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Ecuador Leben und Gesellschaft

Für Dich soll’s rote Rosen regnen – Muttertag in der App

Ein erster virtueller Blumenstrauß beim Aufwachen: „Feliz Día de la Madre!“ WhatsApp ist zum festen Bestandteil unseres Lebens geworden. Oder nein: Es ist das Leben. Brot oder indisches Essen bestellen, Friseurtermin reservieren, die Katze in der Tierklinik anmelden – längst Gewohnheit. Im Archiv des Außenministeriums nachfragen, ob die gesuchte Akte zu einer in den Sechziger Jahren ins Ausland emigrierten Wissenschaftlerin gefunden wurde – nur über den direkten Kontakt zum Handy der Archivarin. Vor einigen Monaten wollte ich für unsere lokale Hilfsorganisation einen Termin mit einer Kirchengemeinde im Süden Quitos vereinbaren und erhielt binnen kurzem eine WhatsApp-Nachricht des Erzbischofs persönlich: Ob ich bitte rasch einmal anrufen könne?

Am heutigen Muttertag gibt das Smartphone gar keine Ruhe. In allen Chatgruppen strömen sie herein, die Bouquets, Gedichte, Grußkarten und Glückwünsche. Der Reitstall gratuliert ebenso wie die Schule, die Gemeinde, die Kollegen, die Nachbarn. Gewiss, auch am Tag des Lehrers und dem des Kindes ist viel Bewegung auf dem Handy, aber der Tag der Mutter, das ist in Ecuador eine Ikone. Ein Tag, der alle angeht, der die Herzen höher schlagen und die Familien zusammenkommen lässt. Der in normalen Jahren den Einzelhandel glücklich macht und die Restaurants zum Bersten füllt. 

Ohne Mariachi kein Muttertag, auch nicht in der Pandemie

Nicht so in diesen Tagen, in denen am Wochenende in sechzehn Provinzen des Landes strenge Ausgangssperre herrscht. Muttertagstechnisch ein Desaster. Keine Besuche bei der Familie, es sei denn, man hat  schon am Freitag Abend Mutter, Ehemann, Kinder und Cousins samt den benötigten Lebensmitteln und Alkoholika in den Pick-up gepackt und ist auf die Hacienda gefahren. Geplante Rückkehr in die Stadt am Montagmorgen. Aber halt, ein Zugeständnis gibt es, vom nationalen Notstandskomitee in letzter Minute gewährt: Die traditionell zum Muttertag angeheuerten Sängergruppen der „Mariachi“ dürfen auch in diesem Jahr den Müttern zu Ehren ihre Ständchen bringen, solange sie auf der Straße bleiben und nicht länger als dreißig Minuten vor dem Haus verweilen. Ein Besuch auf der zentralen Website, eine Nachricht an die dort genannte Nummer, und schon ist der musikalische Gruß an die Mutter in Auftrag gegeben.

Blumen darf man ebenfalls per App nach Hause ordern, ausnahmsweise an diesem Sonntag. Und das Restaurant um die Ecke liefert, irgendwie, wir sprechen mal nicht darüber. Die Nummer der Eigentümerin, wo war die noch…? Die Tageszeitung macht reich bebildert auf mit „Fünf Mütter, fünf Leben“, und kündigt zur Feier des Tages eine vierseitige Sonderbeilage an. Direkt darunter, als wäre es Werbung für lokales Kunsthandwerk, ein nur unwesentlich kleinerer Text: „Spezialisten für Särge und Urnen haben in der Pandemie besonders viel Arbeit“. Diese dumme Realität, die einem immer nur für eine halbe Seite die Feiertagslaune gönnt.

Das größte Geschenk an die Mutter: die Impfung

In Kenntnis dieser Realität versuchten sich manche Ecuadorianer an einem den Umständen angemessenen Geschenk für die Mutter: dem Ergattern einer COVID-Impfung. Die staatliche Sozialversicherung IESS hatte vor wenigen Tagen angekündigt, dass nunmehr alle Bürger über 65 Jahre einen Termin in den sogenannten Impfzentren  reservieren könnten. Da das mit dem Reservieren online oder per Telefon aber oft nicht so recht klappen will, nahmen viele Söhne und Töchter die Dinge entschlossen selbst in die Hand: „Ich werde am Samstag mit meiner Mutter losgehen und schauen, dass sie die Impfung bekommt, egal wie“, verkündete eine Bekannte vor wenigen Tagen. Am 4. Mai sind angeblich 100.000 Dosen Biontech am Flughafen in Quito angekommen, also neues Spiel, neues Glück. Und irgendjemand sagte doch etwas von einer halben Million Dosen Sinovac? Aktuelle Info liefert der Chat mit Freunden und Bekannten.

Wer nicht stundenlang in Sonne und strömendem Regen anstehen will und über das nötige Kleingeld verfügt, wählt die bequeme Variante: Den Flug in die USA. Eine vollkommen rationale Entscheidung: Da die Kosten einer hiesigen Krankenhausbehandlung trotz Versicherung schnell in die Zehntausende von Dollar gehen, scheint ein Flug nach Miami oder Atlanta auch ökonomisch die sinnvollste Lösung. Die Partygespräche (nein, natürlich keine Parties, nur Treffen im Garten unter strengster Einhaltung der Abstandsregeln) dieser Tage sind voll davon: „Wir sind in Florida einfach von Ort zu Ort gefahren, um zu gucken, wo wir drankommen. Die Kinder in der einen Stadt, mein Mann und ich im Nachbarort. Das war schon Arbeit, und es dauerte lange, aber schließlich hat es geklappt.“

Ein Leben ohne WhatsApp? Nicht denkbar in Ecuador

Koordinierung des familiären Impftermins über die interne WhatsApp-Gruppe, selbstverständlich. Mal so eben so zu einem anderen Anbieter wechseln? Gar ganz darauf verzichten? „Ohne Sinn“, würde unser Siebzehnjähriger dazu sagen. Datenschutz ist eine amüsante Idee in einem Land, in dem man nur die zehnstellige Personalausweisnummer eines Bekannten googeln muss, um beinahe alles über dessen Leben zu erfahren. In einer Zeit, in der man alle Regierungsbeamten im Homeoffice ausschließlich über die grüne App erreicht. Welcher befreundeten Mutter wollte ich noch Blumen schicken? Nie war es einfacher als heute.

Sonntag, 09. Mai 2021

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Ecuador Leben und Gesellschaft

Mein Haus oder mein Grab

Der Chat unserer gutbürgerlichen Wohnsiedlung am Rande von Quito ist ein von den Nachbarinnen permanent genutztes Forum, um nach vermissten Haustieren zu fahnden, vor neuen Schlaglöchern zu warnen, die Predigt des Lieblingspfarrers zu teilen oder die vom Neffen vermarkteten Erdbeeren anzubieten. Seit zwei Wochen hat sich der Tonfall dort geändert. Wie legt man seine zwei Schutzmasken beim Verlassen des Hauses korrekt übereinander an? Wieviel Ivermectin sollte ich wann einnehmen? Zusätzlich zum hier weiter beliebten Chlordioxid? Gekrönt von der geradezu schon klassischen illustrierten Aufforderung:  „Du hast die Wahl: „encerrado“ (eingeschlossen) oder „enterrado“ (begraben), in immer neuen Varianten. 

Seit dem 23. April ist die Wahl eigentlich keine mehr: Absolute Ausgangssperre jeweils von Freitag 20.00 Uhr bis zum Montag 5.00 Uhr hat das Nationale Notstandskomitee COE angeordnet. Angesichts langer Wartelisten in den staatlichen Krankenhäusern und einer Übersterblichkeit, die sich allmählich der 100% – Marke im Vergleich zu den Vorjahren nähert. Während immer noch keine Tests zu erschwinglichen Preisen vorhanden sind, und der im Ausland bestellte Impfstoff weiterhin nur tröpfelt. Noch nicht zwei Millionen Impfdosen sind bisher ins Land gekommen, nur 1,2% der Bevölkerung sind vollständig geimpft.

