbar schätzte schon das präinkaische Volk der Yumbo die Vielfalt des Waldes. Die Yumbo verfügten in der Gegend über mehrere Siedlungsstätten; es wird vermutet, dass sie auch die Mauer errichteten, an der sich unser Pfad entlangschlängelt. 

Aber es ist nicht nur die Begeisterung für Schmetterlinge, Kakao und Wald, die unseren Aufenthalt zum Erlebnis werden lässt. Da sind noch die zwei netten Gästezimmer, das Bad im Fluss, der Apéro am offenen Feuer und das gute Essen, mit Mathieu und seiner ecuadorianischen Frau Janneth am Familientisch in der Küche eingenommen. Draußen singt ein Frosch, einem Vogel gleich. Und dann kommt Copiopteryx.

Quinta de Goulaine: Von Quito mit dem Auto in drei bis dreienhalb Stunden zu erreichen. Anfahrt möglichst mit einem geländegängigen Fahrzeug: www.quintadegoulaine.com

26. November 2021

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Ecuador Musik

„Immer im Protest“ – Inés Muriel als Emigrantin in der DDR

„Aus den Konzertsälen Lateinamerikas“ berichtet die Frauenstimme mit leichtem Akzent, aber in gewähltem Deutsch. Inés Muriel gibt auf Radio DDR II einen Überblick über das klassische Musikleben in den großen Städten Lateinamerikas, erzählt von einem Auftritt des Dresdener Ulbrich-Quartetts in Havanna, lobt die „konsequente und wirksame Musikpolitik Kubas“. Wir schreiben das Jahr 1977. Die Ecuadorianerin Inés Muriel Bravo lebt seit Anfang der Sechziger Jahre in der DDR. Die von ihr konzipierten und produzierten Radiosendungen dieser Zeit zeichnen das Bild einer eigenwilligen, politisch engagierten, hochdisziplinierten Frau. Sie sind Zeugnis eines bewegten und zugleich zurückgezogenen Lebens zwischen Ecuador, Kolumbien und Deutschland.

1926 wurde Inés Muriel als Kind kolumbianischer Einwanderer in der ecuadorianischen Stadt Riobamba geboren. Später zog sie mit ihren Eltern in die Hauptstadt Quito, wo sie am Konservatorium Unterricht in Klavier und Gesang erhielt. Mit ihrem um ein Jahr älteren Bruder Guillermo Muriel, der später ein bekannter Maler wurde, engagierte sie sich in linken Kreisen, war aktives Mitglied der kommunistischen Partei Ecuadors.

Über die KP zum Studium der Musikwissenschaft in der DDR

Dieses politische Engagement setzte sie fort, als sie 1957 mit ihren zwei kleinen Töchtern nach Kolumbien zog. In der von Gewalt und Repression geprägten Zeit der kubanischen Revolution war die Parteimitgliedschaft für sie jedoch ein permanentes Risiko. Die kolumbianische KP verschaffte der alleinerziehenden Muriel schließlich ein politisches Stipendium, und so emigrierte sie 1963 in die DDR. Inés Muriel wollte sich dort mit dem beschäftigen, wofür sie sich immer interessiert hatte: Musik und Musikwissenschaft. Und sie wollte sehen, wie es möglich war, dass „auf dem Boden eines ehemals faschistischen Staates ein sozialistisches System entstehen konnte“, beschreibt es ihre Tochter.

Vor das Studium hatte die DDR den Schweiß gesetzt: Ihren Studienplatz musste sich die angehende Musikwissenschaftlerin durch praktische Arbeit in einer Lampenfabrik verdienen. Erst dann konnte sie sich – sie war Mitte Dreißig – an der Universität Leipzig einschreiben. Die Stadt, in der sie 1968 ihre Diplomarbeit zur „Musik des Volkes der Shuar in Ecuador“ einreichte, wurde ihre Heimat für 18 Jahre: „Es hätte mir dort nicht besser gehen können“, sagte sie 1980 in einem Interview. Sie arbeitete für den Rundfunk der DDR, betreute Künstler wie Mercedes Sosa und Oswaldo Guayasamin bei deren Aufenthalten, war offenbar gut vernetzt. Was sie nicht davon abhielt, mit dem zu hadern, was in der DDR nicht so gut funktionierte – „immer im Protest“ sei sie gewesen, heißt es. 

„Ich hätte ja niemandem Konkurrenz gemacht“: Versuch einer Rückkehr nach Ecuador

Offenbar gab es seitens des Leipziger Lehrstuhls durchaus Interesse, durch die Stipendiatin mehr über die musikalische Welt Lateinamerikas zu erfahren. Aber, so schrieb Muriel 1967 resigniert an den Komponisten Luis Humberto Salgado in Quito, „unsere lieben Landleute sind nicht einmal höflich genug,  auf entsprechende Anfragen aus Deutschland zu reagieren“. Dennoch wollte sie zurück nach Ecuador. Sie hoffte auf eine Anstellung am Konservatorium, vielleicht auch auf die Unterstützung des Komponisten Gerardo Guevara, der nach seinem Studium in Frankreich Chefdirigent des nationalen Sinfonieorchesters und später Direktor des Konservatoriums wurde. Aber vergeblich: Sie sei überqualifiziert, hieß es lapidar. Was Inés Muriel für sich so übersetzte: „Ich bin kein Dirigent, ich hätte niemandem Konkurrenz gemacht. Aber die Leute haben Angst vor jedem, der sich von der hiesigen kleinstädtischen Mittelmäßigkeit abhebt. Die Machos hier verhindern, dass eine Frau vorankommt.“

Der Trompeter und Komponist Edgar Palacios verschaffte ihr schließlich eine Aufgabe am kleinen Konservatorium des musikliebenden Städtchens Loja. Dort forschte sie zur Musik des Volkes der Saraguro, brachte gar einige junge Saraguro als Schüler nach Loja, darunter auch den späteren Indigenenführer Luis Macas. Als dem Konservatorium nach sechs Monaten die Mittel ausgingen, fand Muriel eine Anstellung in einem UNESCO-Projekt zu den traditionellen Festen Ecuadors. Aber auch dort stießen sich wissenschaftlicher Ehrgeiz der Forscherin und ecuadorianische Realität: der von Muriel verfasste Abschlussbericht des Projekts strotzt von Beschwerden über mangelnde Zeitplanung, fehlende technische Ausstattung und nicht vorhandene personelle Unterstützung.

Zum zweiten Mal: Emigration nach Kolumbien

Als die Universidad Libre in Bogotá ihr 1980 ein Angebot machte, an der dortigen musikwissenschaftlichen Fakultät zu lehren, zögerte Inés Muriel deshalb nicht. Sie emigrierte ein zweites Mal nach Kolumbien – und blieb. Unterrichtete, von ihren Studenten gemocht und respektiert, bis über ihren achtzigsten Geburtstag hinaus; produzierte noch mit 77 Jahren wöchentliche Radiobeiträge zur Musik des 20. Jahrhunderts. Ecuadorianische Musik kommt in ihren über 200 online nachzuhörenden Sendungen dieser Zeit nicht mehr vor – mit Ausnahme von Gerardo Guevara, dem ein einziger Beitrag gewidmet ist.

