Kategorien
Musik

„Immer im Protest“ – Inés Muriel als Emigrantin in der DDR

„Aus den Konzertsälen Lateinamerikas“ berichtet die Frauenstimme mit leichtem Akzent, aber in gewähltem Deutsch. Inés Muriel gibt auf Radio DDR II einen Überblick über das klassische Musikleben in den großen Städten Lateinamerikas, erzählt von einem Auftritt des Dresdener Ulbrich-Quartetts in Havanna, lobt die „konsequente und wirksame Musikpolitik Kubas“. Wir schreiben das Jahr 1977. Die Ecuadorianerin Inés Muriel Bravo lebt seit Anfang der Sechziger Jahre in der DDR. Die von ihr konzipierten und produzierten Radiosendungen dieser Zeit zeichnen das Bild einer eigenwilligen, politisch engagierten, hochdisziplinierten Frau. Sie sind Zeugnis eines bewegten und zugleich zurückgezogenen Lebens zwischen Ecuador, Kolumbien und Deutschland.

1926 wurde Inés Muriel als Kind kolumbianischer Einwanderer in der ecuadorianischen Stadt Riobamba geboren. Später zog sie mit ihren Eltern in die Hauptstadt Quito, wo sie am Konservatorium Unterricht in Klavier und Gesang erhielt. Mit ihrem um ein Jahr älteren Bruder Guillermo Muriel, der später ein bekannter Maler wurde, engagierte sie sich in linken Kreisen, war aktives Mitglied der kommunistischen Partei Ecuadors.

Über die KP zum Studium der Musikwissenschaft in der DDR

Dieses politische Engagement setzte sie fort, als sie 1957 mit ihren zwei kleinen Töchtern nach Kolumbien zog. In der von Gewalt und Repression geprägten Zeit der kubanischen Revolution war die Parteimitgliedschaft für sie jedoch ein permanentes Risiko. Die kolumbianische KP verschaffte der alleinerziehenden Muriel schließlich ein politisches Stipendium, und so emigrierte sie 1963 in die DDR. Inés Muriel wollte sich dort mit dem beschäftigen, wofür sie sich immer interessiert hatte: Musik und Musikwissenschaft. Und sie wollte sehen, wie es möglich war, dass „auf dem Boden eines ehemals faschistischen Staates ein sozialistisches System entstehen konnte“, beschreibt es ihre Tochter.

Vor das Studium hatte die DDR den Schweiß gesetzt: Ihren Studienplatz musste sich die angehende Musikwissenschaftlerin durch praktische Arbeit in einer Lampenfabrik verdienen. Erst dann konnte sie sich – sie war Mitte Dreißig – an der Universität Leipzig einschreiben. Die Stadt, in der sie 1968 ihre Diplomarbeit zur „Musik des Volkes der Shuar in Ecuador“ einreichte, wurde ihre Heimat für 18 Jahre: „Es hätte mir dort nicht besser gehen können“, sagte sie 1980 in einem Interview. Sie arbeitete für den Rundfunk der DDR, betreute Künstler wie Mercedes Sosa und Oswaldo Guayasamin bei deren Aufenthalten, war offenbar gut vernetzt. Was sie nicht davon abhielt, mit dem zu hadern, was in der DDR nicht so gut funktionierte – „immer im Protest“ sei sie gewesen, heißt es. 

„Ich hätte ja niemandem Konkurrenz gemacht“: Versuch einer Rückkehr nach Ecuador

Offenbar gab es seitens des Leipziger Lehrstuhls durchaus Interesse, durch die Stipendiatin mehr über die musikalische Welt Lateinamerikas zu erfahren. Aber, so schrieb Muriel 1967 resigniert an den Komponisten Luis Humberto Salgado in Quito, „unsere lieben Landleute sind nicht einmal höflich genug,  auf entsprechende Anfragen aus Deutschland zu reagieren“. Dennoch wollte sie zurück nach Ecuador. Sie hoffte auf eine Anstellung am Konservatorium, vielleicht auch auf die Unterstützung des Komponisten Gerardo Guevara, der nach seinem Studium in Frankreich Chefdirigent des nationalen Sinfonieorchesters und später Direktor des Konservatoriums wurde. Aber vergeblich: Sie sei überqualifiziert, hieß es lapidar. Was Inés Muriel für sich so übersetzte: „Ich bin kein Dirigent, ich hätte niemandem Konkurrenz gemacht. Aber die Leute haben Angst vor jedem, der sich von der hiesigen kleinstädtischen Mittelmäßigkeit abhebt. Die Machos hier verhindern, dass eine Frau vorankommt.“

Der Trompeter und Komponist Edgar Palacios verschaffte ihr schließlich eine Aufgabe am kleinen Konservatorium des musikliebenden Städtchens Loja. Dort forschte sie zur Musik des Volkes der Saraguro, brachte gar einige junge Saraguro als Schüler nach Loja, darunter auch den späteren Indigenenführer Luis Macas. Als dem Konservatorium nach sechs Monaten die Mittel ausgingen, fand Muriel eine Anstellung in einem UNESCO-Projekt zu den traditionellen Festen Ecuadors. Aber auch dort stießen sich wissenschaftlicher Ehrgeiz der Forscherin und ecuadorianische Realität: der von Muriel verfasste Abschlussbericht des Projekts strotzt von Beschwerden über mangelnde Zeitplanung, fehlende technische Ausstattung und nicht vorhandene personelle Unterstützung.

Zum zweiten Mal: Emigration nach Kolumbien

Als die Universidad Libre in Bogotá ihr 1980 ein Angebot machte, an der dortigen musikwissenschaftlichen Fakultät zu lehren, zögerte Inés Muriel deshalb nicht. Sie emigrierte ein zweites Mal nach Kolumbien – und blieb. Unterrichtete, von ihren Studenten gemocht und respektiert, bis über ihren achtzigsten Geburtstag hinaus; produzierte noch mit 77 Jahren wöchentliche Radiobeiträge zur Musik des 20. Jahrhunderts. Ecuadorianische Musik kommt in ihren über 200 online nachzuhörenden Sendungen dieser Zeit nicht mehr vor – mit Ausnahme von Gerardo Guevara, dem ein einziger Beitrag gewidmet ist.