Alternativlos?

An diesem ersten Wochenende zwischen Gemüsegarten, Gesellschaftsspielen und gemeinschaftlichem Fernsehen kommen Erinnerungen an die drei Monate des vergangenen Jahres auf, in denen das Verlassen des Hauses nur einmal in der Woche erlaubt war. Nicht einmal das Ausführen des Hundes ist ein genehmigter Grund, auf die Straße zu gehen. Kein Auto zu hören. Keine Musik aus den Gärten. Nur die Tischtennis spielenden Nachbarn in der Garage. Ob das wirklich nur die Kernfamilie ist…?

Familientreffen als Hauptinfektionsherde

Denn die übliche COVID-Erzählung in Ecuador geht so: „Meine Tante ist letzte Woche am Virus gestorben. Aber meine Mutter hatte es auch, und meine Geschwister, und dann natürlich der Kleine; der Schwiegervater hat es glücklicherweise gut überstanden“. Wie hieß es doch damals in dem Eltern-Chat der Klasse eines meiner Kinder, als die Schulen bereits monatelang geschlossen waren: „In diesem Jahr haben wir gelernt, was wirklich zählt: Familie und Gesundheit“. Nur, dass das eine in Ecuador nicht gemeinsam mit dem anderen zu haben ist. Der neue wochenendliche Lockdown wurde  vor allem verhängt, um die großen Familientreffen und Parties zu verhindern.

Die Seuche hat nun auch die Wohlhabenden mit Macht erreicht. Familien, die mit vier Generationen gemeinsam auf einem riesigen Grundstück leben, sich aber beim sonntäglichen Mittagessen so selbstverständlich nahekommen, wie man es unter Verwandten eben tut. Familien, die die Urgroßmutter mit Symptomen erst nach sieben Tagen in ein Krankenhaus bringen, und sie anschließend wieder in ihre Wohnung holen, um ihr einen würdigen Tod zu bereiten. Familien, die ihre Teenager-Kinder mit Cousins und Freunden abends entspannt feiern lassen, um ihnen die Sozialkontakte zu ermöglichen, die sie für wichtiger und sicherer als Schulunterricht in einem kotrollierten Ambiente halten.  Familien, die aber notfalls auch noch einen Platz im privaten Krankenhaus ergattern oder zum Impfen in die USA fliegen können.

Noch schnell das Notwendigste für die drei Tage zu Hause besorgen

Freitag Abend 18.00: Das Zentrum des Städtchens Cumbayá ist voll von Einkäufern. Noch schnell Öl, Zucker und Kochbananen besorgen, Hundefutter, Getränke. An den Bushaltestellen Trauben von Menschen, Plastiktüten in der Hand. Die Busse nach wie vor gerne mit geschlossenen Fenstern. Vor mir ein offener Lastwagen mit weißen Sauerstoffflaschen, großen und kleinen. Die Listen, wo notfalls Nachschub erhältlich ist, zirkulieren bereits im Netz, Indien lässt grüßen. Die Zahl der bettelnden venezolanischen Flüchtlingsfamilien an der Kreuzung scheint größer als je zuvor – wovon werden sie in den kommenden Tagen leben?

Auch nach einem Jahr Pandemie ist es fast unmöglich, auf offiziellem Wege an verwertbare Daten zu Infizierten und Verstorbenen zu gelangen. Aber es ist zu vermuten, dass die Mehrheit der Corona-Kranken Ecuadors nach wie vor zu Hause stirbt, ohne je einen Test gemacht oder einen Arzt gesehen zu haben. Keine Überraschung, da vor den Toren der großen staatlichen Krankenhäuser dieser Tage oft mehr als 100 Patienten warten. Offiziell wird die Zahl der getesteten und vermuteten Corona-Toten seit Beginn der Pandemie mit etwa 18.000 angegeben; aber allein für das Jahr 2020 verzeichnete das statistische Amt mehr als 40.000 zusätzliche Todesfälle im Vergleich zu 2019. Sterben tun in Ecuador vor allem diejenigen, die keinen Arbeitsvertrag, keine Gesundheitsversorgung, wenig zu essen und keine Lobby haben. Aber eben nicht nur sie.

Nicht einzudämmen: Heimliche Tauffeiern und Geburtstagsfeste

Die Bilanz des ersten Wochenendes zu Hause in den trockenen Zahlen des Notstandskomitees: fast 1500 heimliche Feste aufgelöst, 117 Personen festgenommen, 7% weniger Menschenansammlungen. Und in der jetzt beginnenden Woche, die den auf Freitag vorgezogenen Maifeiertag einschließt, sollten alle Bürger bereits ab Donnerstag Abend in den Häusern bleiben. Aber halt, schon macht die Regierung eine Rolle rückwärts und verkündet für den Feiertag freie Fahrt für freie Bürger. Nur bis acht Uhr Abends, dann schließen sich bis zum Montag wieder die Haustüren, so lange niemand hinschaut. 

Die Leser der vor allem im weißen, bürgerlichen Milieu beliebten Tageszeitung „El Comercio“, zeigen sich in einer Online-Umfrage dementsprechend skeptisch, was die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen angeht.  „Nur im gemeinsamen Gebet werden wir geheilt“, sagt der Nachbarinnenchat. Und durch Händewaschen dreimal am Tag, ja, natürlich.

26. April 2021

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Ecuador Musik

„Nur ein Don Quijote kann so arbeiten“ – der Komponist Luis Humberto Salgado

Im November 1968 nahm das „Estradenorchester“, ein Ensemble des in Ostberlin ansässigen Deutschlandsenders, die „Suite Ecuatoriana“ von Luis Humberto Salgado auf. Es ist vermutlich die einzige Rundfunkaufnahme eines Werkes dieses Komponisten aus Ecuador, der sein Heimatland niemals verlassen hatte. Salgado war zum Zeitpunkt der Aufnahme 65 Jahre alt; er hatte bereits sechs Sinfonien geschrieben (neun sollten es werden), vier Opern, drei Klavierkonzerte, mehrere Kammermusikwerke und unzählige Kompositionen für Klavier.  Vor wenigen Wochen ist die erste Einspielung aller neun Sinfonien mit dem Sinfonieorchester von Cuenca unter dem deutschen Dirigenten Michael Meissner erschienen. Auf YouTube findet man eine neue Aufnahme des unterhaltsamen Bläserquintetts von 1958,  ansonsten jedoch nur vereinzelte Klavierstücke in eher fragwürdiger Aufnahmequalität.

Auch in Ecuador sind Salgado Werke noch weitgehend unbekannt

Wer war dieser 1903 geborene Luis Humberto Salgado, dessen Name auch heute in Ecuador kaum bekannt ist? Sein Vater Francisco Salgado war musikalischer Autodidakt und begann erst mit über dreißig Jahren an dem im Jahr 1900 gegründeten Konservatorium von Quito, der Hauptstadt Ecuadors, ein Musikstudium. Als Dozent und später sogar Direktor des Konservatoriums nahm er die musikalische Ausbildung seiner ältesten Söhne selbst in die Hand. So erfolgreich, dass die Brüder Luis Humberto und Gustavo ausgezeichnete Klavierspieler wurden. Nur gab es im Quito der Zwanziger Jahre schlichtweg keinen Bedarf an klassisch ausgebildeten Pianisten Während Gustavo schließlich doch Jura studierte, verlegte sich Luis Humberto früh auf das Komponieren. Schon zu Schulzeiten verdingte er sich zudem als Begleiter von Stummfilmen in den lokalen Kinos; ein Versuch, über eine Anstellung als Leiter der Blaskapelle im kolumbianischen Túquerres in die USA auszuwandern, scheiterte ebenso wie die von ihm später wohl nur halbherzig verfolgte Bitte um ein staatliches Stipendium für einen Europaaufenthalt.  