Die alte Dame lebt noch heute in Bogotá. In Ecuador gibt es nur wenige Menschen, die sich an sie erinnern. In den deutschen Archiven schlummern die Berichte der Staatssicherheit. In Kolumbien verhindert Corona samt seinen Folgen den Zugang zu Bibliotheken und alten Vorlesungsverzeichnissen, die genaueren Aufschluss über ihre Tätigkeit gäben. Die Person Inés Muriel, von der die einen mit Bewunderung, die anderen mit Unverständnis, wenige aber mit Kenntnis sprechen, entzieht sich weitgehend der journalistischen Annäherung. Es gibt in den Quellen vier verschiedene Geburtsjahre, aber kein Foto von ihr. Inés Muriel ist heute vor allem – eine Stimme.

12. November 2021

Postscriptum: Inés Muriel Bravo starb am 9. Januar 2022 in Bogotá.

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Ecuador Leben und Gesellschaft

Kirche, Kinder, Küche – live

Zachäus der Zöllner heißt eigentlich Philip, ist neun Jahre alt und noch klein. Mangels Maulbeerbaum steht er auf einer Leiter, um den großen Jesus besser zu sehen. Das Volk schreit „Jesus kommt“ und „Halleluja“, die Kinder des Zöllners zupfen ihrer Mutter an der imaginären Schürze, und die Gemeinde schmunzelt. Endlich wieder Gottesdienst in der Gemeinschaft, mit Großeltern, kleinen Geschwistern, und ja: sogar mit den Hunden. Auf einer Finca in der „Mitte der Welt“, in „Mitad del Mundo“ nördlich der ecuadorianischen Hauptstadt Quito.

Seit im März 2020 alle Kirchen des Landes schlossen, hat sich die deutsche evangelische Gemeinde in Ecuador fast nur noch online getroffen. Im überschaubaren Kreis derer, die auch nach anderthalb Jahren noch die Geduld für den kühlen, flachen Bildschirm hatten. Zwar boten die Zoom- Gottesdienste neue Möglichkeiten: Auf einmal konnten Gemeindemitglieder aus der Hafenstadt Guayaquil und aus Quito gemeinsam eine Predigt hören und Fürbitten halten. Aber das Gemeindeleben fiel der virtuellen Barriere weitgehend zum Opfer; Kinder und Jugendliche kamen auf dem Bildschirm gerade noch einmal zu Heiligabend vor. 

Einen Monat nach der Ankunft des Pfarrers kam der Lockdown

Und nun steht Pfarrer Walter Baßler vor dem improvisierten, von einem Wellblechdach geschützten Altar und teilt das Abendmahl aus, an Erwachsene und Kinder. Die Hunde schauen zu. Wenn man so will, ist Baßler ein Corona-Opfer. Am 01. Februar 2020 landete er mit seiner Frau Susanne in Quito, um dort für einige Monate als von der EKD geschickter „Ruhestandspfarrer“ in der deutschen Gemeinde auszuhelfen. Die 1957 gegründete „Evangelisch- lutherische Kirche deutscher Sprache“ (IELE) hatte da schon lange keinen regulären entsandten Geistlichen mehr; die vierzehntäglich stattfindenden Gottesdienste wurden mit viel Engagement von zu Prädikanten fortgebildeten Gemeindemitgliedern gehalten. 

Dabei verfügt die deutsche Gemeinde über ein eigenes Grundstück, mit der 1958 erbauten Kirche, Pfarrhaus, den ein paar Jahre später errichteten Gemeinderäumen und einem großem Garten. Das großzügige Gelände steht auch der ecuadorianischen lutherischen Gemeinde und den amerikanischen Anglikanern für ihre Gottesdienste zur Verfügung. Das Ehepaar Baßler sollte Haus und Garten gut kennenlernen, denn einen Monat nach ihrer Ankunft kam Corona, und damit der strenge Lockdown. Nur noch zum Einkaufen von Lebensmitteln durfte das Haus verlassen werden. Flüge nach Europa gab es über Monate nicht mehr. 

Walter Baßler in Aktion © Christoph Hirtz

Gemeindeaufbau über Zoom und Handy

Aber das Pfarrerehepaar ließ sich nicht entmutigen. Beschloss, erst einmal in Quito zu bleiben. Knüpfte über Handy und Computer Kontakte. Hackte tagelang Holz, nachdem ein großer Baum im Pfarrgarten umgestürzt war. Organisierte, sobald das wieder möglich war, die technische Ausstattung für die Zoom-Gottesdienste. Und begann, unterstützt von der EKD, mit dem seit langem erhofften Wiederaufbau der Kirche „an Leib und Seele“. Nicht nur wurden umfangreiche Renovierungsarbeiten an Pfarrhaus und -garten durchgeführt, auch in Kirchenvorstand und Gemeindeleitung gab es mit der Zeit zahlreiche neue Gesichter. 

„Wir wollen jetzt einmal im Monate einen Gottesdienst im Freien für die ganze Familie anbieten“, kündigt Jens Kläne, der neue Verwaltungschef der Gemeinde an. „Es gibt noch einige bürokratische Hemmnisse, die uns daran hindern, den eigentlichen Kirchenraum wieder zu nutzen“, erklärt Anke Naumann, die Vorsitzende des Kirchenvorstandes. „Aber wir finden schon eine Lösung; wir haben ja den Pfarrgarten, in dem wir Gottesdienst feiern können, und auch über Weihnachten haben wir uns bereits Gedanken gemacht.“ 

Gottesdienst im Freien: In Quito zum Glück immer eine Option

Dabei erwähnt sie nicht, dass natürlich auch das Geld immer knapp ist in einer Gemeinde, die von den Spenden ihrer Mitglieder leben muss, und von den Kollekten, die anderthalb Jahre lang faktisch ausblieben. Freiluftgottesdienst – in Quito und Umgebung fast an jedem Sonntagvormittag eine Option, denn der tägliche heftige Regenguss ereilt die Stadt meist erst am Nachmittag. Und so toben die Scharen blonder Kinder, die eben noch nach Regieanweisung in der Predigt Jesus zugejubelt haben, jetzt wild durch den Garten. Die Bratwürste brutzeln auf dem Grill, und irgendwo hat einer der Jünger zur Gitarre gegriffen. Die Tischgesellschaft singt entspannt mit. Wir wissen jetzt, was uns gefehlt hat im letzten Jahr. 

27. Oktober 2021

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Ecuador

Galápagos: Zurück in die Zukunft

Die Touristen sind zurückgekehrt nach Galápagos, auf die „islas encantadas“, die „verzauberten“ Inseln. Schlendern durch die Hauptstraße der größten Stadt Puerto Ayora, zwischen Kunsthandwerk, billigen T-Shirts und hippen Sushi-Restaurants. Lassen sich neben einem schlafenden Seelöwen auf der wackeligen Bank am Straßenrand nieder. Fotografieren die leuchtend roten „Hexenfische“ (Pez brujo) am Fischmarkt, während die daneben stehenden Pelikane ungeduldig darauf warten, dass ein Happen für sie abfällt. 

„Wir haben im letzten Monat 15.000 Touristen empfangen“, berichtet Danny Rueda, seit März 2020 Direktor des Nationalparks Galápagos. „Das ist eine große Erleichterung, denn wir müssen alle unsere Einnahmen selbst generieren. In Zeiten von Corona hieß das: Kein Tourismus, kein Geld“. Vor der Pandemie kamen bis zu 25.000 Besucher monatlich; 21 Flüge wöchentlich waren erlaubt. Diese Deckelung, wie auch das Verbot, neue Hotels zu errichten, sorgten dafür, dass das fragile Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur trotz des einträglichen Tourismus’ einigermaßen erhalten blieb.