Die alte Dame lebt noch heute in Bogotá. In Ecuador gibt es nur wenige Menschen, die sich an sie erinnern. In den deutschen Archiven schlummern die Berichte der Staatssicherheit. In Kolumbien verhindert Corona samt seinen Folgen den Zugang zu Bibliotheken und alten Vorlesungsverzeichnissen, die genaueren Aufschluss über ihre Tätigkeit gäben. Die Person Inés Muriel, von der die einen mit Bewunderung, die anderen mit Unverständnis, wenige aber mit Kenntnis sprechen, entzieht sich weitgehend der journalistischen Annäherung. Es gibt in den Quellen vier verschiedene Geburtsjahre, aber kein Foto von ihr. Inés Muriel ist heute vor allem – eine Stimme.

12. November 2021

Postscriptum: Inés Muriel Bravo starb am 9. Januar 2022 in Bogotá.

Kategorien
Musik

Ecuadors neun Sinfonien

Dass Ludwig van Beethoven neun Sinfonien geschrieben hat, ist hinlänglich bekannt. Auch an Bruckner, Schubert oder Mahler mag so mancher sich erinnern. Aber Luis Humberto Salgado? Ein weitgehender musikalischer Autodidakt aus dem ecuadorianischen Cayambe, der in seinem Leben nicht aus seinem Heimatland hinauskam, zwar zweimal Direktor des nationalen Konservatoriums  war, aber von seiner Kunst kaum leben konnte? Der neben seinen Sinfonien acht Solokonzerte, vier Opern, Ballette, Kammermusik sowie zahlreiche Klavierwerke und Lieder schrieb – aber die meisten dieser Kompositionen niemals in einem Konzert hörte?

Der deutsch-mexikanische Dirigent Michael Meissner hat sich seit vier Jahren intensiv mit dem Schaffen Luis Humberto Salgados (1903-1977) beschäftigt und dessen neun Sinfonien nun in einer Aufnahme mit dem Sinfonieorchester von Cuenca bei dem niederländischen Label Brilliant Classics herausgebracht. Eine Mammutleistung, denn als Meissner 2017 sein Amt als Chefdirigent des staatlichen Orchesters in Cuenca antrat, schlummerten die handschriftlichen Partituren der Sinfonien vergessen im Nationalarchiv Ecuadors. 

Über mehrere Jahrzehnte lagen die neun Sinfonien im Archiv

Es galt also zuerst einmal, diese Dokumente abzufotografieren, zu digitalisieren, teilweise auch zu rekonstruieren: Von der ersten, der 1949 abgeschlossenen „Andensinfonie“, fehlte das Finale des letzten Satzes; die Fünfte „Neoromantische“ existierte nur noch als Klavierfassung fast ohne Angaben zur späteren Instrumentierung, so dass die verschollene Orchesterpartitur von Meissner neu erstellt werden musste. Im September 2019 wurden alle neun Sinfonien im Teatro Pumapungo in Cuenca aufgenommen. Erst in diesem Sommer konnte schließlich das Set mit drei CDs herausgebracht werden. Zum ersten Mal sind damit diese in Ecuador einzigartigen Werke der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden.

Folkloristische Themen gehen eine Verbindung mit klassischer Form ein

Wer die ländlichen Feste und feiertäglichen Prozessionen des ecuadorianischen Hochlands kennt, fühlt sich mit der ersten Sinfonie dorthin versetzt: Da läuten die Kirchenglocken, marschiert die Banda, zwitschern die Vögel, tanzt das Volk. Es ist tatsächlich eine „Sinfonía Andina“, die einheimische Tanzrhythmen und Melodien als Inspirationsquelle nutzt: den raschen San Juanito, den elegischen Yaraví, den hüpfenden Aire Típico. Der Komponist legte jedoch in seiner Einführung zur Sinfonie Wert darauf, dass alle seine Themen „Originalthemen des Autors“ seien, von ihm selbst erdacht, nicht populären Volksliedern entnommen.

Nicht umsonst hatte sich Salgado, der durch seinen selbst komponierenden Vater mit Musik aufgewachsen war,  viele Jahre lang mit den Sinfonien der großen europäischen Komponisten seit Beethoven beschäftigt. Die meisten dieser Werke dürfte er nie in einer Aufnahme und schon gar nicht in einem Konzert gehört haben, aber er hatte sie gelesen: Sein Bruder Gustavo, der viel reiste und selbst ausgebildeter Pianist war, brachte ihm wohl regelmäßig aktuelle Partituren aus Europa mit. Und so wusste Luis Humberto Salgado genau, was die Form Sinfonie im klassischen Sinne ausmachte. Er verband diese traditionellen Formelemente geschickt und oft innovativ mit andinen Themen, Rhythmen und Harmoniefolgen. Im Zusammenhang mit seiner ersten Sinfonie schrieb er: „Es wäre kindisch, zu meinen, dass eine reine Orchestrierung volkstümlicher Themen…eine Sinfonie ergäbe; (…) das wäre dann lediglich eine Sammlung folkloristischer Melodien.“

Kompositionen in der Nachfolge Schönbergs

Ganz anders ist dagegen der Höreindruck der Siebten Sinfonie, deren Manuskript Salgado 1970 „Aus Anlass des 200. Geburtstags Beethovens“ dem Beethoven-Haus in Bonn schickte. Das Werk hat über weite Strecken keine klare Tonart und beginnt mit eher abstrakten Motivfetzen, die im Verlauf der Sinfonie immer wieder aufgegriffen werden und dadurch die kompositorische Einheit des Werkes begründen. Seit den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts hatte sich Salgado mit der Zwölftontechnik Arnold Schönbergs auseinandergesetzt, sie in seinen Kompositionen selten in Reinform umgesetzt, aber Elemente daraus zunehmend virtuoser in seinen kammermusikalischen und symphonischen Werken verwandt, so wie in dieser Siebten.  Auch hier gibt es im letzten Satz Fanfaren, Glocken, Harfeneinwürfe, aber in einem deutlich komplexeren formellen und harmonischen Rahmen als in der „Andina“. 