Es blieb ihm schließlich die Anstellung an demselben Konservatorium, an dem schon sein Vater lehrte, und wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1977 Kontrapunkt, Harmonielehre und Gehörbildung unterrichtete. Ansonsten lebte Salgado weitgehend in seiner eigenen musikalischen Welt. Einer Welt, in der er unermüdlich neue Werke schuf, die den Mitgliedern des 1956 gegründeten Nationalen Sinfonieorchesters als unverständlich und unspielbar galten. Nur seine sechste Sinfonie für Streicher und Pauken von 1968 sowie wenige Kammermusikstücke wurden zu seinen Lebzeiten in Ecuador vollständig aufgeführt. 

Europäische Form trifft ecuadorianischen Melos

Was sind das für Kompositionen? Grundsätzlich eine Fusion von folkloristischen Motiven und Rhythmen mit den klassischen Formen der aus Europa importierten „akademischen“ Musik, wie man in Lateinamerika sagt. In der Klaviermusik oft mit Anklängen an die  europäische Salonmusik, in den Orchesterwerken meist deutlich geprägt durch die Klangfarben der traditionellen lateinamerikanischen Blaskapellen, der „Bandas“. Salgados Hoffnung war es, mithilfe von Kompositionen auf hohem Niveau der einheimischen Musik Anerkennung auch außerhalb Ecuadors zu verschaffen. Kein ecuadorianischer Komponist vor oder nach ihm hat ein derart umfangreiches symphonisches Werk hinterlassen.

In unzähligen musikhistorischen und -theoretischen Artikeln entwarf Luis Humberto Salgado die Vision einer ecuadorianisch-andinen Sinfonieform. Vier Sätze wie in den Sinfonien von Haydn, Beethoven oder Schubert, aber geprägt von den Rhythmen und Harmonien einheimischer oder während der Kolonialzeit in Mode gekommener Tänze: Sanjuanito, Yaraví, Danzante, Albazo, Alza und Aire típico.

Eine ecuadorianische Sinfonie: Die Sinfonia Andina

Salgados in den vierziger Jahren komponierte erste Sinfonie (Sinfonia Andina), die nach diesem Konzept aufgebaut wurde, hat Konzertbesuchern in Quito – nur der zweite Satz wurde 1953 uraufgeführt – vielleicht noch vertraut in den Ohren geklungen. Aber bereits Ende der dreißiger Jahre hatte der Komponist begonnen, sich intensiv mit der von Arnold Schönberg entwickelten Zwölftontechnik auseinanderzusetzen. Mit Verspätung, gewiss, aber der Weg über den Atlantik war weit, Partituren und Aufnahmen gelangten ebenso wie das von Salgado favorisierte Notenpapier aus dem Hause Schirmer nur sporadisch aus Europa und den USA nach Ecuador. Mit Zufriedenheit erwähnt Salgado in seinen Schriften häufig seinen 1944 komponierten „Sanjuanito futurista“ – einen Sanjuanito streng nach den Regeln der Zwölftontechnik, aber im Rhythmus des in Ecuador bekannten Tanzes.  Harte Kost nicht nur für das damalige Publikum.  Salgado nutzte die neue Technik in seinen späteren Werken allerdings niemals exklusiv, sondern stets  als eine Inspirationsquelle unter vielen. 

Das ewige Vorbild: Beethoven

Luis Humberto Salgado: Freundlich, aber introvertiert, von der Arbeit besessen. Immer tadellos gekleidet, diszipliniert, perfektionistisch, verständnislos gegenüber weniger begabten Schülern. Detailversessen in seinen Kompositionen, penibel in seiner Notenschrift, unter jeder Komposition das genaue Datum des Beginns und der Fertigstellung. Sein Ideal war Ludwig van Beethoven: Salgado übernahm dessen Formsprache vielleicht konsequenter, als sie Beethoven selbst je beabsichtigt hatte. Gleichzeitig empfand der in Ecuador einsame Komponist wohl eine Art von Seelenverwandtschaft mit seinem Vorbild – auch Beethoven hatte aufgrund seiner Taubheit viele seiner eigenen Werke nur innerlich hören können. Das Manuskript seiner 7. Sinfonie schickte Salgado 1970 mit einer Widmung zum 200. Geburtstag dem Beethovenhaus in Bonn. “Meine Werke können hier nicht gespielt werden, es fehlt an Musikern, Instrumenten und Interesse”, zitieren Zeitgenossen den Komponisten; „nur ein Don Quijote kann so arbeiten.“ 

Nach der Uraufführung von Beethovens spätem B-Dur-Streichquartett im Jahr 1826 schrieb ein Zeitgenosse, „vielleicht kommt noch die Zeit, wo das, was uns beym ersten Blicke trüb und verworren erschien, klar und in wohlgefälligen Formen erkannt wird.“ Anders als sein Idol wartet Luis Humberto Salgado noch immer darauf, in Ecuador und darüber hinaus erkannt zu werden. 

(20. Oktober 2020, aktualisiert 12. April 2021)

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Ecuador

Nahe an der Schöpfung – rund um den Podocarpus Nationalpark

„Pancho, Pancho, komm her!“ Aber Pancho lässt sich lange bitten an diesem regennassen Morgen. Erst nach einer guten Stunde Wartens erklingt sein Ruf, der eher an ein dunkles Hundebellen erinnert als an einen Vogelschrei. Und dann kommt er höchstpersönlich. Auf starken grauen Beinen läuft er heran und widmet sich sofort den fetten Regenwürmern, die unser Begleiter Diego extra für ihn gesammelt, zerschnitten und in einer alten Waschpulverdose zum Futterplatz transportiert hat. 

Pancho und seine etwas schüchterne Frau Bibi gehören zur seltenen Art des Jocotoco Antpitta (Grallaria Ridgelyi) – eines Vogels, der fast ausschließlich im Reservat Tapichalaca im Südosten Ecuadors auf einer Höhe zwischen 2250 und 2700 Metern vorkommt. Rund 25 Paare leben hier, dazu noch einmal etwa zehn im benachbarten Nationalpark Podocarpus. Erst 1997 entdeckte der amerikanische Ornithologe Robert Ridgely diesen großen, fast schwanzlosen Vogel, der kaum fliegt und dennoch rund 30 Hektar Lebensraum für sich und seine Partnerin benötigt. Um diese Art zu schützen wurde 1998 die Stiftung Jocotoco gegründet, die heute 16 Reservate in ganz Ecuador verwaltet. 

In 20 Minuten in die nächste Klimazone

Wir sind auf einer mehrtägigen Reise rund um den Podocarpus Nationalpark. Ein Park, der sich über fast 150.000 Hektar in zwei Provinzen Ecuadors erstreckt und dabei vom subtropischen Urwald auf 900 Metern über Nebelwälder bei 2500 Metern Höhe bis zur kargen Landschaft des Páramo auf 3800 ein ganzes Spektrum von Klimazonen umfasst. Verbindendes Element in dieser Zeit des Jahres ist der Regen, der täglich mehrmals auf uns niederströmt. Der aber auch für die unendlichen Schattierungen an sattem Grün sorgt, wohin man auch blickt – hier ist nichts blass, zurückhaltend, diskret, sondern knallig, intensiv, raumgreifend. 

Kakao wurde vor 5500 Jahren bereits in Ecuador kultiviert

Nicht nur der ständige Wechsel von Höhe, Temperatur, Flora und Fauna raubt uns den Atem – es gibt auch faszinierende Geschichte zu entdecken. Von Tapichalaca ist es nicht weit bis zu den Ruinen von Santa Ana-La Florida nahe dem Dorf Palanda. Diese Begräbnis- und Kultstätte einer 5500 Jahre alten Kultur, der Mayo-Chinchipe-Marañón, wurde in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts durch Zufall bei Straßenbauarbeiten entdeckt. Zeugnisse derselben Kultur, die Beziehungen zur weit entfernten Küste Ecuadors pflegte, sind auch auf peruanischer Seite der heutigen Grenze an mehreren Orten zu finden. Am meisten Aufsehen erregte bei den 2002 begonnenen Forschungsarbeiten die Entdeckung von Kakaospuren in den als Grabbeigaben gefundenen Gefäßen. Anders als bis dahin angenommen, ist die Kakaopflanze wohl zuerst im heutigen Ecuador kultiviert worden und erst später nach Mittelamerika gelangt. 