Vermehrt sich der Mensch, verändert sich die Natur

Denn diese Balance ist stets gefährdet, seit die zunehmende Besiedlung des Archipels in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts begann. Heute leben rund 33.000 Menschen auf den vier bewohnten Inseln, binnen fünfzig Jahren hat sich die Bevölkerung verzehnfacht. Mit den Zuwandern kamen auch die Haus- und Nutztiere, mit unerwünschten Nebeneffekten: die Katzen der Neusiedler fraßen einheimische Vögel, und ihre mit Nahrungsergänzungsmitteln gepäppelten Rinder grasten nun neben den hier einheimischen Riesenschildkröten. Die Schildkröten ernährten sich von den durch die Rinder „gedüngten“ Pflanzen – und waren auf einmal gegen Antibiotika resistent. Und sie verteilten überall die Samen der eingeschleppten Brombeere, deren Ranken nun die hier endemischen Pflanzen überwuchern.

Viele der hier lebenden Menschen kommen ursprünglich vom ecuadorianischen Festland. „Ich bin zwar schon in Galápagos geboren“, erzählt unser junger Taxifahrer, „aber meine Eltern sind aus der Provinz Tungurahua im Hochland hierher ausgewandert.“ Bewohnt sind dennoch nur gut 3% des Territoriums, der Rest der insgesamt 127 Inseln und Inselchen zählt zum Schutzgebiet des Nationalparks. Aber der Mensch hinterlässt auch dort immer deutlicher seine Spuren: Auf dem paradiesisch anmutenden Sandstrand der Tortuga Bay lassen sich bei näherem Hinschauen unzählige Teilchen von blauem, rotem oder weißen Mikroplastik ausmachen, die mittlerweile auch in den Organismen der hier lebenden Tiere in großer Zahl vorkommen. 

Blau auf weißem Sand: Mikroplastik in der Tortuga Bay
Blau auf weißem Sand: Mikroplastik in der Tortuga Bay

Schon ohne Pandemie ist die Versorgung der Bevölkerung schwierig

Auf den Inseln Santa Cruz und San Cristóbal, wo die die große Mehrzahl der Bewohner lebt, erhofften sich manche Ecuadorianer und unternehmungslustige Ausländer ein auskömmliches Leben in exotischem Ambiente. Die Gehälter der staatlichen Angestellten auf Galápagos liegen 80% über denen des Festlandes. Viele der Zuwanderer bleiben erst einmal versuchsweise hier, melden sich nicht bei den Behörden an. Aber die Kosten des täglichen Lebens sind hoch. Nur etwa dreißig Prozent der Nahrungsmittel, die die Inseln konsumieren, können sie selbst produzieren, sagt Danny Rueda. Alles andere muss über tausend Kilometer vom Festland importiert werden. „In der Zeit des Lockdowns haben wir alle angefangen, unser eigenes Gemüse anzubauen, weil wir ja von irgendetwas leben mussten“, erinnert sich Samira, die als Touristenführerin für den Nationalpark arbeitet. „Freunde von uns hatten irgendwann gar nichts mehr zu essen, wir haben uns dann zusammengetan, um ihnen zu helfen. Aber es gab auch gegenteilige Effekte – alle zogen auf einmal Tomaten im Garten und verkauften sie, so dass der Marktpreis um die Hälfte fiel!“

Eines der Hauptprobleme aller Siedler ist von jeher die Wasserknappheit. Nur San Cristóbal verfügt über eine Süßwasserquelle. Auf Santa Cruz dagegen fließt nur zwei Stunden am Tag das Nass aus dem Hahn, dann ist Schluss. Das aufgefangene Regenwasser und die vorhandenen Entsalzungsanlagen reichen nicht, um den Bedarf aller Bewohner zu decken. Noch mehr als einen verlässlichen Zugang zu Trinkwasser aber wünschen sich die „Galapageños“ eine bessere Gesundheitsversorgung. „Wenn es auf unserer Insel gleichzeitig zwei Unfälle gibt, kann nur einer davon versorgt werden“, klagt ein Touristenführer. „Ich sage meinen Gästen immer: Genießt Euren Aufenthalt, aber werdet bloß nicht krank!“

Der ewige Ärger mit dem Internet

Auch das Internet ein ständiger Beschwerdepunkt nicht nur der ausländischen Übernachtungsgäste in den teuren Hotels. Nur 41% aller Haushalte verfügen über einen Internetanschluss; bis zu 100$ müssen dafür monatlich bezahlt werden.  Das versprochene Glasfaserkabel wird wohl erst in fünf Jahren verlegt. Dies ist nicht nur ein Kommunikations-, sondern auch ein Bildungshemmnis: 33% aller Schüler hatten während der letzten anderthalb Jahre der Pandemie, in denen der Unterricht ausschließlich über virtuelle Kanäle erfolgte, überhaupt keinen Zugang zur Schulbildung. Auch jetzt dürfen sie nur einmal in der Woche wenige Stunden in die Schule gehen – wenn sie Glück haben, denn nicht alle Schulen auf Galapagos haben bisher die Erlaubnis zum Wechselunterricht erhalten. 

Seit mehreren Wochen hat es auf den Inseln keinen neuen Corona-Fall mehr gegeben. Selbst bei den Zwölf- bis Fünfzehnjährigen hat die Impfquote inzwischen mehr als 75% erreicht, bei den Erwachsenen liegt sie nahe 100%. Mittlerweile machen ausländische Touristen wieder die Hälfte aller Besucher aus. Aber ein „weiter so wie vor der Pandemie“ wird es nicht geben: „Wir können uns nicht weiter auf den Tourismus als einzige Einkommensquelle stützen“, schreibt Norman Wray Reyes, damals Vorsitzender der regionalen Regierung, in dem unlängst verabschiedeten „Plan Galápagos 2030“. „Wir müssen über neue Formen von Produktion und Konsum nachdenken, um unsere Versorgung mit Nahrungsmitteln und allem Lebensnotwendigen nachhaltig zu gestalten.“ 

18. Oktober 2021

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Ecuador

Die Pyramiden von Cochasquí

Wer beherrschte den Norden Ecuadors vor der Ankunft der Inka? Die Antworten der Historiker auf diese Frage sind mit vielen „vielleicht“ und „möglicherweise“ gespickt. Immer wieder werden dabei die Volksgruppen der Cayambe, der Caranqui, Otavalo und Cochasquí genannt, die seit ungefähr 500 n.Chr. die Gegend besiedelten. Der Kampf dieser Völker gegen die Eroberer aus dem Süden zog sich wohl über eine Reihe von Jahren bis zum Fall der Festung Pambamarca, vermutlich im Jahr 1505, hin. 

Die fünfzehn Pyramiden von Cochasquí nördlich von Quito sind der größte zusammenhängende Komplex präinkaischer Ruinen im Norden Ecuadors. Es wird angenommen, dass sie ab ca. 930 n.Chr. erbaut wurden. Ein leider etwas unscharfes Video des Fotografen Jorge Anhalzer zeigt die Ausdehnung der Anlage, die neben den Pyramiden noch 21 Grabstätten, sogenannte „Tolas“ umfasst. Unklar ist freilich, mit welcher Absicht die Pyramiden mit ihren mächtigen Rampen, die wie Zungen bis zu 200 Meter lang in das Land hineinragen, gebaut wurden. Wohn- und Herrschaftssitz der lokalen Stammesführer, Begräbnisort, zeremonielle Kultstätte, astronomisches Observatorium? Für alle Interpretationen gibt es Anhaltspunkte, die von verschiedenen Forschungsmissionen des letzten Jahrhunderts zusammengetragen wurden.