Salgado schrieb seine neun Sinfonien über einen Zeitraum von rund fünfunddreißig Jahren. Fast alle tragen von ihm hinzugefügte Untertitel: „Im Rokoko-Stil“ die Dritte, “Zum Jahrestag der Schlacht von Pichincha“ die  Achte, die überraschenderweise kaum ecuadorianische Anklänge bringt. Ein typischer Salgado – Klang zieht sich durch alle Werke. Häufig meint man, sowohl die Einflüsse der dem Komponisten von Kind an bekannten lokalen Blaskapellen, der „Bandas“, als auch der Film- und Bühnenmusik der 20er und 30er Jahre zu hören – als Student verdiente der exzellente Pianist Salgado sein Geld zeitweise durch das Begleiten von Stummfilmen und wandernden Opernkompagnien.

Erstmals sind Werke Salgados nun im Handel auf CD erhältlich

Nach wie vor gibt es vom umfangreichen Werk Luis Humberto Salgados keine im Handel erhältlichen Noten; die zwei existierenden CDs sind nur auf Umwegen zu beschaffen. Die Aufnahme des Sinfonieorchesters von Cuenca ist deshalb die erste überhaupt, welche die Kompositionen Salgados für ein internationales Publikum hörbar macht. In Ecuador selbst wurde von der Produktion bedauerlicherweise bisher kaum Notiz genommen. Bleibt zu hoffen, dass man diese Box demnächst auch vor Ort erwerben kann. 

Luis Humberto Salgado, The 9 Symphonies, Orquesta Sinfónica de Cuenca, Dirigent Michael Meissner, Brilliant Classics 2021. Bestellbar im Internet über alle bekannten europäischen und amerikanischen Anbieter, 3 CDs rund 20 Euro. Ein Interview mit Michael Meissner zu Werk und Aufnahme finden Sie hier.

16. September 2021

 

Kategorien
Musik

Mehr Musik hören – die Casa del Piano in Cumbayá

Wenn Iván Vásconez über Musik spricht, wird sie lebendig. In Janker und weißem Hemd steht er auf der Bühne und erzählt. Öffnet den Bechstein, setzt sich hin und spielt: „Schauen Sie, hier wechselt in unserem Stück die Erzählerperspektive, das hören Sie im Text, aber auch in dem neuen Rhythmus der linken Hand!“ Wirft eine Zeichnung von M.C. Escher an die Wand, um den Aufbau einer Komposition zu illustrieren.

Französischer Impressionismus im privaten Konzertsaal

Lieder von Gabriel Fauré, Ernest Chausson und Claude Debussy sind es, die der Pianist heute mit der in den USA ausgebildeten Sopranistin Maria José Fabara zur Aufführung bringt und erklärt. Ein Programm, das man sonst in Quito eher nicht zu hören bekommt. Knapp vierzig Zuhörer haben sich in dem privaten Konzertsaal im Untergeschoss von Vásconez‘ Wohnhaus im Vorort Cumbayá versammelt. In Nicht-Corona-Zeiten könnten es zwischen ein- und zweihundert sein, nach augenblicklichen Regeln darf nur ein Drittel der Plätze besetzt werden.

Im November 2005 öffnete die „Casa del Piano“ offiziell ihre Pforten. „Eigentlich habe ich mit diesen Gesprächskonzerten schon vorher angefangen. Ich wollte meinen Klavierschülern etwas bieten, das über den reinen Unterricht hinausging. Die Schüler selbst fanden das nicht wirklich spannend. Aber ihren Eltern gefielen meine Konzerte, dann kamen auch deren Freunde, und als wir den heutigen Saal schließlich eröffneten, hatte ich hier 200 Leute im Publikum!“

Ausbildung am Konservatorium von Quito, Studium in Essen

Iván Vásconez lernte Klavier unter anderem am Konservatorium der ecuadorianischen Hauptstadt, aber ein eigentliches Musikstudium gab es in jener Zeit in Ecuador noch weniger als heute. So ging er nach seinem Abitur an der Deutschen Schule Quito im Jahr 1991 nach Deutschland und studierte dort an der Folkwang Universität Essen bei Catherine Vickers Klavier und anschließend Kammermusik bei Vladimir Mendelssohn. Anders als viele seiner Landsleute aber blieb er nach dem Konzertexamen nicht in Deutschland, sondern kehrte Ende der Neunziger Jahre in seine Heimat zurück. Die Verbindung zu seinem Studienland blieb: Das von Vásconez während seines Deutschlandaufenthalts gegründete Turina-Klavierquartett reiste 1999 zu Konzerten nach Quito, Cuenca und Guayaquil.

Der Kammermusik gilt von jeher die große Liebe dieses Pianisten: mit dem Geiger Santiago Mora und der Cellistin Elza Erazo (zuvor Gerhard Garreis) spielt er seit rund zwanzig Jahren in einem Trio, das regelmäßig in der Casa del Piano auftritt. Zuletzt im Mai dieses Jahres mit dem B-Dur-Trio D 898 von Schubert. Mit Santiago Mora bestreitet Vásconez immer wieder auch Duo-Programme in der Casa de la Música, dem wichtigsten Konzertsaal Quitos.