Wo sich das Volk versammelte – Ausgrabungsstätte von Santa Ana – La Florida bei Palanda

Entspanntes Leben in Vilcabamba

Ganz andere Eindrücke erwarten die heutzutage wenigen Touristen im südlich gelegenen Städtchen Vilcabamba, wo den Gerüchten zufolge die ältesten Menschen Ecuadors leben. Zu dem Bild einer Stadt der fröhlichen Alten trägt vor allem die Präsenz zahlreicher amerikanischer Rentner bei, die das angenehme Klima, die niedrigen Lebenshaltungskosten und nicht zuletzt die Schönheit der Natur hierher gebracht haben. Da sind sie gerne bereit, auf die Annehmlichkeiten eines entwickelten Gesundheitssystems zu verzichten, und verlassen sich lieber auf tägliches Yoga, das obligatorische Amulett um den Hals und gesunde Ernährung. Kein Vier-Quadratmeter-Lädchen, in dem nicht neben den üblichen Bergen frischer Früchte lokal produziertes Müsli und organisches Kokosöl angeboten werden. „Und wissen Sie, die Coronamaßnahmen sind hier einfach nicht so strikt, das tägliche Leben ist viel angenehmer!“ So erzählt es ein älteres Ehepaar im arabischen Restaurant UFO, einem beliebten Treffpunkt der Internationalen, zentral neben der katholischen Kirche im ehemaligen Pfarrhaus samt Garten gelegen.

Und dann ist da noch der Podocarpus Nationalpark selbst. Seine zwei Zugänge liegen gut drei Fahrstunden und 1.600 Höhenmeter voneinander entfernt in zwei Welten. Der Nordeingang Cajanuma nahe Vilcabamba erweist sich als schwierig: „Montags sind wir wegen Desinfektion geschlossen“. Aber der Mittwoch ist nicht besser: „Nein, so spät – es ist viertel vor zwei am Nachmittag – dürfen Sie nicht mehr in den Park, wir haben neue Regelungen wegen der Pandemie“. Es reicht schließlich für eine kurze Runde durch wunderschöne Alleen, mit weiten Blicken in das angrenzende Tal – die Lagunenwanderung muss bis zum nächsten Mal warten.

Rüde Rückkehr in die Wirklichkeit

Den Podocarpus-Baum, die einzige endemischen Konifere Ecuadors, die eigentlich Blätter und keine Nadeln hat, sehen wir hier überraschend nicht, sondern erst einen Tag später am tropischen Ostrand des Parks bei Zamora. Während wir am Abend zuvor noch fröstelnd vor dem Ofenfeuer kauerten, begrüßen uns in Copalinga, dem jüngsten Reservat der Stiftung Jocotoco, sommerliche Temperaturen. Rote und gelbe Baumwurzeln durchziehen den Waldboden, leuchtend blühende Bromelien besiedeln jeden Ast. Nur mit den Vögeln haben wir hier weniger Glück – weder den erhofften Weißbrustsittich noch den Graufußtinamou bekommen wir zu Gesicht. Und auch ein Ausflug zum leider abseits aller Hauptstraßen gelegenen Informationszentrum des Volkes der Shuar endet unerwartet vor verschlossenen Türen.

Den Nationalpark verlassen wir schließlich nach Überwindung eines wenige Minuten zuvor gespannten gelben Absperrbandes: „Gefahr, Zutritt verboten“. Wieder neue Maßnahmen gegen die Pandemie, augenblicklich umgesetzt. Die Vertreibung aus dem Paradies geht nur allzuschnell.

08. April 2021

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Ecuador Leben und Gesellschaft

Ausnahmen vom Ausnahmezustand

Sieben Uhr abends am Karsamstag, Im überdachten Hinterhof eines typischen alten Stadthauses in Cuenca, der drittgrößten Stadt Ecuadors, spielt Musik. Auf der Bühne des Restaurants ein singender Gitarrist und ein Saxophonspieler, die die zumeist jungen Gäste mit eigenen Arrangements erfreuen. Es wird geklatscht und gelacht, gut gegessen und der ein oder andere Cocktail genossen. Zwar stehen die wenigen Tische mit Abstand, tragen die Kellner Maske, sind ohnehin nicht allzuviele Menschen da, aber dennoch: Ein unwirkliches Ambiente. Je weiter der Zeiger der Uhr vorrückt, desto mehr. Während wir vorsichtig berechnen, ob die Zeit bis zur Sperrstunde um acht Uhr noch für einen Nachtisch reicht, beruhigt uns der Kellner: „Keine Eile, wir machen dann nur die Türen nach draußen zu. Die Taxis fahren eh auch noch später.“

In der Nacht zu Karfreitag beschloss die Regierung von Präsident Lenin Moreno, nicht nur alle Strände und Nationalparks über die Feiertage zu schließen, sondern mit unmittelbarer Wirkung in acht Provinzen des Landes wieder den Ausnahmezustand zu verhängen: Sperrstunde ab 20.00 Uhr, Autofahren nur an jedem zweiten Tag je nach Kennzeichen, Weiterführung des verpflichtenden Home Office für alle Staatsbediensteten, Fortsetzung der seit März 2020 bestehenden Schulschließungen. Treffen mit Personen außerhalb der Familie seien verboten, ebenso wie der Verkauf von Alkohol am Abend und an den Wochenenden. Das Militär werde die Einhaltung der Maßnahmen überwachen, deren Dauer noch ungewiss sei.

Als die Ecuadorianer am Karfreitag Morgen aufwachten, rieben sie sich verwundert die Augen, und wandten sich wieder ihrem Tagesgeschäft zu. Nach der gängigen Devise, dass in diesem Land nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird.  Auf den Landstraßen waren an diesem Feiertag tatsächlich nur wenige Fahrzeuge unterwegs, aber deren Kennzeichen endeten auf alle nur denkbaren Ziffern. Bis zum Abend erreichten das gegenüber der Regierung und ihren Verlautbarungen weitgehend gleichgültig gewordene Volk immer neue Versionen der Empfehlungen des nationalen Notstandskomitees und des begleitenden Präsidentendekrets.

Ein Präsidentendekret und seine Umsetzung in der Wirklichkeit

Samstag Morgen gegen neun Uhr brechen wir in die Innenstadt von Cuenca auf, und der Spuk scheint vergessen.  In der Kathedrale am Hauptplatz beten die Gläubigen weit verstreut im riesigen Gebäude; davor haben die Verkäufer von Kerzen, Weihrauch und Kochbananenchips ihre üblichen Stände neben den Schuhputzern aufgebaut. Die Autos drängeln sich in den engen Straßen, das Geschäft auf dem Blumenmarkt floriert, und das in einer ehemaligen Entzugsanstalt untergebrachte städtische Museum für Moderne Kunst kann sich über Besuchermangel nicht beklagen. Auch dort die typischen, ineinander übergehenden Innenhöfe, offenen Durchgänge, luftigen Räume. Im gegenüberliegenden Kaffee entspannen junge Familien in der Sonne, studieren Studenten bei einem frischen Obstsaft, teilen Paare das Eis mit dem Hündchen auf dem Schoß.