Ein einzigartiger Mondkalender auf einer Pyramide aus Vulkangestein und Lehm

Wer sich das Terrain auf dem vorgegebenen Rundweg zu Fuß erwandert, muss sich vom Parkplatz aus den Weg durch eine Herde von Lamas und Alpakas bahnen – für junge Familien sicherlich eine Attraktion. Schon von hier unten sind einige der flachen Pyramiden mit ihren Rampen erkennbar; alle sind sie nach Norden ausgerichtet. Errichtet wurden sie aus Chocoto, einem Gemisch aus Lehm, Wasser, Stroh und Exkrementen, das flach- und damit festgestampft wurde. Die Ränder der Plattformen sind mit Blöcken des Vulkangesteins Cangahua befestigt, das von einem etwa einen Kilometer entfernten Steinbruch hertransportiert wurden.

Zu sehen ist dies bei der weitgehend freigelegten Pyramide Nummer 13. Deutlich erkennt man die unter einer Grasnarbe verborgene Stufenstruktur. Spektakulär aber ist der auf der Plattform angelegte Mondkalender, der mithilfe der Sonne die Monate des Jahres anzeigte. Dreizehn aufrecht in kreisrunde Löcher eingelassene Holzpflöcke, die je nach Sonnenstand unterschiedliche Schatten warfen, standen offenbar für die dreizehn Mondzyklen im Jahresverlauf. 

Die Legende von der Herrscherin Quilago

Immer höher geht es dann hinauf, bis sich schließlich an klaren Tagen der Blick über das ganze Tal und auf das Panorama der umliegenden Berge öffnet – von den Puntas und dem Cayambe m Osten über den Rumiñahui bis zum Pichincha im Westen. Das ist der Moment, wo man sogar der Theorie unserer Reiseführerin Glauben schenken mag, dass Cochasquí ursprünglich auch als Festung konzipiert worden war. Die Legende von der Herrscherin Quilago (1485-1515), die den mit ihr liierten Inca-Fürsten Huayna Capac vergeblich in eine Falle zu locken versuchte,  der sie am Ende selbst zum Opfer fiel, klingt jedenfalls gut vor dieser Kulisse. 

Eindrucksvoll ist auch die Vogelschau auf die mit rund neunzig mal achtzig Metern größte Pyramide der Anlage, die Nummer neun. In ihre Flanke und Zentrum haben (Grab-)Räuber früherer Zeiten eine tiefe Wunde geschlagen, was schon der deutsche Archäologe Max Uhle während seiner Expedition im Jahr 1932 beklagte. Uhle fand in dieser Pyramide nur noch Hunderte menschlicher Schädel, die die Eindringlinge zurückgelassen hatten.

Koloss mit Wunden: Die Pyramide Neun

Cochasquí als Teil des Inka-Weges Quapac Ñan

Folgt man dem Rundweg weiter, trifft man auf einen Abschnitt eines alten Inka-Wegs, markiert durch ein andines Wegkreuz. Auch der Quapac Ñan, die vom Süden des Kontinents nach Norden führende Hauptstraße der Inka, führte über Cochasquí. 

Zwei in traditioneller Bauweise zu Museumszwecken errichtete Häuser geben einen Eindruck davon, wie die Bewohner dieses Landstrichs bis vor nicht allzu langer Zeit lebten: In einem Raum gemeinsam mit den zur Speise dienenden Meerschweinchen, die Feuerstelle direkt daneben, als Mittelpfeiler des fensterlosen Rundbaues der „Lebensbaum“, árbol de la vida. So ähnlich mögen die Rundhütten der lokalen Führer einst auf den Plattformen der Pyramiden gestanden haben. Dies lässt zumindest eine Skizze der „Gruppe Ecuador“ der Universität Bonn vermuten. Unter Leitung von Udo Oberem nahmen diese Forscher in den Sechzigern Jahren des letzten Jahrhunderts hier umfangreiche Ausgrabungen vor. 

Das zum Ausgang hin gelegene Museum zeigt, anders als beispielsweise im nahegelegenen Otavalo, Ausstellungsstücke, die zu einem großen Teil tatsächlich von hier stammen. Wie oft in Ecuador wäre der Besucher für mehr Information zu Verwendungszweck, Fundort und Datierung dankbar, aber die Präsentierung ist ansprechend, und die Führerin auf Nachfrage gut informiert. Und anschließend: Hühnersuppe oder Mais mit Käse? Und noch ein frischer Salatkopf für zu Hause? In den Büdchen und einfachen Restaurants neben dem Parkplatz gibt es gefühlt kein Corona mehr.

Von Quito aus gelangt man über die Panamericana in einer guten Stunde zum Parque Archeológico Cochasqui. Bei Kilometer 52, direkt hinter der Gebührenstation, links abbiegen, der Weg ist gut ausgeschildert. Besichtigung nur mit Führung; wochenends empfiehlt es sich, früh zu kommen, um den zahlreichen Großfamilien auf Sonntagsausflug zu entgehen.

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Ecuador Musik

Ecuadors neun Sinfonien

Dass Ludwig van Beethoven neun Sinfonien geschrieben hat, ist hinlänglich bekannt. Auch an Bruckner, Schubert oder Mahler mag so mancher sich erinnern. Aber Luis Humberto Salgado? Ein weitgehender musikalischer Autodidakt aus dem ecuadorianischen Cayambe, der in seinem Leben nicht aus seinem Heimatland hinauskam, zwar zweimal Direktor des nationalen Konservatoriums  war, aber von seiner Kunst kaum leben konnte? Der neben seinen Sinfonien acht Solokonzerte, vier Opern, Ballette, Kammermusik sowie zahlreiche Klavierwerke und Lieder schrieb – aber die meisten dieser Kompositionen niemals in einem Konzert hörte?

Der deutsch-mexikanische Dirigent Michael Meissner hat sich seit vier Jahren intensiv mit dem Schaffen Luis Humberto Salgados (1903-1977) beschäftigt und dessen neun Sinfonien nun in einer Aufnahme mit dem Sinfonieorchester von Cuenca bei dem niederländischen Label Brilliant Classics herausgebracht. Eine Mammutleistung, denn als Meissner 2017 sein Amt als Chefdirigent des staatlichen Orchesters in Cuenca antrat, schlummerten die handschriftlichen Partituren der Sinfonien vergessen im Nationalarchiv Ecuadors. 

Über mehrere Jahrzehnte lagen die neun Sinfonien im Archiv

Es galt also zuerst einmal, diese Dokumente abzufotografieren, zu digitalisieren, teilweise auch zu rekonstruieren: Von der ersten, der 1949 abgeschlossenen „Andensinfonie“, fehlte das Finale des letzten Satzes; die Fünfte „Neoromantische“ existierte nur noch als Klavierfassung fast ohne Angaben zur späteren Instrumentierung, so dass die verschollene Orchesterpartitur von Meissner neu erstellt werden musste. Im September 2019 wurden alle neun Sinfonien im Teatro Pumapungo in Cuenca aufgenommen. Erst in diesem Sommer konnte schließlich das Set mit drei CDs herausgebracht werden. Zum ersten Mal sind damit diese in Ecuador einzigartigen Werke der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden.

Folkloristische Themen gehen eine Verbindung mit klassischer Form ein

Wer die ländlichen Feste und feiertäglichen Prozessionen des ecuadorianischen Hochlands kennt, fühlt sich mit der ersten Sinfonie dorthin versetzt: Da läuten die Kirchenglocken, marschiert die Banda, zwitschern die Vögel, tanzt das Volk. Es ist tatsächlich eine „Sinfonía Andina“, die einheimische Tanzrhythmen und Melodien als Inspirationsquelle nutzt: den raschen San Juanito, den elegischen Yaraví, den hüpfenden Aire Típico. Der Komponist legte jedoch in seiner Einführung zur Sinfonie Wert darauf, dass alle seine Themen „Originalthemen des Autors“ seien, von ihm selbst erdacht, nicht populären Volksliedern entnommen.