Kammermusik, Oper, Jazz – vieles geht, wenn man will

„Conciertos-Tertulias“ nennen sich die monatlich stattfindenden musikalischen Begegnungen in Cumbayá. „Tertulias“ (nach dem antiken Schriftsteller Tertullian) waren die vor allem um die Wende zum 20. Jahrhundert beliebten literarischen Salons auf der iberischen Halbinsel und in den lateinamerikanischen Kolonien. Die Themen der daran angelehnten „musikalischen Salons“ sind nicht auf klassische Kammermusik beschränkt. Es gab auch schon Jazz-Abende und Mozart-Opern in Kammerversion, bei denen Podium und Zuschauerraum zu einer einzigen großen Bühne verschmolzen. Iván Vásconez vermittelt Musik in einer Form und mit einem Kenntnisreichtum, den man in den Konzertprogrammen der Stadt Quito vergeblich sucht.

Daneben unterrichtet der ausgebildete Klavierpädagoge viele Stunden am Tag, irgendwo zwischen deutschen Expats und ecuadorianischem Bürgertum. Als es vor Corona noch richtige Gottesdienste mit Musik gab, konnte man ihn in der deutschen katholischen Gemeinde von Quito regelmäßig in der Messe hören. Von klassischer Musik zu leben ist in keinem Land dieser Welt einfach, zumal in Pandemie-Zeiten. „Aber in Deutschland wäre ich einer von Unzähligen gewesen. Hier habe ich das Gefühl, dass es einen Unterschied macht, ob ich da bin oder nicht.“ 

Casa del Piano, Via Santa Inés, Cumbayá, nach der Kurve auf der linken Seite. Einladung zu den Gesprächskonzerten per WhatsApp unter 00593 998 982 504

26. Juni 2021

Kategorien
Musik

„Nur ein Don Quijote kann so arbeiten“ – der Komponist Luis Humberto Salgado

Im November 1968 nahm das „Estradenorchester“, ein Ensemble des in Ostberlin ansässigen Deutschlandsenders, die „Suite Ecuatoriana“ von Luis Humberto Salgado auf. Es ist vermutlich die einzige Rundfunkaufnahme eines Werkes dieses Komponisten aus Ecuador, der sein Heimatland niemals verlassen hatte. Salgado war zum Zeitpunkt der Aufnahme 65 Jahre alt; er hatte bereits sechs Sinfonien geschrieben (neun sollten es werden), vier Opern, drei Klavierkonzerte, mehrere Kammermusikwerke und unzählige Kompositionen für Klavier.  Vor wenigen Wochen ist die erste Einspielung aller neun Sinfonien mit dem Sinfonieorchester von Cuenca unter dem deutschen Dirigenten Michael Meissner erschienen. Auf YouTube findet man eine neue Aufnahme des unterhaltsamen Bläserquintetts von 1958,  ansonsten jedoch nur vereinzelte Klavierstücke in eher fragwürdiger Aufnahmequalität.

Auch in Ecuador sind Salgado Werke noch weitgehend unbekannt

Wer war dieser 1903 geborene Luis Humberto Salgado, dessen Name auch heute in Ecuador kaum bekannt ist? Sein Vater Francisco Salgado war musikalischer Autodidakt und begann erst mit über dreißig Jahren an dem im Jahr 1900 gegründeten Konservatorium von Quito, der Hauptstadt Ecuadors, ein Musikstudium. Als Dozent und später sogar Direktor des Konservatoriums nahm er die musikalische Ausbildung seiner ältesten Söhne selbst in die Hand. So erfolgreich, dass die Brüder Luis Humberto und Gustavo ausgezeichnete Klavierspieler wurden. Nur gab es im Quito der Zwanziger Jahre schlichtweg keinen Bedarf an klassisch ausgebildeten Pianisten Während Gustavo schließlich doch Jura studierte, verlegte sich Luis Humberto früh auf das Komponieren. Schon zu Schulzeiten verdingte er sich zudem als Begleiter von Stummfilmen in den lokalen Kinos; ein Versuch, über eine Anstellung als Leiter der Blaskapelle im kolumbianischen Túquerres in die USA auszuwandern, scheiterte ebenso wie die von ihm später wohl nur halbherzig verfolgte Bitte um ein staatliches Stipendium für einen Europaaufenthalt.  

Es blieb ihm schließlich die Anstellung an demselben Konservatorium, an dem schon sein Vater lehrte, und wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1977 Kontrapunkt, Harmonielehre und Gehörbildung unterrichtete. Ansonsten lebte Salgado weitgehend in seiner eigenen musikalischen Welt. Einer Welt, in der er unermüdlich neue Werke schuf, die den Mitgliedern des 1956 gegründeten Nationalen Sinfonieorchesters als unverständlich und unspielbar galten. Nur seine sechste Sinfonie für Streicher und Pauken von 1968 sowie wenige Kammermusikstücke wurden zu seinen Lebzeiten in Ecuador vollständig aufgeführt. 

Europäische Form trifft ecuadorianischen Melos

Was sind das für Kompositionen? Grundsätzlich eine Fusion von folkloristischen Motiven und Rhythmen mit den klassischen Formen der aus Europa importierten „akademischen“ Musik, wie man in Lateinamerika sagt. In der Klaviermusik oft mit Anklängen an die  europäische Salonmusik, in den Orchesterwerken meist deutlich geprägt durch die Klangfarben der traditionellen lateinamerikanischen Blaskapellen, der „Bandas“. Salgados Hoffnung war es, mithilfe von Kompositionen auf hohem Niveau der einheimischen Musik Anerkennung auch außerhalb Ecuadors zu verschaffen. Kein ecuadorianischer Komponist vor oder nach ihm hat ein derart umfangreiches symphonisches Werk hinterlassen.