Mittags sind wir bei einer befreundeten Familie im Garten zum Essen eingeladen. Wo man vorher noch schnell eine gute Flasche Wein bekommen könne, fragen wir die Empfangsdame im Hotel? Der von ihr empfohlene Supermarkt erweist sich als Fehlschlag: Gelbes Klebeband ziert das Weinregal, und die zur Bewachung abgestellte Verkäuferin erinnert uns an die „Ley seca“, das „Gesetz zum Trockenbleiben“, das heute doch gelte. Also Schokolade statt Wein mitbringen. Oder doch nicht? Es klopft an der Tür unseres Hotelzimmers: „Falls Sie eine Flasche brauchen, meine Schwester könnte Ihnen da helfen…“

Wo Tests und Impfungen unerreichbar sind, wird Corona in den Alltag integriert

Seit dem 17. März 2020 lebt Ecuador mit den Maßnahmen zur Bekämpfung von Corona – und um sie herum. Mal mit, mal ohne Ausgangssperre. Mal mit, mal ohne Alkohol. Mit ständig wechselnden Regelungen zum Autofahren. Einige Museen sind geschlossen, andere geöffnet. Restaurants und Hotels dürfen 50% ihrer Plätze besetzen, aber das ist ein dehnbarer Begriff. Auf wenige Dinge kann man sich verlassen: Familien dürfen sich in jeder beliebigen Größe treffen unter Einschluss aller Cousins und der Urgroßeltern; die Regierung und ihre Beamten arbeiten von zu Hause über WhatsApp, und die Schulen bleiben geschlossen. Kostenlose Tests und Impfungen sind für den Großteil der Bevölkerung Ecuadors eine Fata Morgana: Seit Beginn dieses Jahres hat das Land 455.000 Impfdosen erhalten, von denen kaum 250.000 bisher ausgegeben wurden. Schnelltests? Außerhalb des Flughafens von Quito, wo jeder Einreisende verpflichtend getestet wird, ein unbekanntes Wort.

Es ist viertel vor acht an diesem Abend. Wir zahlen, treten auf die dunkle Straße. Am Bremsverhalten der Autofahrer ist leichte Nervosität zu erkennen. Polizei ist keine zu sehen. Wir laufen dennoch zügigen Schrittes Richtung Hotel. Durchqueren die Halle. Zimmertür zu, Maske ab.  Wenn uns Corona eines bisher gelehrt hat ist es, mit Widersprüchlichkeiten zu leben.

3. April 2021

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Ecuador

Schutz von Kulturgut: Die Casa Museo Carangue

Die Prinzessin hat ein Bett aus verblichenem rotem Tuch. Womöglich war sie auch keine Prinzessin. So genau weiß man das nicht. Aber hier ruht sie nun, oder vielmehr das, was von ihr übrig ist nach vielleicht tausend Jahren. Sie liegt auf einem Podest in der Form einer abgeflachten steinerne Pyramide, in der Mitte einer strohgedeckten Rundhütte.

Die große Pyramide im Tal von Zuleta

Die flachen Pyramiden sind typische Bauwerke der Kultur der Caranqui. Unter diesem Namen werden heutzutage die Herrschaftsgebiete vor allem dreier Volksgruppen zusammengefasst, der Otavalo, Cayambe und der Caranqui selbst, die seit dem Jahr 700 zwischen den Flüssen Chota (im Norden) und Guayllabamba (im Süden) siedelten. Ungefähr ab 1470 wurde diese Verteidigungsgemeinschaft in einer rund zehn Jahre währenden Auseinandersetzung von den aufstrebenden Inka unterworfen. So groß war der Widerstandswille, dass einige der Kämpfer mit ihren Familien anschließend nach Peru zwangsumgesiedelt wurden.

Ein neuer Raum zur Darstellung der Caranqui-Kultur

Am 31. März dieses Jahres nun eröffnet in dem Dörfchen Zuleta südlich von Ibarra die neue „Casa Museo Carangue“ , das „Caranqui-Museum“. Amable Cachalo wird diese private Sammlung auf seinem Grundstück in einem eigens dafür errichteten Gebäude ausstellen. „Wir haben uns beim Bau an den Hütten orientiert, in denen die Stammesführer der Carangue lebten. Diese Rundhäuser standen zentral auf den flachen Pyramiden, die sie hier überall in unserem Tal finden können.“ Wer im Tal von Zuleta wandert, sieht sie: pyramidenförmige Anlagen mit oder ohne Rampe, von Gras überwachsen. Auf der größten Erhöhung ist aus der Luft deutlich die runde Fläche zu erkennen, auf der sich die Rundhütte eines Anführers befand.

„An solch einer Stelle haben wir auch die Knochen dieser Prinzessin gefunden. Nur die Mitglieder der führenden Familien durften im Zentrum der Pyramide begraben werden. Diese Kette hier war ihre Grabbeigabe.“ Amable zeigt die mehr als zwanzig Teile einer bronzenen Halskette, die neben dem Skelett gefunden wurden. 

Bis vor einem Jahr arbeitete der frischgebackene Museumsdirektor als Touristenführer für die nahebei gelegene traditionsreiche Hacienda Zuleta. Die im 17. Jahrhundert von Jesuiten gegründete Hacienda, Familiensitz des früheren Staatspräsidenten (1948-1952) Galo Plaza  ist eine der wenigen in Ecuador, die tatsächlich noch koloniale Gebäude besitzt.  Damit zieht sie in normalen Jahren erfolgreich zahlungskräftige ausländische Touristen an. Aber mit der Pandemie verlor Amable Cachalo seine Arbeit. Auf einmal hatte der Hobbyethnologe Zeit, sich intensiv seinem seit vielen Jahren gehegten Projekt zu widmen: Der Einrichtung eines eigenen Museums zur Caranqui – Kultur. 

Ohne die Familie geht nichts in Ecuador

Was tut man in Ecuador, wenn man etwas Größeres vorhat? Man bittet die erweiterte Familie und möglichst auch das ganze Dorf um Hilfe. Kein Problem für den in Zuleta verwurzelten Amable, „den Liebenswerten“, der zur Zeit Vizepräsident der  Dorfgemeinschaft ist. „Ich habe alle gebeten, mir Fundstücke zu stiften oder auch zu verkaufen, die sie im Familienbesitz hatten – Werkzeuge, Trinkgefäße und so weiter.“ So ist ein Museum entstanden, das mit gut erhaltenen Artefakten und Bildern die Geschichte einer Kultur, eines Dorfes und einer Familie zugleich dokumentiert.  Um staatliche Unterstützung hat der Museumsgründer vergeblich gebeten.

Eine beeindruckende Sammlung von vermutlich originalen Caranqui-Gefäßen steht hier neben dem von einem Verwandten gespendeten Webstuhl und einem Spinnrad, das von intensivem Gebrauch zeugt. Die Herstellung von Stoffen war schon bei den Caranqui Männersache: „Es gibt noch zwei Dorfbewohner in Zuleta, die weben können; ich möchte das selbst unbedingt lernen, damit diese Kunst nicht verloren geht“, sagt Amable.  Auf einem Foto an der Wand sind vier Frauengenerationen seiner Familie beim Besticken der hier typischen Textilien vereint: Deckchen, Tücher, Blusen.  Derselben Blusen, die man auf dem sonntäglichen Touristenmarkt erwerben kann,  heutzutage gleich mit den dazu passenden Masken.

Die erste Erweiterung ist schon geplant

Auffallend professionell ist das Museum binnen nur eines Jahres gebaut und ausgestattet worden, mit der Beratung durch zwei befreundete Archäologen. Selbst die sanitären Anlagen sind ästhetisch beeindruckend. Nur ein paar Erläuterungen zur Geschichte fehlen noch. Aber die erste Erweiterung ist schon geplant: „Ich möchte noch eine Küchenhütte bauen, so, wie wir sie bei den Ausgrabungen an verschiedenen Stellen gefunden haben. Es gibt so viele Fundstücke, die man ausstellen muss!“

Casa Museo Carangue, Zuleta: +593 98 942 8406, E-mail: achachalo@yahoo.com, Eintritt 5 $

Hacienda Zuleta: https://zuleta.com (sehenswert, aber Luxus; pandemiebedingt gibt es gelegentlich Sonderangebote)

10. März 2021

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Ecuador Leben und Gesellschaft

Einfach mit dem Kind zum Arzt gehen

Daniel Regalado ist ein Gummiball. Veranstaltungsorganisator, Koch, Schauspieler – und seit 2017 Vorsitzender der Vereinigung „Venezuela en Ecuador“. Als er vor elf Jahren aus Caracas nach Quito kam, war die Zahl der Venezolaner vor Ort überschaubar, ihr Verein klein. Aufgrund des nunmehr seit Jahren nicht abreißenden Flüchtlingsstroms aus Venezuela leben mittlerweile rund 435.000 venezolanische Staatsangehörige in Ecuador, davon geschätzte 28.000 in der Hauptstadt Quito. Viele von ihnen haben Kinder. An allen Straßenecken sieht man sie: Familien mit zwei und drei Geschwistern, Eis verkaufend, bettelnd, Schularbeiten machend, schlafend.