Nicht umsonst hatte sich Salgado, der durch seinen selbst komponierenden Vater mit Musik aufgewachsen war,  viele Jahre lang mit den Sinfonien der großen europäischen Komponisten seit Beethoven beschäftigt. Die meisten dieser Werke dürfte er nie in einer Aufnahme und schon gar nicht in einem Konzert gehört haben, aber er hatte sie gelesen: Sein Bruder Gustavo, der viel reiste und selbst ausgebildeter Pianist war, brachte ihm wohl regelmäßig aktuelle Partituren aus Europa mit. Und so wusste Luis Humberto Salgado genau, was die Form Sinfonie im klassischen Sinne ausmachte. Er verband diese traditionellen Formelemente geschickt und oft innovativ mit andinen Themen, Rhythmen und Harmoniefolgen. Im Zusammenhang mit seiner ersten Sinfonie schrieb er: „Es wäre kindisch, zu meinen, dass eine reine Orchestrierung volkstümlicher Themen…eine Sinfonie ergäbe; (…) das wäre dann lediglich eine Sammlung folkloristischer Melodien.“

Kompositionen in der Nachfolge Schönbergs

Ganz anders ist dagegen der Höreindruck der Siebten Sinfonie, deren Manuskript Salgado 1970 „Aus Anlass des 200. Geburtstags Beethovens“ dem Beethoven-Haus in Bonn schickte. Das Werk hat über weite Strecken keine klare Tonart und beginnt mit eher abstrakten Motivfetzen, die im Verlauf der Sinfonie immer wieder aufgegriffen werden und dadurch die kompositorische Einheit des Werkes begründen. Seit den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts hatte sich Salgado mit der Zwölftontechnik Arnold Schönbergs auseinandergesetzt, sie in seinen Kompositionen selten in Reinform umgesetzt, aber Elemente daraus zunehmend virtuoser in seinen kammermusikalischen und symphonischen Werken verwandt, so wie in dieser Siebten.  Auch hier gibt es im letzten Satz Fanfaren, Glocken, Harfeneinwürfe, aber in einem deutlich komplexeren formellen und harmonischen Rahmen als in der „Andina“. 

Salgado schrieb seine neun Sinfonien über einen Zeitraum von rund fünfunddreißig Jahren. Fast alle tragen von ihm hinzugefügte Untertitel: „Im Rokoko-Stil“ die Dritte, “Zum Jahrestag der Schlacht von Pichincha“ die  Achte, die überraschenderweise kaum ecuadorianische Anklänge bringt. Ein typischer Salgado – Klang zieht sich durch alle Werke. Häufig meint man, sowohl die Einflüsse der dem Komponisten von Kind an bekannten lokalen Blaskapellen, der „Bandas“, als auch der Film- und Bühnenmusik der 20er und 30er Jahre zu hören – als Student verdiente der exzellente Pianist Salgado sein Geld zeitweise durch das Begleiten von Stummfilmen und wandernden Opernkompagnien.

Erstmals sind Werke Salgados nun im Handel auf CD erhältlich

Nach wie vor gibt es vom umfangreichen Werk Luis Humberto Salgados keine im Handel erhältlichen Noten; die zwei existierenden CDs sind nur auf Umwegen zu beschaffen. Die Aufnahme des Sinfonieorchesters von Cuenca ist deshalb die erste überhaupt, welche die Kompositionen Salgados für ein internationales Publikum hörbar macht. In Ecuador selbst wurde von der Produktion bedauerlicherweise bisher kaum Notiz genommen. Bleibt zu hoffen, dass man diese Box demnächst auch vor Ort erwerben kann. 

Luis Humberto Salgado, The 9 Symphonies, Orquesta Sinfónica de Cuenca, Dirigent Michael Meissner, Brilliant Classics 2021. Bestellbar im Internet über alle bekannten europäischen und amerikanischen Anbieter, 3 CDs rund 20 Euro. Ein Interview mit Michael Meissner zu Werk und Aufnahme finden Sie hier.

16. September 2021

 

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Ecuador Leben und Gesellschaft

Neues Schuljahr in Ecuador: Kaum Schule, keine Zukunft

„Wir beginnen mit dem Unterricht im September 100% digital; sobald wie möglich wollen wir diejenigen Schüler, die keinen Zugang zum Internet haben, in die Schule holen. Aber solange wir hier kein fließendes Wasser haben, geben uns die Behörden nicht die Erlaubnis“, erzählt der Lehrer einer unweit der Stadt Portoviejo gelegenen staatlichen Schule mit rund 900 Kindern. „Wir haben schon ein Waschbecken am Eingang installiert,  jetzt müssen wir noch die Beschilderung planen, dann können wir die Genehmigung zur Öffnung beantragen“, erklärt der Leiter einer kleinen Grundschule in den Bergen bei Quito. Zum Ende der Sommerferien in Ecuador schauen Lehrer und Eltern dem Schulbeginn mit Hoffnung und Skepsis entgegen. 

Während in Europa das Schuljahr trotz zum Teil steigender Inzidenzen vergleichsweise normal begonnen hat, sind weite Teile Lateinamerikas und der Karibik von der Rückkehr zur schulischen Normalität noch weit entfernt. Seit im März 2020 alle Schulen des Kontinents (mit Ausnahme Nicaraguas) geschlossen wurden, gab es zwar in einzelnen Ländern vorsichtige Versuche, unter strengen Auflagen wieder Präsenzunterricht zuzulassen. Im Durchschnitt jedoch versäumte ein Kind auf diesem Kontinent bis zum 30. Juni 2021 bereits 154 Schultage – mehr als in jeder anderen Weltregion. 

Fast fünfzig Prozent sind doppelt geimpft, aber die meisten Schulen öffnen nicht

Seitdem hat sich das Bild differenziert. Während das kleine Uruguay mit einer Impfquote von 72,% seine Schulen schnell wieder öffnete, ist in Peru (24%) und Venezuela (21,7%) bisher kein Datum für eine Rückkehr der Schulkinder in Sicht. In Ecuador hat die Ende Mai angetretene Regierung von Guillermo Lasso offiziell die Rückkehr zur Präsenzschule als Ziel bekanntgegeben und jenen Schulen, die bereits über ein genehmigtes Hygienekonzept verfügten, die Öffnung mit bis zu 30% ihrer Schülerzahl gestattet. Mittlerweile haben im Landesdurchschnitt fünfzig Prozent der Bevölkerung beide Impfungen gegen COVID erhalten; in der Hauptstadt Quito und der sie umgebenden Provinz Pichincha sind es fast achtzig Prozent. 

Tatsächlich hat jedoch zum 1. September, wenn im Hochland und im Amazonasgebiet das neue Schuljahr beginnt, nur rund ein Fünftel aller Schulen im Land eine Genehmigung zur Öffnung beantragt und erhalten. Bei vielen dieser Schulen handelt es sich um Zwergschulen in entlegenen ländlichen Gegenden, mit sehr geringen Schülerzahlen. So werden deshalb nur wenig mehr als 200.000 von rund viereinhalb Millionen ecuadorianischen Schulkindern ab September tatsächlich wieder Unterricht in einem Klassenraum haben. Kindergärten und Vorschulen bleiben weiterhin geschlossen.