In unzähligen musikhistorischen und -theoretischen Artikeln entwarf Luis Humberto Salgado die Vision einer ecuadorianisch-andinen Sinfonieform. Vier Sätze wie in den Sinfonien von Haydn, Beethoven oder Schubert, aber geprägt von den Rhythmen und Harmonien einheimischer oder während der Kolonialzeit in Mode gekommener Tänze: Sanjuanito, Yaraví, Danzante, Albazo, Alza und Aire típico.

Eine ecuadorianische Sinfonie: Die Sinfonia Andina

Salgados in den vierziger Jahren komponierte erste Sinfonie (Sinfonia Andina), die nach diesem Konzept aufgebaut wurde, hat Konzertbesuchern in Quito – nur der zweite Satz wurde 1953 uraufgeführt – vielleicht noch vertraut in den Ohren geklungen. Aber bereits Ende der dreißiger Jahre hatte der Komponist begonnen, sich intensiv mit der von Arnold Schönberg entwickelten Zwölftontechnik auseinanderzusetzen. Mit Verspätung, gewiss, aber der Weg über den Atlantik war weit, Partituren und Aufnahmen gelangten ebenso wie das von Salgado favorisierte Notenpapier aus dem Hause Schirmer nur sporadisch aus Europa und den USA nach Ecuador. Mit Zufriedenheit erwähnt Salgado in seinen Schriften häufig seinen 1944 komponierten „Sanjuanito futurista“ – einen Sanjuanito streng nach den Regeln der Zwölftontechnik, aber im Rhythmus des in Ecuador bekannten Tanzes.  Harte Kost nicht nur für das damalige Publikum.  Salgado nutzte die neue Technik in seinen späteren Werken allerdings niemals exklusiv, sondern stets  als eine Inspirationsquelle unter vielen. 

Das ewige Vorbild: Beethoven

Luis Humberto Salgado: Freundlich, aber introvertiert, von der Arbeit besessen. Immer tadellos gekleidet, diszipliniert, perfektionistisch, verständnislos gegenüber weniger begabten Schülern. Detailversessen in seinen Kompositionen, penibel in seiner Notenschrift, unter jeder Komposition das genaue Datum des Beginns und der Fertigstellung. Sein Ideal war Ludwig van Beethoven: Salgado übernahm dessen Formsprache vielleicht konsequenter, als sie Beethoven selbst je beabsichtigt hatte. Gleichzeitig empfand der in Ecuador einsame Komponist wohl eine Art von Seelenverwandtschaft mit seinem Vorbild – auch Beethoven hatte aufgrund seiner Taubheit viele seiner eigenen Werke nur innerlich hören können. Das Manuskript seiner 7. Sinfonie schickte Salgado 1970 mit einer Widmung zum 200. Geburtstag dem Beethovenhaus in Bonn. “Meine Werke können hier nicht gespielt werden, es fehlt an Musikern, Instrumenten und Interesse”, zitieren Zeitgenossen den Komponisten; „nur ein Don Quijote kann so arbeiten.“ 

Nach der Uraufführung von Beethovens spätem B-Dur-Streichquartett im Jahr 1826 schrieb ein Zeitgenosse, „vielleicht kommt noch die Zeit, wo das, was uns beym ersten Blicke trüb und verworren erschien, klar und in wohlgefälligen Formen erkannt wird.“ Anders als sein Idol wartet Luis Humberto Salgado noch immer darauf, in Ecuador und darüber hinaus erkannt zu werden. 

(20. Oktober 2020, aktualisiert 12. April 2021)

Kategorien
Musik

„Diese jungen Leute sind die musikalische Zukunft Ecuadors“

Ein koloniales Haus in Quitos historischer Altstadt. Nach spanischer Tradition gebaut um einen offenen Innenhof, der von überdachten Galerien auf drei Stockwerken umrahmt wird. Die Eingangstür zu der vom samstäglichen Treiben belebten Calle Montúfar steht offen. Alleine, zu zweit, zu dritt kommen die Besucher herein. Mit Maske selbstverständlich. Nehmen auf den mit Abstand auf den Galerien aufgestellten Stühlen und Bänken Platz. Erwarten das Abschlusskonzert der Kurse für fortgeschrittene Schüler und Musikstudenten, die der Schweizer Dirigent Emmanuel Siffert und der ecuadorianische Pianist  Andrés Torres in den vergangenen zwei Wochen, der Pandemie zum Trotz, auf die Beine gestellt haben. So wie in den Jahren zuvor. 

Es ist eine der Merkwürdigkeiten dieser Zeit, dass hierzulande alles, was nicht ausdrücklich verboten (Schule) oder eingeschränkt (Autofahren) wurde, irgendwie doch erlaubt ist. Man darf nur nicht den falschen Leuten die falschen Fragen stellen. Und muss für sich die richtigen Antworten geben. Frische Luft? Ja. Fühle ich mich in dieser Gruppe von Menschen wohl? Ja. Also setzen wir uns auf eine der harten Holzbänke, blicken nach unten und harren der Dinge. Emmanuel Siffert begrüßt die etwa fünfzig Anwesenden und erinnert an die mehr als zehn Jahre, die er gemeinsam mit dem jüngeren Andrés Torres in der Förderung des musikalischen Nachwuchses aktiv ist: „Wir wollen ein Zeichen setzen, dass wir weitermachen, auch und gerade jetzt.“ Siffert,  Jahrgang 1967, war von 2007 – 2009 Chefdirigent des nationalen Sinfonieorchesters Ecuadors. Zur Zeit leitet er in Argentinien das Symphonische Orchester von San Juan.