Binnen eines Jahr mit Corona ist der Anteil der Armen und Bitterarmen an der Bevölkerung Ecuadors wieder auf das Niveau von 2010 geklettert. Das statistische Amt konstatiert in seinem jüngsten Bericht, dass 32% der Bewohner zur Zeit von weniger als 2,80$ am Tag leben. Das ist etwa so viel, wie ein Liter Öl im Supermarkt kostet. Die allermeisten venezolanischen Flüchtlinge zählen zu den etwa 60% der Bevölkerung, die als „informales“ von der Hand in den Mund leben, ohne Arbeitsvertrag, ohne Krankenversicherung, oft ohne Papiere.

Das Ziel: Eine Arztpraxis für Flüchtlinge und Einheimische

Daniel Regalado hat einen Traum, der gerade Wirklichkeit wird: Mit mehreren befreundeten Ärzten will er eine Arztpraxis für Bedürftige aufbauen, mitten im Zentrum Quitos, im Sektor El Ejido. Einen Ort, wo Mütter mit ihren Kindern zu den Vorsorgeuntersuchungen kommen können; wo Menschen mit geringem oder keinen Einkommen die ärztliche Betreuung finden, die das staatliche Gesundheitssystem nicht leisten kann oder will. Dafür hat er sein ganzes Kontaktnetzwerk in Bewegung gesetzt und zwei gut gelegene Räume preisgünstig angemietet:  „Schauen Sie, die Möbel haben wir als Spende bekommen! Eine amerikanische Kirche hat uns die Farbe für die Wände gestiftet; und eine Textilfirma gibt uns die Kittel. Medikamente bekomme ich von befreundeten Ärzten und von verschiedenen Laboratorien. Noch zwei Wochen, dann sieht das hier alles wunderbar aus!“

In den zwei hellen Zimmern im zweiten Stock eines fast leerstehenden Hauses haben die Initiatoren sich heute getroffen: eine erfahrene Krankenschwester, ein Kinderärzteehepaar, vor drei Jahren als von der Regierung Verfolgte aus Venezuela geflohen: „Wovon wir geträumt haben, das bekommt jetzt eine Form, einen Ort.“ Dank ihrer Ausbildung und Arbeitserfahrung haben sie alle es geschafft, auf dem schwierigen ecuadorianischen Arbeitsmarkt eine Anstellung zu finden. Alle wollen sie nach ihrer Fluchterfahrung jetzt anderen helfen: „Wir haben bisher, auch aufgrund der Pandemie, Diagnosen oft per Telefon gestellt, wir machen Hausbesuche, bieten Beratungstage im Park an – aber es sind einfach zu viele Leute, die medizinische Hilfe brauchen“, sagt die Kinderchirurgin Ximena (Name geändert). 

Die staatlichen Gesundheitszentren sind überlastet

Die einfachen staatlichen Gesundheitszentren können diese Hilfe nicht anbieten: Sie sind mit den vielen Corona-Infizierten unter der ärmeren Bevölkerung beschäftigt, nehmen oft seit langem keine anderen Patienten mehr an. Selbst wo Raum wäre, bleiben die Kranken aus Angst vor einer Ansteckung im Sprechzimmer oder in der Klinik aus. Aufgrund der Wirtschaftskrise sind selbst die Standard-Impfstoffe oft nicht erhältlich. Damit ist „Vorsorge“ oder „Früherkennung“ für viele Menschen, die sich den Besuch in einer privaten Praxis nicht leisten können, zu einem Fremdwort geworden. 

Ab Mitte März soll das neue Zentrum solchen Familien eine Alternative bieten: Wenige Dollar nur müssen für eine normale Untersuchung bezahlt werden, ein wenig mehr für die Überweisung an einen der Spezialisten im Netzwerk. Wer nicht zahlen kann, wird umsonst behandelt. Woher weiß man, ob jemand Geld hat? „Ach, wir kennen hier alle. Und wir haben schon so viel gesehen – man merkt das einfach, ob jemand lügt.“ Ganz wichtig ist es allen Anwesenden, dass nicht unterschieden wird zwischen Venezolanern und Ecuadorianern. „Wir erleben täglich Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung. Aber wir wohnen hier, wir bleiben hier, wir müssen dem Land auch etwas zurückgeben“, sagt Daniel Regalado, der gute Kontakte zum Ombudsmann der Regierung pflegt.

Nach der Gesundheit kommt die Bildung

Sein nächster Wunsch: „Ein Pilotprojekt, um unsere Flüchtlingskinder besser in das hiesige Schulwesen zu integrieren; Nachhilfestunden für Bedürftige und Traumatisierte, in enger Zusammenarbeit mit Psychologen und Ärzten.“ Nur 13.643 venezolanische Kinder im Schulalter sind im Schuljahr 2020/2021 in hiesigen Institutionen eingeschrieben.  „Wir wollen keine Venezolaner mehr“, kann man auf der Mauer einer Schule in Quito lesen. Aber heute sitzen neben den Ärzten eine Grundschullehrerin und ein Englischlehrer, die bereits an einem Plan arbeiten. Die schon jetzt Eltern beraten bei allen Schulproblemen. „Solche Leute habe ich in allen Stadtteilen, in allen großen Städten Ecuadors.“ Wer Daniel Regalado kennt, zweifelt nicht daran, dass er auch dieses neue Projekt in kürzester Zeit Realität werden lassen wird.

3. März 2021

Ab dem 14. April 2021 nimmt die Arztpraxis Anmeldungen entgegen. Das Formular finden Interessierte hier.

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Ecuador Leben und Gesellschaft

Angst vor Corona und vor der Zukunft – Wahltag in Ecuador

Die Menschenschlange ist unendlich. Sie windet sich um zwei Blocks herum, die Straße hinauf, auf der anderen Seite wieder  herunter und endet schließlich am Eingang der Schule „Benjamin Carrión“ im Stadtteil „Comité del Pueblo“ (Volkskomitee) im Norden von Quito. Um sieben Uhr haben die Wahllokale geöffnet; der nationale Wahlrat hat empfohlen, dass alle Ecuadorianer, deren Ausweisnummer auf eine gerade Zahl endet, bis zwölf Uhr wählen, all die mit einer ungeraden Endziffer dann am Nachmittag. Aber aus Angst, nicht rechtzeitig zum Wahllokal zu gelangen, das um Punkt 17.00 schließen muss, sind viele Wähler früh aufgestanden.

Und nun stehen sie seit zwei Stunden in der Schlange, teils ergeben in ihr Schicksal, teils laut schimpfend: „Wo sehen Sie hier irgendeinen Abstand, es ist eine Schande!“, beschwert sich eine junge Frau. „Hört zu, wir sind von der Stadtverwaltung: Falls Ihr nach der Wahl Symptome spürt, kommt in das Stadion von Calderón, dort führen wir gratis PCR-Tests durch“, rufen zwei in Arztkittel gekleidete Männer in die Menge. „Dies hier ist unmöglich“, fügen sie, zu mir gewandt, hinzu. Die überforderte Wahlleiterin in der Schule möchte am liebsten gar keine Wahlbeobachter in ihren Räumen haben und kann auf Nachfrage nicht sagen, wie viele Wahlpflichtige hier registriert sind. 