Die Angst vor einer Ansteckung von Kindern ist übergroß

Dass die Rückkehr zur Präsenzschule in fast ganz Lateinamerika so schleppend vorangeht, liegt an mehreren Faktoren. Die hiesigen Eliten, denen die Regierungsmitglieder in der Regel angehören, konnten mit Homeoffice und Homeschooling gut leben: Ihre Kinder gehen auf gut ausgestattete Privatschulen, die zu Beginn der Pandemie schnell auf zuverlässigen, modernen und akademisch durchaus anspruchsvollen Online-Unterricht umstellten. Dass beispielsweise in Ecuador rund die Hälfte aller Kinder anderthalb Jahre lang überhaupt keinen Zugang zu digitalem Unterricht hatte, und die große Mehrheit der übrigen mehr schlecht als recht per WhatsApp betreut wurde, spielte in der Beurteilung der Krise durch die Eliten kaum eine Rolle. Viele dieser Familien sehen bis heute keinerlei Grund, weshalb ihre Kinder jemals wieder physisch eine Schule betreten sollten.

Dazu kommt, dass lateinamerikanische Eltern ihre Kinder, wenn die ökonomischen Verhältnisse dies erlauben, sehr behütet erziehen. Die Angst davor, dass dem Kind etwas geschehen könne, ist insbesondere in der Mittel- und Oberschicht unendlich. So halten sich hartnäckig auch in gebildeten Kreisen Gerüchte, denen zufolge neben den älteren Menschen besonders die Kinder durch Corona gefährdet und regelmäßig auf den Intensivstationen zu finden seien. Dass die Sterblichkeit in Ecuador inzwischen auf einem niedrigerem Niveau als dem vor Beginn der Pandemie angekommen ist, wird von den Medien kaum kommuniziert. 

Zahlreiche bürokratische Hürden verhindern Präsenzunterricht

Am Ende aber ist es vor allem die staatliche Bürokratie, die dazu führt, dass Millionen von Kindern in Lateinamerika der Aufstieg durch Bildung verwehrt bleiben wird: „Nächstes Jahr im Februar werden meine Kinder vielleicht wieder in die Schule gehen, hat uns die Schulleitung gestern gesagt“, berichtet Amalia, eine Mutter von zwei Kindern. Jede einzelne der 3.000 privaten und 14.000 staatlichen Schulen im Land muss einen Antrag auf Wiederöffnung stellen; jede dieser Schulen wird von Mitarbeitern des Schulministeriums persönlich geprüft; jedes Kind, das wieder in seine Schule möchte, muss dies einzeln beim Ministerium beantragen. Jede Schule ist verpflichtet,  parallel zum Präsenzunterricht eine virtuelle Variante anzubieten, solange sich nicht 90% der Eltern für eine Rückkehr ausgesprochen haben – so bestätigte es die ecuadorianische Schulministerin Maria Brown unlängst in einem Interview.

Das überfordert nicht nur die schlecht ausgestatteten staatlichen Institutionen: „Es ist ganz schön heftig mit dem hybriden Unterricht, denn da habe ich immer gleichzeitig 12 Kinder online und sechs Kinder präsent, und es ist eben Schule, und da passieren Sachen: Ein Kind ist hingefallen und bricht sich den Arm, ein anderes muss sich übergeben, und da müssen die, die zu Hause an den Bildschirmen sitzen, eben warten“, erzählt die Lehrerin einer privaten Grundschule. 

Eine Generation verliert die Hoffnung auf Aufstieg durch Bildung

Hunger und Gewalt haben im vergangenen Jahr in den ärmeren Haushalten Ecuadors messbar  zugenommen. In den vielen kleinen Küstenorten, wo es jetzt erstmal seit über einem Jahr wieder ein wenig Tourismus gibt, müssen die Eltern dringend arbeiten gehen, um überhaupt wieder Geld ins Haus zu bringen – dann passt die Neunjährige auf den vierjährigen Bruder auf, während die Mutter am Strand Eis verkauft. Es wird gefürchtet, dass bis zu 25% dieser Kinder nicht wieder in das Schulsystem zurückkehren werden. 

Das Kinderhilfswerk UNICEF fordert seit rund einem Jahr eine kontrollierte, aber zügige Öffnung der Schulen: „Wir können nicht warten, bis die Infektionsrate bei Null ist….Wir können nicht warten, bis alle Lehrer und Schüler geimpft sind…Wenn wir die Schulen geschlossen halten, nehmen wir unseren Kindern ihre Zukunft.“

31. August 2021

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Ecuador Musik

Mehr Musik hören – die Casa del Piano in Cumbayá

Wenn Iván Vásconez über Musik spricht, wird sie lebendig. In Janker und weißem Hemd steht er auf der Bühne und erzählt. Öffnet den Bechstein, setzt sich hin und spielt: „Schauen Sie, hier wechselt in unserem Stück die Erzählerperspektive, das hören Sie im Text, aber auch in dem neuen Rhythmus der linken Hand!“ Wirft eine Zeichnung von M.C. Escher an die Wand, um den Aufbau einer Komposition zu illustrieren.

Französischer Impressionismus im privaten Konzertsaal

Lieder von Gabriel Fauré, Ernest Chausson und Claude Debussy sind es, die der Pianist heute mit der in den USA ausgebildeten Sopranistin Maria José Fabara zur Aufführung bringt und erklärt. Ein Programm, das man sonst in Quito eher nicht zu hören bekommt. Knapp vierzig Zuhörer haben sich in dem privaten Konzertsaal im Untergeschoss von Vásconez‘ Wohnhaus im Vorort Cumbayá versammelt. In Nicht-Corona-Zeiten könnten es zwischen ein- und zweihundert sein, nach augenblicklichen Regeln darf nur ein Drittel der Plätze besetzt werden.

Im November 2005 öffnete die „Casa del Piano“ offiziell ihre Pforten. „Eigentlich habe ich mit diesen Gesprächskonzerten schon vorher angefangen. Ich wollte meinen Klavierschülern etwas bieten, das über den reinen Unterricht hinausging. Die Schüler selbst fanden das nicht wirklich spannend. Aber ihren Eltern gefielen meine Konzerte, dann kamen auch deren Freunde, und als wir den heutigen Saal schließlich eröffneten, hatte ich hier 200 Leute im Publikum!“

Ausbildung am Konservatorium von Quito, Studium in Essen

Iván Vásconez lernte Klavier unter anderem am Konservatorium der ecuadorianischen Hauptstadt, aber ein eigentliches Musikstudium gab es in jener Zeit in Ecuador noch weniger als heute. So ging er nach seinem Abitur an der Deutschen Schule Quito im Jahr 1991 nach Deutschland und studierte dort an der Folkwang Universität Essen bei Catherine Vickers Klavier und anschließend Kammermusik bei Vladimir Mendelssohn. Anders als viele seiner Landsleute aber blieb er nach dem Konzertexamen nicht in Deutschland, sondern kehrte Ende der Neunziger Jahre in seine Heimat zurück. Die Verbindung zu seinem Studienland blieb: Das von Vásconez während seines Deutschlandaufenthalts gegründete Turina-Klavierquartett reiste 1999 zu Konzerten nach Quito, Cuenca und Guayaquil.

Der Kammermusik gilt von jeher die große Liebe dieses Pianisten: mit dem Geiger Santiago Mora und der Cellistin Elza Erazo (zuvor Gerhard Garreis) spielt er seit rund zwanzig Jahren in einem Trio, das regelmäßig in der Casa del Piano auftritt. Zuletzt im Mai dieses Jahres mit dem B-Dur-Trio D 898 von Schubert. Mit Santiago Mora bestreitet Vásconez immer wieder auch Duo-Programme in der Casa de la Música, dem wichtigsten Konzertsaal Quitos.