Lernen kann man immer – was zählt ist die Musik

Unter den heute Auftretenden sind einige bereits Bekannte aus den Kursen des letzten Jahres. Die Bandbreite ist groß: Die erst vierzehnjährige Chinesin Jiedan Ding, vor einem Jahr nach Ecuador gekommen, spielt Mozarts Klavierfantasie d-moll KV 397 und setzt sich dabei erfolgreich gegen das schwachbrüstige Keyboard und telefonierende Zuhörer durch. Die erfahrene Mezzosopranistin Andrea Condor, vor wenigen Monaten noch in Guayaquil als „Carmen“ zu hören, präsentiert mit warmem Ton und Nuancenreichtum die Arie der Dalila „Mon Coeur s’ouvre à ta voix“ von Camille Saint-Säens. Dazwischen Trompete, Posaune, Kontrabass, und die junge Violinstudentin Maria Veintimilla aus der Küstenstadt Esmeraldas, die  beim ersten Satz des Bruch-Konzerts eine beeindruckende Bühnenpräsenz zeigt. Andrés Torres begleitet routiniert und lässt sich weder vom rutschenden und klappernden Keyboardpedal, noch durch hupende Motorräder oder die allmählich einbrechende Dunkelheit aus der Ruhe bringen. 

Seit 2015 besteht das Projekt „Fest & Arts“, in dessen Rahmen Siffert und Torres diese jährlichen „Meisterklassen“ für angehende Profimusiker anbieten. Ziel der beiden Musiker war und ist es, einen Raum der Begegnung für unterschiedliche Künstler und Kunstformen im Herzen Quitos zu schaffen. Die hohen Unterrichtsräume sind mit unzähligen Werken ecuadorianischer Maler geschmückt; ein neben uns sitzender professioneller Puppenspieler, Ehemann einer Musikerin, berichtet begeistert von Theateraufführungen, die er hier in Vor-Corona-Zeiten besucht hat. Es braucht nicht viel Phantasie, um  sich das wohl zu Beginn des 19. Jahrhunderts erbaute Haus mit seinen zahlreichen vom Innenhof abgehenden Räumen, den eleganten Holzsäulen und seinem maroden Charme als Gesamtbühne vorzustellen. 

Strahlend und düster in der Pandemie: Quitos Zentrum

Im Anschluss an das Konzert geht es auf die Dachterrasse, wo neben Glühwein und Häppchen vor allem ein spektakulärer Blick auf die schon jetzt hochzufriedenen Besucher wartet: Vom „Panecillo“, dem brötchenförmigen Hügel mit der überdimensionierten Marienstatue, über sämtliche erleuchteten Kirchen der Altstadt ist fast alles zu sehen, was Quito an Attraktionen zu bieten hat. Das Glitzern und Funkeln in der Nacht tröstet darüber hinweg, dass das als UNESCO-Kulturerbe registrierte Zentrum tagsüber zu einer Stätte der Ödnis geworden ist: Die Pandemie hat zahlreiche der kleinen Geschäfte und Restaurants in den Ruin getrieben, die ausländischen Touristen bleiben seit einem Jahr aus.  

Um so wichtiger ist es in den Augen der Konzertorganisatoren, weiterhin Zeichen zu setzen. „Diese jungen Leute sind die musikalische Zukunft Ecuadors“, sind die Worte, mit denen Andrés Torres den Abend beschließt. Emmanuel Siffert wird in der kommenden Woche im kleinen Loja das dortige Sinfonieorchester dirigieren: auf dem Programm steht unter anderem die dritte Symphonie von Antonín Dvorák. Ein im kolonialen Cuenca vorgesehenes Konzert wurde kurzfristig abgesagt. Aber ausruhen, resignieren – das kommt für Beide nicht in Frage. 

20.02.2021

Kategorien
Musik

Zwischen Pleite und Politik – ecuadorianische Musiker in der Pandemie

„Es ist so gut, wieder richtig Musik zu hören“, kommentiert der Pianist Andrés Torres das Konzert des amerikanischen Bratschisten Brett Deubner in der „Casa de la Música“ von Quito. Es ist ein Donnerstag Abend. 54 meist junge Musikliebhaber verteilen sich in dem 600 Zuhörer fassenden Raum, zwei Drittel der Sitze sind nach Flughafenmanier mit überdimensionalen Aufklebern „Hier bitte nicht Platz nehmen“ gekennzeichnet. Nach geltenden Corona-Regeln dürfen nur 30 Prozent der Plätze belegt werden. 54 mal acht Dollar Eintritt, das ergibt 432 Dollar Abendeinnahmen. „Wir müssen schließlich irgendwie wieder anfangen“, sagt Maria Laura Terán, die Geschäftsführerin des von einer privaten Stiftung unterhaltenen Hauses.

Im März 2020 wurde in Ecuador der Ausnahmezustand verhängt; das Direktorium der Casa de la Música, des wichtigsten Konzertsaals Quitos, entliess darauf zwei Drittel der Mitarbeiter. Nach gut acht Monaten des faktischen Stillstands unternahm man im Dezember einen ersten Versuch, Künstler und Publikum wieder von Angesicht zu Angesicht zusammenzubringen: Das Weihnachtskonzert der „Orquesta Sinfónica Nacional“ am 18. Dezember war ausverkauft. Aber schon am 21. Dezember schickte das nationale Notstandskomitee COE alle Staatsbediensteten wieder zurück in’s Home Office. Auch die Musiker des hauptstädtischen Sinfonieorchesters. Zurück in das seit März bekannte Elend: Üben zu Hause nach Dienstplan, unter genauer schriftlicher Dokumentierung der jeweils gesetzten Arbeitsziele, der dafür investierten Zeit, des konkreten Fortschritts. Aufnahme des Geübten zum Beweis, Einschicken an die Orchesterleitung. Und das bei reduzierter Stundenzahl und geringerem Gehalt, das oft mit Verspätung eintrifft.