Zwischen Wahlpflicht und Angst vor Corona

In einem anderen Wahllokal sollen heute 14.000 Bürger ihre Stimme abgeben. Das bedeutet 1.400  Personen pro Stunde, verteilt auf diverse Wahlräume und Stimmkabinen. In Ecuador besteht Wahlpflicht; wer nicht abstimmt, muss eine Reihe von Behördengängen erledigen und 39,40 US-$ Strafe zahlen, ein Zehntel des Mindestlohns, um das begehrte Papier zu erhalten, das ihm Pflichterfüllung bescheinigt. Wer das Wahllokal verlässt, strebt häufig gleich zu einem der zahlreichen Stände mit Laminiermaschinen, um den ergatterten Schein für die nächste Zeit sicher einzuschweißen: Keine Kontoeröffnung, kein Autoverkauf ohne Wahlbestätigung. Auch wer seinen eigenen Kugelschreiber vergessen hat – neben Maske, Alkohol und Ausweis unabdingbares Requisit in diesen Zeiten – wird in einem der vielen kleinen Schreibwarenläden für 35 Cent fündig. 

Seit Donnerstag Abend ist Wahlwerbung verboten; dennoch hängt direkt neben dem Eingang zur Abendschule Benjamin Carrión noch ein Foto des Kandidaten Arauz; und damit der Wähler gleich weiß, wer die Kampagne von Arauz orchestriert, steht es in dicken Lettern dort: „Correa Liste 1“. Rafael Correa, diktatorischer Staatspräsident bis 2017, wegen Korruption rechtskräftig verurteilt, zur Zeit im Exil in Belgien. In den WhatsApp-Gruppen der reichen Oberschicht kursieren bereits am Nachmittag des Wahltags selbst gedrehte Filme, die dokumentieren sollen, dass in einzelnen Wahllokalen älteren Mitbürgern im Voraus zugunsten von Arauz ausgefüllte Stimmzettel ausgehändigt werden. 

Was kümmern mich die Chats meiner Nachbarn

Ecuador ist ein zutiefst gespaltenes Land, in dem der eine Teil der Gesellschaft nicht weiß, was der andere denkt, und dies auch gar nicht wissen will. Die Unternehmer, Anwälte und Ärzte in den grünen und großen Siedlungen am Rande von Guayaquil und Quito diskutieren bei einem Glas Wein auf der überdachten Terrasse, wohin man am besten emigrieren sollte, und wie man an einen europäischen Pass gelangt, sollte Arauz gewinnen. Die zahlreichen Kleinunternehmer und Ladenbesitzer der unteren Mittelschicht haben ganz andere Sorgen: „Ich verkaufe am Tag Waren im Wert von 40 bis 50 $. Das Gesetz verlangt, dass ich darauf sofort 2% Steuer zahle, nicht auf den Gewinn, sondern auf alle Einnahmen! Die sind verrückt, ich muss Strom, Wasser, Miete bezahlen – was soll ich essen?“, flucht ein Mann, der vor einem anderen Wahllokal auf seine dort wählende Mutter wartet. Und erklärt dem im Sand spielenden Sohn einer Mitwartenden: „Wir sind hier, um einen guten Präsidenten zu wählen. Einen der an das Volk denkt!“. 

7. Februar 2021

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Ecuador Musik

Zwischen Pleite und Politik – ecuadorianische Musiker in der Pandemie

„Es ist so gut, wieder richtig Musik zu hören“, kommentiert der Pianist Andrés Torres das Konzert des amerikanischen Bratschisten Brett Deubner in der „Casa de la Música“ von Quito. Es ist ein Donnerstag Abend. 54 meist junge Musikliebhaber verteilen sich in dem 600 Zuhörer fassenden Raum, zwei Drittel der Sitze sind nach Flughafenmanier mit überdimensionalen Aufklebern „Hier bitte nicht Platz nehmen“ gekennzeichnet. Nach geltenden Corona-Regeln dürfen nur 30 Prozent der Plätze belegt werden. 54 mal acht Dollar Eintritt, das ergibt 432 Dollar Abendeinnahmen. „Wir müssen schließlich irgendwie wieder anfangen“, sagt Maria Laura Terán, die Geschäftsführerin des von einer privaten Stiftung unterhaltenen Hauses.

Im März 2020 wurde in Ecuador der Ausnahmezustand verhängt; das Direktorium der Casa de la Música, des wichtigsten Konzertsaals Quitos, entliess darauf zwei Drittel der Mitarbeiter. Nach gut acht Monaten des faktischen Stillstands unternahm man im Dezember einen ersten Versuch, Künstler und Publikum wieder von Angesicht zu Angesicht zusammenzubringen: Das Weihnachtskonzert der „Orquesta Sinfónica Nacional“ am 18. Dezember war ausverkauft. Aber schon am 21. Dezember schickte das nationale Notstandskomitee COE alle Staatsbediensteten wieder zurück in’s Home Office. Auch die Musiker des hauptstädtischen Sinfonieorchesters. Zurück in das seit März bekannte Elend: Üben zu Hause nach Dienstplan, unter genauer schriftlicher Dokumentierung der jeweils gesetzten Arbeitsziele, der dafür investierten Zeit, des konkreten Fortschritts. Aufnahme des Geübten zum Beweis, Einschicken an die Orchesterleitung. Und das bei reduzierter Stundenzahl und geringerem Gehalt, das oft mit Verspätung eintrifft.

Orchester und Musikschulen leiden gleichermaßen

An den Musikschulen des Landes sind die Verdienstmöglichkeiten zurzeit nicht besser: unterrichtet wird online – zu ermäßigtem Tarif bei anstrengenderer Arbeit, versteht sich. Aber immer mehr Eltern können sich auch den billigeren Online-Unterricht nicht leisten: das Verschwinden des Tourismus’, die zeitweise Schließung der Restaurants, und der Zwang zur Kurzarbeit bei den staatlichen Angestellten haben bei der Mittelklasse zu einem massiven Einkommenseinbruch geführt. Für Musik ist da kein Platz mehr, und auch die Musikbegeisterung vieler Kinder ist nach fast einem Jahr Onlineunterricht deutlich geschwunden. „Vor der Pandemie hatte ich an der Musikschule vierzehn Schüler, jetzt sind es gerade noch sechs“, erzählt eine Lehrerin. „Wenn ich nicht zwei feste Stellen hätte, wüsste ich überhaupt nicht, wie es weitergehen sollte“, hört man von einem anderen Kollegen. 

Vier staatlich finanzierte Orchester gibt es in Ecuador: in der Hauptstadt Quito, dem pittoresken Cuenca, der Hafenstadt Guayaquil und in dem kleinen Loja. Alle mussten während der ersten Monate der Pandemie ihre Arbeit vor Ort einstellen. In Cuenca schuf Chefdirigent Michael Meissner, aus Deutschland über Mexico nach Ecuador gekommen, umgehend seinen eigenen digitalen Konzertsaal auf YouTube: Ein Konzert pro Woche stellte er ins Netz – Aufnahmen, die er oder die Musiker noch zu Hause hatten, denn die Proberäume und Büros durften ja nicht betreten werden. Auch das Orchester von Loja ist einmal wöchentlich im Internet präsent. Inzwischen wird dort und in Cuenca wieder live gespielt – allerdings ist der Eintritt zu den Konzerten wie früher kostenlos, und die Überweisungen seitens der Regierung in Quito dürften in diesem zweiten Corona-Jahr eher spärlich ausfallen.

Der Staat lebt von der Hand in den Mund

Denn der ecuadorianische Staat hat kein Geld mehr. Die staatliche Universidad Central in Quito entließ im vergangenen Oktober vorübergehend 700 Dozenten, darunter auch die Angehörigen der gerade im Aufbau befindlichen Musikfakultät. Überweist der Internationale Währungsfonds Ecuador eine Kredittranche, begleicht die Regierung ein paar Rechnungen, zahlt einige Gehälter, und dann ist die Kasse wieder leer. Dementsprechend hat man beispielsweise in Guayaquil bisher nicht einmal zwei Prozent des sonst üblichen Jahresbudgets für das dortige Orchester erhalten – das ist schon zum Sterben zu wenig, geschweige denn zum Leben.