Kammermusik, Oper, Jazz – vieles geht, wenn man will

„Conciertos-Tertulias“ nennen sich die monatlich stattfindenden musikalischen Begegnungen in Cumbayá. „Tertulias“ (nach dem antiken Schriftsteller Tertullian) waren die vor allem um die Wende zum 20. Jahrhundert beliebten literarischen Salons auf der iberischen Halbinsel und in den lateinamerikanischen Kolonien. Die Themen der daran angelehnten „musikalischen Salons“ sind nicht auf klassische Kammermusik beschränkt. Es gab auch schon Jazz-Abende und Mozart-Opern in Kammerversion, bei denen Podium und Zuschauerraum zu einer einzigen großen Bühne verschmolzen. Iván Vásconez vermittelt Musik in einer Form und mit einem Kenntnisreichtum, den man in den Konzertprogrammen der Stadt Quito vergeblich sucht.

Daneben unterrichtet der ausgebildete Klavierpädagoge viele Stunden am Tag, irgendwo zwischen deutschen Expats und ecuadorianischem Bürgertum. Als es vor Corona noch richtige Gottesdienste mit Musik gab, konnte man ihn in der deutschen katholischen Gemeinde von Quito regelmäßig in der Messe hören. Von klassischer Musik zu leben ist in keinem Land dieser Welt einfach, zumal in Pandemie-Zeiten. „Aber in Deutschland wäre ich einer von Unzähligen gewesen. Hier habe ich das Gefühl, dass es einen Unterschied macht, ob ich da bin oder nicht.“ 

Casa del Piano, Via Santa Inés, Cumbayá, nach der Kurve auf der linken Seite. Einladung zu den Gesprächskonzerten per WhatsApp unter 00593 998 982 504

26. Juni 2021

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Ecuador

Gläubige und Wohltäterin: Maria Augusta Urrutia

Wer war Maria Augusta Urrutia? Ein Porträt von ihr gibt es in ihrem kolonialen Haus in der Altstadt Quitos. Unauffällig hängt es ein einer Ecke des Salons, der „sala principal“. Nonne, oder Braut? Beides ist denkbar, der Maler Victor Mideros (1888 – 1967) lässt es in diesem Gemälde der Siebzehnjährigen offen. Links davon befindet sich das größere Bild von Maria Augustas Mann Alfredo, der zum Zeitpunkt der Heirat bereits 45 Jahre alt war, gegenüber diejenigen ihrer Eltern. 

Mehr Aufschluss über die Person der Hausherrin gibt das Arbeitszimmer.  Der Ort, an dem Maria Augusta Urrutia ihre zahlreichen Besitzungen, wohltätigen Stiftungen, Bildungseinrichtungen, Studentenheime verwaltete. Ein Raum, der wie das Büro eines Fabrikbesitzers vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts anmutet: Auf dem zentral in der Mitte platzierten imposanten Schreibtisch Telefon, Globus und Sanduhr, daneben Schreibmaschine und Kasse. Die gebildete und energische Hausherrin traf, beraten von Buchhalter und Sekretär, alle Entscheidungen selbst, auch die finanziellen. Aber sie wusste um ihre Grenzen. Gegenüber dem Schreibtisch an der Wand hängt, immer im Blick, ein ebenfalls von Victor Mideros gemalter Christus mit dem Titel „Yo soy“ – „Ich bin“. 

Das Stadthaus eines gebildeten und weitgereisten Paares

Maria Augusta Urrutia wurde 1901 als Tochter gebildeter und vermögender Eltern geboren; ihr  Vater Julio Urrutia gründete 1897 das erste Elektrizitätswerk Quitos. Einen großen Teil ihrer Jugend und Ausbildung verbrachte Maria Augusta in Frankreich, wo sie den aus Kolumbien stammenden Alfredo Escudero Eguigurén kennenlernte, den sie im Jahr 1921 heiratete. Mit ihm bezog sie das Stadthaus in der Calle Garcia Moreno, in dem sie bis zu ihrem Tode lebte. 

Italien in Quito: Das in den Zwanziger Jahren eingerichtete Badezimmer

Der Reichtum und der europäisch beeinflusste Geschmack des Paares zeigen sich in der Einrichtung des Hauses, die bis in die Details weitgehend erhalten ist. Spektakulär ist das vollständig originale Bad aus den Zwanziger Jahren mit seinen italienischen Glasfenstern; beeindruckend die Kombination von Antiquitäten und Skulpturen der Schule von Quito mit Teppichen, die von inkaischen Mustern inspiriert sind. So zeitgebunden die Räume eingerichtet waren, hatte das Ehepaar offenbar auch einen Blick für das kulturelle Erbe Lateinamerikas und Ecuadors.

Die Ehe blieb kinderlos. Bereits 1931 starb Alfredo Escudero und hinterließ seiner jungen Witwe unter anderem unermesslichen Grundbesitz mit zahlreichen Haciendas rund um Quito. Schon zu Lebzeiten ihres Mannes hatte sich die junge Frau vor allem der Verwaltung der familieneigenen Ländereien gewidmet. Nunmehr fasste sie den Entschluss, ihr Vermögen zugunsten von Bedürftigen und zum Nutzen der Stadt Quito einzusetzen. Ihrem Wunsch, in ein Kloster einzutreten, hatten die Eltern widersprochen, die ihre einzige Tochter gerne weiter um sich haben wollten.

Essen, Bildung und ein Dach über dem Kopf: Grundlagen für ein Leben in Würde

Bereits im Jahr 1932 eröffnete Maria Augusta einen Mittagstisch für Bedürftige, wo sie täglich zunächst dreißig, später bis zu hundert Kinder willkommen hieß. Die damals aus Deutschland angeschaffte Küche, in der die Mahlzeiten zubereitet wurden, ist heute noch im Wohnhaus zu besichtigen. Ein anderer Aspekt, der der Mäzenin am Herzen lag, war die Schul- und Universitätsbildung von Kindern und Jugendlichen aus den ländlichen Gegenden Ecuadors. In dem von ihr initiierten Wohnheim „Hogar Javier“ fanden in fünfzig Zimmern Studenten der staatlichen Universität zumeist kostenlos eine Unterkunft. Bis in die Achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein stifte Maria Augusta immer wieder Teile ihres immensen Landbesitzes, damit dort Schulen oder andere Bildungseinrichtungen errichtet werden konnten.

Gründung der Stiftung „Mariana de Jesús“

Im Jahr 1939 gründete sie die Stiftung „Mariana de Jesús“, die bis heute Bestand hat, und der die Stadt Quito unter anderem ihre Wasserversorgung und das Gelände des großen Stadtparks „La Carolina“ verdankt, Mit der Benennung ihrer Stiftung stellte sich Maria Augusta Urrutia bewusst in die Tradition der ecuadorianischen Nationalheiligen Mariana de Jesus de Paredes (1618 – 1645), ebenfalls einer jungen Frau aus gutem Hause, deren Lebenslauf dem ihrem in manchem glich.

Wie in so vielen Familien der ecuadorianischen Elite bis heute, spielte der katholische Glaube eine zentrale Rolle im Leben der Stiftungsgründerin. Sage und schreibe 89 Gemälde des vor allem zu christlichen Themen arbeitenden Victor Mederos schmücken ihr Haus. Schon früh hatte sie sich mit den Lehren des Ignacio von Loyola beschäftigt; einer Skulptur des Mitbegründers des Jesuitenordens gebührte ein Ehrenplatz neben dem Bett in ihrem Schlafzimmer. Ebenso wie Mariana de Jesús wählte auch Maria Augusta Urrutia sich einen Jesuitenpater (Eduardo Vásquez) als geistlichen Begleiter.