Orchester und Musikschulen leiden gleichermaßen

An den Musikschulen des Landes sind die Verdienstmöglichkeiten zurzeit nicht besser: unterrichtet wird online – zu ermäßigtem Tarif bei anstrengenderer Arbeit, versteht sich. Aber immer mehr Eltern können sich auch den billigeren Online-Unterricht nicht leisten: das Verschwinden des Tourismus’, die zeitweise Schließung der Restaurants, und der Zwang zur Kurzarbeit bei den staatlichen Angestellten haben bei der Mittelklasse zu einem massiven Einkommenseinbruch geführt. Für Musik ist da kein Platz mehr, und auch die Musikbegeisterung vieler Kinder ist nach fast einem Jahr Onlineunterricht deutlich geschwunden. „Vor der Pandemie hatte ich an der Musikschule vierzehn Schüler, jetzt sind es gerade noch sechs“, erzählt eine Lehrerin. „Wenn ich nicht zwei feste Stellen hätte, wüsste ich überhaupt nicht, wie es weitergehen sollte“, hört man von einem anderen Kollegen. 

Vier staatlich finanzierte Orchester gibt es in Ecuador: in der Hauptstadt Quito, dem pittoresken Cuenca, der Hafenstadt Guayaquil und in dem kleinen Loja. Alle mussten während der ersten Monate der Pandemie ihre Arbeit vor Ort einstellen. In Cuenca schuf Chefdirigent Michael Meissner, aus Deutschland über Mexico nach Ecuador gekommen, umgehend seinen eigenen digitalen Konzertsaal auf YouTube: Ein Konzert pro Woche stellte er ins Netz – Aufnahmen, die er oder die Musiker noch zu Hause hatten, denn die Proberäume und Büros durften ja nicht betreten werden. Auch das Orchester von Loja ist einmal wöchentlich im Internet präsent. Inzwischen wird dort und in Cuenca wieder live gespielt – allerdings ist der Eintritt zu den Konzerten wie früher kostenlos, und die Überweisungen seitens der Regierung in Quito dürften in diesem zweiten Corona-Jahr eher spärlich ausfallen.

Der Staat lebt von der Hand in den Mund

Denn der ecuadorianische Staat hat kein Geld mehr. Die staatliche Universidad Central in Quito entließ im vergangenen Oktober vorübergehend 700 Dozenten, darunter auch die Angehörigen der gerade im Aufbau befindlichen Musikfakultät. Überweist der Internationale Währungsfonds Ecuador eine Kredittranche, begleicht die Regierung ein paar Rechnungen, zahlt einige Gehälter, und dann ist die Kasse wieder leer. Dementsprechend hat man beispielsweise in Guayaquil bisher nicht einmal zwei Prozent des sonst üblichen Jahresbudgets für das dortige Orchester erhalten – das ist schon zum Sterben zu wenig, geschweige denn zum Leben.

Zu allem Überfluss verkündete unlängst auch der langjährige Chefdirigent der „Sinfónica Nacional“, der in Moskau ausgebildete Álvaro Manzano, in einem Interview mit dem Online Magazin „Mundo Diners“ seinen Rückzug vom Dirigentenpult. Zur großen Überraschung seiner Musiker, die von der Entscheidung über Facebook erfuhren. Der Übergang zu einer neuen Leitung dürfte sich hinziehen, denn bei allem Geldmangel ist die Besetzung des Leitungspostens in Quito auch eine politische Frage. Der für die Ausschreibung verantwortliche Kulturminister und Musiker Julio Bueno, seit dem 21. Januar im Amt, ist nicht nur wegen seiner engen persönlichen Beziehungen zum Staatspräsidenten hoch umstritten  Und auch seine Tage sind gezählt, denn am 7. Februar sind Wahlen in Ecuador. Es wird mit einem Sieg von Andrés Arauz, einem Parteigänger des früheren Präsidenten Correa gerechnet. Desselben Correa, der den staatlichen Orchestern verbot, für ihre Konzerte Eintritt zu nehmen. 

Ja, es ist gut, wieder Musik zu hören. Es fragt sich nur, wie lange es hier noch Musiker und Institutionen geben wird, die sich diese Musik leisten können. 

6. Februar 2021

Kategorien
Musik

Wagnertuben in Cuenca: Wie Bruckner in die Höhe kam

Cuenca, mit rund 400.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Ecuadors. Gelegen auf fast 2.600 Metern Höhe, selbstgewählter Altersruhesitz von 7.000 US-Bürgern, bekannt für seine Panamahüte und die Lederproduktion. Die Alte Kathedrale im von teilweise kolonialen Gebäuden geprägten Stadtzentrum ist gut gefüllt an diesem Sonntagmorgen. Es gibt etwas Neues zu hören, eine Premiere sozusagen. Vier Hornisten aus Deutschland spielen das “Andante“ aus einem Orgelbüchlein von Anton Bruckner, bearbeitet für vier Wagner-Tuben. Richard Wagner wünschte sich in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts für seinen „Ring des Nibelungen“ eine besondere Klangfarbe in den Blechbläsern, der Wagner-Verehrer Bruckner war davon begeistert. Die wie eiförmige Hörner anmutenden Instrumente sind bockig, wollen keine lange Linie oder wirklich saubere Intonation zulassen.

Der Dirigent Michael Meissner – von Regensburg über Mexico nach Cuenca

Wagner-Tuben in den Anden – das wirkt so unwahrscheinlich wie das Klavier auf einem Schwarzweiß-Foto im nahegelegenen Museum Pumapungo. Ich habe auf dem Bild nachgezählt: 20 Männer tragen das Instrument, vermutlich haben sie es von der Hafenstadt Guayaquil über die Berge nach Cuenca transportiert, irgendwann um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert; ein ebenso mit Menschenkraft befördertes Klavier aus Europa ist heute im früheren Wohnhaus des Cuencaner Dichters und Saloniers Remigio Crespo zu besichtigen.