Zu allem Überfluss verkündete unlängst auch der langjährige Chefdirigent der „Sinfónica Nacional“, der in Moskau ausgebildete Álvaro Manzano, in einem Interview mit dem Online Magazin „Mundo Diners“ seinen Rückzug vom Dirigentenpult. Zur großen Überraschung seiner Musiker, die von der Entscheidung über Facebook erfuhren. Der Übergang zu einer neuen Leitung dürfte sich hinziehen, denn bei allem Geldmangel ist die Besetzung des Leitungspostens in Quito auch eine politische Frage. Der für die Ausschreibung verantwortliche Kulturminister und Musiker Julio Bueno, seit dem 21. Januar im Amt, ist nicht nur wegen seiner engen persönlichen Beziehungen zum Staatspräsidenten hoch umstritten  Und auch seine Tage sind gezählt, denn am 7. Februar sind Wahlen in Ecuador. Es wird mit einem Sieg von Andrés Arauz, einem Parteigänger des früheren Präsidenten Correa gerechnet. Desselben Correa, der den staatlichen Orchestern verbot, für ihre Konzerte Eintritt zu nehmen. 

Ja, es ist gut, wieder Musik zu hören. Es fragt sich nur, wie lange es hier noch Musiker und Institutionen geben wird, die sich diese Musik leisten können. 

6. Februar 2021

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Ecuador Leben und Gesellschaft

„Diese Schule gehört nicht mir, sie gehört den Kindern“

Elisa ist fünfzehn Jahre alt. Mit ihren sechs Geschwistern und dem verwitweten Vater lebt sie sie auf der Straße: In einigen Autowracks, die am Straßenrand liegen, unter über Ziegelmauern gebreiteten Planen, auf dem noch unbebauten Grundstück daneben. Die Mutter ist vor sieben Jahren wohl an einem Hirntumor verstorben, der Vater arbeitet als Tagelöhner, teilt aber den Tagelohn nicht unbedingt mit seinen Kindern. 

„Als Elisa zu uns kam, war sie beinahe wie ein wildes Tier – sie schaute niemanden an, sie sprach nicht, niemals ließ sie sich berühren“. Mónica Váca, die Leiterin der nach Johann Heinrich Pestalozzi benannten Grundschule in Otavalo im Norden Ecuadors umarmt das Mädchen dennoch. „Wo ist dein Bruder Fabian?“ Fabian musste mit dem Vater in die zwei Stunden entfernte Hauptstadt Quito – offenbar hatte er einen kleineren Unfall, aber das Krankenhaus in Otavalo nimmt zur Zeit nur Corona-Patienten an. „Können wir Deinen Vater anrufen, braucht er Hilfe?“ Nein, eine Telefonnummer hat sie nicht. Der ältere Bruder schaut in sein Handy, aber auch er weiß nicht, wie man den Vater erreichen kann.

Kein Ort für Homeschooling: Wo Elisa und Fabian wohnen.

Schulleiterin Mónica Vaca: Ich wollte eine inklusive Schule

Solche Szenen gehören zum Alltag von Mónica Vaca. Selbst aus Otavalo gebürtig, kam die Lehrerin und Psychologin mit praktischer Erfahrung in der Montessori-Pädagogik vor 26 Jahren in ihre Heimatstadt zurück. Nach mehreren Jahren sozialer und pädagogischer Arbeit in Quito hatte sie sich in den Kopf gesetzt, eine inklusive Schule zu gründen. Einrichtungen für Kinder mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen gab es damals in der Stadt nicht, und die Behörden erklärten sie schlichtweg für verrückt. Das Gebäude mietet sie von der Stadt; ein Gehalt bezieht sie nicht – die Schulleiterin lebt von ihrer Tätigkeit als Psychologin für private Patienten.

Mit zwölf Kindern und unendlich viel Eigeninitiative begann sie damals. Die Zahl der Kinder wuchs über die Jahre stetig, der eigene Beitrag, den die Leiterin und ihre Lehrkräfte leisteten ebenso. Sie sammelten bei Verwandten und Bekannten Möbel, strichen mit Hilfe der Eltern die Wände, richteten sogar eine kleine Bibliothek ein. „Vor drei Jahren hatten wir 93 Kinder, davon 43 mit Behinderungen“. Dann öffnete in Otavalo eine staatliche Schule für behinderte Kinder, und viele Eltern, die 30 Dollar Schulgeld im Monat ohnehin nur mit Mühe aufbringen konnten, wechselten mit ihren Kindern an die staatliche Einrichtung. „Aber das ist nicht dasselbe, dort werden die Kinder nur aufbewahrt, bei uns lernen sie, um später selbständig leben und arbeiten zu können.“

Fast unmöglich: Schule in der Pandemie

Jetzt sind es noch 32 Kinder. Aber seit März 2020 sind alle Schulen geschlossen in Ecuador. Fast alle Eltern sind mittlerweile arbeitslos. Mónica Vaca ist allein mit ihrer Tochter und einer weiteren Lehrerin. Sie versuchen, was menschenmöglich ist: Elisa und Fabian kommen drei- bis viermal in der Woche in ihren Klassenraum. Nur zwei kleine Pulte stehen dort, versehen mit ihren Namen, dazwischen ein gelbes Stühlchen für die Lehrerin. Andere Kinder werden von den Lehrerinnen zu Hause besucht, die ihnen den Stoff erklären. Wieder andere wohnen zu weit, bis zu zweieinhalb Stunden entfernt. Wenige sind über Internet zu erreichen: „Die meisten haben keinen Anschluss; fünf Dollar bezahlen sie wöchentlich, um beim Nachbarn ab und zu über WhatsApp unsere Arbeitsanleitungen herunterzuladen“. Ein informeller Tarif, der in Ecuador seit Beginn der Schulschließungen landesweit gilt, ob in den Bergen oder an der Küste.

Ein geschützter Raum für Kinder mit besonderen Bedürfnissen

Der achtjährige Dylan ist klein und dünn für sein Alter. Als er vor wenigen Jahren in die staatliche Schule kam, konnte er nicht sprechen, lernte nicht zu lesen, konnte nicht schreiben. wurde gehänselt. In der Pestalozzi-Schule und dem angegliederten Maria-Montessori-Zentrum hat er einen geschützten Raum gefunden, Sprechen, Lesen und Schreiben gelernt. „In den staatlichen Schulen gehen manche Eltern so weit, dass sie dem Lehrer Geld anbieten, wenn er Kinder wie Dylan nur irgendwie los wird“, berichtet Patricia, Mónicas Tochter. „Wenn immer wir von solchen Fällen hören, versuchen wir, sie bei uns unterzubringen“. Für viele dieser Kinder wird die Schule ihr Lebensmittelpunkt, ein Ort, an dem sie sich uneingeschränkt wohl fühlen. Die Lehrerin erzählt von zwei krebskranken Geschwistern, die darum baten, in ihrer Schuluniform, in der Schule sterben zu dürfen.

Der ecuadorianische Staat leistet keine Hilfe, auch nicht bei der Finanzierung der Schulspeisung, für viele Kinder die einzige Mahlzeit des Tages. Eine Abordnung von Lehrkräften an die Schule wurde zwar mehrfach seitens der Regierung versprochen – Wirklichkeit wurde sie nie. Zuweilen bittet die Leiterin bei Vereinen und Nichtregierungsorganisationen um Stipendien für die allerärmsten ihrer Kinder. Elisa, Fabian und Dylan werden zur Zeit von den Damas Alemanas aus Quito unterstützt. Aber am Ende sind es doch immer wieder die Lehrer selbst und ihre Familien, die den eigenen Gemüsegarten plündern, Schreibmaterial besorgen und die Toiletten reparieren. „Wir geben den Kindern ein neues Leben“, sagt Mónica Vaca dazu. So einfach ist das.

21. Januar 2021

aktuell zum Thema: „Fernab des Fernunterrichts“, FAZ.net vom 21.01.2021

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