Die Mäzenin starb hochbetagt im Jahr 1987; zehn Jahre später wurde ihr Haus in ein der Öffentlichkeit zugängliches Museum in der Verwaltung der von ihr gegründeten Stiftung umgewandelt. Ihr Grab befindet sich, ebenso wie das der Stiftungspatronin Mariana de Jesús, in der prächtigen barocken Jesuitenkirche „Compañia de Jesús“, nur wenige Schritte entfernt von dem Haus, in dem sie ihr ganzes erwachsenes Leben verbracht hatte.

Casa Museo Maria Augusta Urrutia, Calle Garcia Moreno 760, Tel. 00593 – 2 – 258 01 03, Direktorin Victoria Mora. Besuch nur mit Führung auf Spanisch oder Englisch ca. 1 Stunde.

10. Juni 2021

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Ecuador Leben und Gesellschaft

Regierungslose, schreckliche Zeit: Warten auf Guillermo Lasso

Am 24. Mai wird Guillermo Lasso als Präsident Ecuadors in sein Amt eingeführt. Damit, so hoffen es viele, enden die gut anderthalb Jahre, in denen die scheidende Regierung von Lenin Moreno sich immer weiter in Korruption und Bedeutungslosigkeit verlor. Seit dem 21. Mai ist auch der zur Pandemie-Bekämpfung verhängte Ausnahmezustand beendet, und in der Bevölkerung macht sich angesichts eines langen Wochenendes ohne nennenswerte Restriktionen Karnevalsstimmung breit. Die Autos sind für den Wochenendausflug gepackt, Restaurants und Innenstädte voll von Menschen, aus den Gärten der Vorstädte schallt Musik.

Der neuen Regierungsmannschaft allerdings dürfte kaum nach Party zumute sein, denn die vor ihr liegenden Aufgaben sind riesig: Die staatlichen Kassen sind leer, das Land ächzt unter der dritten Corona-Welle, der Impfprozess läuft wegen Mangels an Impfstoff und Desorganisation schleppend. Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger haben rapide zugenommen; Bildungschancen sind als Folge der seit März 2020 andauernden Schulschließungen verschwunden.

Die Neuerfindung des Guillermo Lasso

Der erfolgreiche Selfmadebanker Lasso, der selbst aus einfachen Verhältnissen stammt und nie eine Universität besuchen konnte, hat sich in den vergangen Monaten in Demut geübt und um die Unterstützung von Frauen, Indigenen, sozial Schwächeren geworben. Mit 52,4 Prozent konnte er sich im zweiten Wahlgang im April gegen seinen Herausforderer Andrés Arauz, eine Marionette des diktatorischen Ex-Präsidenten Rafael Correa, durchsetzen. Er  tritt mit einem motivierten Experten-Kabinett und dem Versprechen an, mit vereinten Kräften dem von Wirtschafts- und Gesundheitskrise gebeutelten Land wieder auf die Beine zu helfen. Dabei will er den Kontakt zu allen Teilen der tief gespaltenen ecuadorianischen Gesellschaft  suchen: „Encontrémonos“ – „Sprechen wir miteinander“, ist seit den letzten Wochen des Wahlkampfes sein Motto. 

Das neue Kabinett trägt ungewohnt junge, professionelle und individuelle Züge. Die zukünftige Integrationsministerin Mae Montaño, Erziehungswissenschaftlerin und Ingenieurin aus der Küstenprovinz Esmeraldas, beantwortet die Frage nach ihrem Kindheitstraum nüchtern: Sie habe in der Regel davon geträumt, am nächsten Tag etwas zu essen zu bekommen. Dagegen stammt der designierte Finanzminister Simon Cueva aus einer traditionsreichen Familie von Politikern und Akademikern, hat in Frankreich studiert und verfügt aus seiner früheren Tätigkeit über gute Beziehungen zum Internationalen Währungsfonds, wichtig für das verschuldete Ecuador. Die Gesundheitsministerin Ximena Garzón ist Spezialistin in Öffentlichem Gesundheitswesen und Epidemiologie; Außenminister Mauricio Montalvo ist ein erfahrener Karrierediplomat, der zuletzt als Botschafter in Australien diente.

Regierung und Parlament: Feuer und Wasser

Auf zahlreichen Videos auf YouTube und TikTok präsentiert sich die Regierungsmannschaft als modernes und visionäres Team, beseelt von dem Gedanken, Ecuador mit Offenheit und neuen Ideen aus der Krise zu bringen. Doch dieser Optimismus dürfte bald auf eine harte Probe gestellt werden. Denn die Zusammensetzung des ebenfalls neu gewählten Parlaments spricht eine andere Sprache: In der von linken Kräften dominierten „Asamblea Nacional“ bilden die Anhänger der vom früheren Präsidenten Correa aus dem belgischen Exil ferngesteuerten UNES mit 49 Abgeordneten den größten Block. Zweitstärkste Kraft ist die Indigenenbewegung Pachakutik, die mit Guadalupe Llori die erste indigene Parlamentspräsidentin Ecuadors stellt. 

Lassos eigene Partei CREO verfügt nur über eine Handvoll Sitze im Parlament, ist also zum Regieren auf immer neue Konstellationen angewiesen, um die erforderliche Mehrheit von 70 der 137 Abgeordnetenstimmen zu erreichen. Bei der Wahl der Parlamentspräsidentin gelang dies durch einen Ad-Hoc-Zusammenschluss von CREO, Pachakutik und der Demokratischen Linken.  Gleichzeit kam es zum Bruch mit dem ehemaligen Wahlkampfpartner PSC, deren Abgeordneten nun jedes Mittel recht ist, um dem neuen Präsidenten Steine in den Weg zu legen. So konnte CREO anders als erwartet nicht den Vorsitz im wichtigen Wirtschaftsausschuss übernehmen. Dies wird die Ausgestaltung und Durchsetzung der von Lasso angekündigten Steuerreform im Parlament problematisch machen.

Lasso: für Ecuador – mit Gottes Hilfe

Bisher ist Lasso der Kritik seiner Gegner mit Humor begegnet. Ein bei TikTok vor wenigen Tagen veröffentlichtes Filmchen zeigt einen gutgelaunten Präsidenten in spe in Hemd, Jeans und den bereits emblematischen roten Turnschuhen; seine Hände umfassen ein Herz in den ecuadorianischen Nationalfarben: „Mir geht es um Ecuador, nicht um politische Ränkeschmiede“.  Während die Legislative um die Besetzung ihrer Ausschüsse rang, stellte ein entspannter Lasso der Öffentlichkeit seine Ministerriege vor.

Zur Amtseinführung am 24. Mai werden unter anderem der spanische König sowie Regierungschef Felipe Gonzalez, eine hochrangige Delegation aus den Vereinigten Staaten und diverse lateinamerikanische Staatschefs erwartet. Anders als bei früheren Präsidenten werden die Feierlichkeiten auf Wunsch des Opus-Dei-Mitglieds Lasso mit einer Messe in der Kathedrale beginnen. Und dann geht es an die Arbeit: Achtzig Dekrete sind bereits für den ersten Tag des neuen Kabinetts angekündigt. Die Sehnsucht des Landes nach einem Ende der de facto regierungslosen „schrecklichen“ Zeit ist groß. Aber ob die neue Regierung diese Sehnsucht wird befriedigen können, ist mehr als ungewiss.

22. Mai 2021

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