In der Kathedrale beginnt nach dem Aufwärmen der Tuben das eigentliche Konzert. Michael Meissner, in München ausgebildeter Geiger und Dirigent, 1990 nach Mexico ausgewandert, seit drei Jahren Leiter des Sinfonieorchesters von Cuenca, dirigiert Bruckners Siebte Sinfonie. Auch dies ein Novum, ungehört in Ecuador. Das 1972 gegründete Ensemble mit fünfzig festangestellten Musikern spielte über Jahre vor allem populäre einheimische Musik, bis der Verwaltungsrat die Reißleine zog und gegen Widerstand einen Ausländer (Meissner hat immerhin die mexikanische Staatsbürgerschaft) zum Leiter des Orchesters berief. Und jetzt Bruckner, so richtig. Die Celli sind lange getriezt worden und spielen den Beginn des ersten Satzes wie aus einem Guss. Meissner dirigiert auswendig, greift manchmal entschieden ein, man sieht, wer von den Musikern mit ihm atmet. Aber das Stück fließt, und der entrückte Blick des Schlagzeugers beim Einsatz der Becken (angeblich hat Bruckner die Stelle auf Drängen von Arthur Nikisch neu und pompöser instrumentiert) im Andante beeindruckt nicht nur mich.

Alles begann auf den Süddeutschen Horntagen

Die Wagner-Tuben wären nicht in die Höhe gekommen ohne die Süddeutschen Horntage, die seit Langem ambitionierte Laienmusiker aus ganz Deutschland zusammenbringen. Bernd Sensenschmidt, Lehrer im Ruhestand und selbst passionierter Hornspieler, dessen Tochter seit 2008 in Ecuador lebt und hier ein Reisebüro leitet, war bereits vor zwei Jahren mit einer aus den Horntagen hervorgegangenen Blechbläser-Gruppe durch das Land gereist. Während eines Auftritts in Cuenca hatte er Michael Meissner kennengelernt. Der wiederum ist ein Mann der Projekte. In den vergangenen drei Jahren hat er die neun Sinfonien des ecuadorianischen Nationalkomponisten Luis Humberto Salgado (1903 – 1977), die bislang nur als Manuskripte existierten, für den Druck vorbereitet und auf CD aufgenommen; jetzt im Beethoven-Jahr führt er sie parallel zu den neun Sinfonien Beethovens mit seinem Orchester auf. Die Werke Bruckners sind eine andere von ihm gepflegte Großbaustelle.

Sensenschmidt, nach seiner Pensionierung mit Zeit und viel Unternehmungsgeist ausgestattet, fing sofort Feuer und sagte zu, die vier für die Siebte benötigten Wagner-Tuben zu organisieren, samt den dafür notwendigen Musikern. Binnen kurzem hatte er eine Truppe unternehmungslustiger Gleichgesinnter zusammen, dazu als Coach einen früheren Solohornisten des WDR-Funkhausorchesters Köln. Ebenso einen Posaunisten und einen Kontrabassisten, die sich auf eine selbstfinanzierte dreiwöchige Reise durch Ecuador inklusive einer Probenwoche mit unbekanntem Ausgang einließen, unter Mitnahme von Partnern und Freunden.

Für das Jahr 2021 ist Bruckners Neunte geplant

Jetzt, nach zwei gut besuchten Konzerten, große Zufriedenheit – das Land, die Leute, die Atmosphäre, das Gefühl, etwas beigetragen zu haben. Schon wird von einigen der Musiker für April 2021 dieTeilnahme an Bruckners Neunter geplant, ebenso wie die Aufführung des Hornkonzerts von Luis Humberto Salgado. Für den Dirigenten Meissner und seinen Assistenten geht es unmittelbarer weiter: nach dem Konzert ist vor dem Konzert. In sechs Tagen stehen Beethovens zweite Sinfonie, das zweite Klavierkonzert und die zweite Sinfonie von Salgado auf dem Programm. Werbung vor Ort über WhatsApp und Facebook, auch die US-amerikanischen Rentner müssen erreicht werden. Am Sitz des Orchesters in der früheren Jesuitenschule Colegio Borja – bröckelnder Putz, zerbrochene Fenster – hängt ein Plakat, Februar bis Juli 2020. Das erste Februarkonzert fehlt, die Konzerte ab März sind noch nicht drauf. Die Verwaltungsangestellte kam mit dem Haus, Öffentlichkeitsarbeit ist nicht ihr Ausbildungsfach. Meissner zuckt mit den Schultern, man kann nicht alles selbst machen.

Jedes Jahr spielt er mit seinem Orchester und dessen Untergruppierungen im Durchschnitt drei Konzerte pro Woche. Das Publikum bezahlt keinen Eintritt, eine Vorgabe des früheren Staatspräsidenten Correa, die das Leben des Dirigenten nicht leichter macht. Vier professionelle Sinfonieorchester gibt es in Ecuador, und keines kann überleben ohne Geld aus der Hauptstadt. Meissner ist dennoch zufrieden. In Deutschland war er Konzertmeister des Regensburger Philharmonischen Orchesters mit sicherer Stelle. In Mexico arbeitete er erst als Konzertmeister des Philharmonischen Orchesters von Mexico City, dann als freier Musiker mit eigenem Streichquartett, leitete ein Kammerorchester, gründete mehrere Festivals. Hier in Cuenca ist er mittlerweile eine feste Größe, kann Ideen nachgehen, Neues versuchen – und wenn die mit deutschen Mitteln finanzierten chinesischen Wagnertuben schon vor dem ersten Konzert reparaturbedürftig werden, hilft die in dreißig Jahren erworbene Latino-Haltung: Irgendwie wird es schon gehen. Zum Stimmen kann er seine Musiker notfalls auch auf die Straße schicken – die Ampeln von Cuenca singen „Kuckuck“ in A. Es gibt auch verstimmte Exemplare, aber sich darum zu scheren wäre doch irgendwie unnötig.  

27.01.2020

error

Dieser Artikel gefällt Ihnen? Sie können meinen Blog über RSS-Feed abonnieren: