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Ecuador Leben und Gesellschaft

Mitten im Leben sind wir immer vom Tod umgeben

Zum ersten Mal hörte ich das Wort „Triage“ im Gespräch mit französischen Freunden in den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie benutzten es für etwas, das sie von uns Deutschen gelernt hatten: Mülltrennung. Das Bild der Container für unterschiedliche Wertstoffe bekomme ich nicht aus dem Kopf, und es verbindet sich auf merkwürdige Weise mit Eindrücken vom Leben und Sterben hier in Ecuador.

Vor wenigen Tagen starb in dem kleinen Städtchen Tumbaco bei Quito die siebenundzwanzigjährige Venezolanerin Vanessa. Sie starb umringt von Verwandten: Ihrer Mutter, ihrer Tante, ihrer Schwester, ihrer Nichte, zweien ihrer drei kleinen Kinder. Gemeinsam waren sie vor rund einem Jahr aus Venezuela über Kolumbien nach Ecuador gekommen. Der Vater der Kinder lebt noch in Kolumbien. Damals wusste die junge Frau schon, dass sie unter Gebärmutterhalskrebs litt.

Unser Hilfsverein deutschsprachiger Frauen, der „Damas Alemanas“, hörte vor einigen Wochen erstmals von Vanessa. Maria Eugenia, die Eigentümerin der kleinen Pizzeria „Weston“ in Tumbaco, hatte uns von ihr und ihrer Familie erzählt. „Maru“, wie man sie hier nennt, kennt scheinbar alle venezolanischen Flüchtlinge im Städtchen. Sie hatte um konkrete Hilfe gebeten: Hygieneartikel, Bettwäsche, ein wenig Essen. Aber sie hatte auch nicht zum ersten Mal von den Schwierigkeiten berichtet, denen Flüchtlinge hier in Ecuador oft ausgesetzt sind: Kein geregelter Status, keine reguläre Arbeit, kein Zugang zu Krankenversicherung oder staatlichen Hilfsleistungen.

In den letzten Tagen hatten sich die traurigen Nachrichten dann gehäuft: Morphium kann der Krebskranken nur im behandelnden Krankenhaus injiziert werden. Das aber liegt 20 km entfernt, die Kranke ist zu schwach für einen Transport im Taxi. Wenige Tage später: „Vanessa braucht sofort Sauerstoff“. Aber bei der Notrufnummer 911 heißt es lapidar, es gebe keinen Krankenwagen, um sie in die Klinik zu bringen. Endlich doch zu nächtlicher Stunde im Krankenhaus angekommen, ist die Auskunft: „Wir können hier nichts tun, nehmen Sie die Patientin wieder mit nach Hause“. Und schließlich die WhatsApp aus der Pizzeria: „Vanessa ist eben gestorben, kommen Sie bitte sofort, sonst nimmt die Polizei die Leiche mit zur Gerichtsmedizin“.

Die Finanzierung der Bestattung hatten wir mit der pragmatischen Maru Stunden vorher geklärt. Ich greife Tasche und Handy, fahre zur Pizzeria. Maria Eugenia wischt sich die Hände ab, stülpt sich den Motorradhelm über das Kopftuch, und führt mich mit dem Motorrad einige Straßen weiter. Vor dem Tor der Unterkunft, in der die Familie lebt, zwei Polizisten in neongelben Warnwesten – um sicherzustellen, dass bei der ausländischen Verstorbenen alles mit rechten Dingen zugeht. Ich versichere, dass das Bestattungsunternehmen informiert ist und für die Ausstellung des Totenscheins sorgen wird. Zur Sicherheit werden aber doch meine Pass- und Telefonnummer notiert. 

Im Innenhof Weihnachtsdekoration, Wäsche, Müll. Erst vor einem Monat ist die Familie hierhergezogen. Mehrere Türen führen zu einzeln vermieteten Zimmern. In dem ersten haben sich die Verwandten um die abgemagerte Tote versammelt, rund zehn weinende Menschen auf drei Betten, den einzigen Möbeln im fensterlosen Zimmer. Reingehen, draußenbleiben? Es ist in Corona-Zeiten noch schwerer als sonst, das Richtige zur richtigen Zeit zu tun. Mutter und Schwester die Hand und nicht nur das Geld geben? Dem einjährigen jüngsten Sohn der Toten über den Kopf streichen? 

„Jetzt, wo Vanessa nicht mehr da ist, hat die Familie mehr Geld zur Verfügung, kann vielleicht vorankommen“, sagt Maru. Was ist ein Menschenleben wert? Und wer bestimmt diesen Wert? Wer Geld oder die richtige Staatsangehörigkeit hat,  bekommt Morphium, der andere nicht. Wer im richtigen Land geboren ist, hat Zugang zu Wasser, Strom und Bildung, wer in in einem anderen zur Welt kommt, nicht. Das eine Staatsoberhaupt fühlt sich seinen Bürgern verantwortlich, das andere treibt sie in Armut, Krieg und Flucht. Die Trennung in Wertvolle und weniger Wertvolle ist da, jeden Tag, überall auf der Welt. Nicht nur auf der Corona-Intensivstation.

18. Dezember 2020

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Ecuador Leben und Gesellschaft

Ein totaler Mensch – der Sprachforscher Matthias Abram

 Zwei bronzene Löwenköpfe zieren die Tür des rosafarbenen Hauses in der Calle Junín. Der Löwe als Symbol des Evangelisten Markus war selbstgewähltes Programm des studierten Theologen und Philosophen Matthias Abram: Dieses Haus und sein Besitzer gehörten hierher, in das Stadtviertel San Marcos in der historischen Altstadt von Quito. Ein Bild der Zeitschrift Ñan, erschienen nur wenige Wochen nach seinem Tod im März 2019, zeigt Abram in seiner Straße, vor seinem Haus, mit ausgebreiteten Armen, ein Mann in seinem Element.

Matthias Abram, geboren 1943 und aufgewachsen in einer deutschsprachigen Familie in Südtirol, kam im Jahr 1970 erstmals nach Lateinamerika. In Chile beobachtete er mit einer Gruppe deutscher Freiwilliger die Wahlen, begleitete die Kandidaten während ihrer Kampagne bis zum Wahlsieg Salvador Allendes. 1976 wurde er Koordinator des Deutschen Entwicklungsdienstes für die damals etwa 80 deutschen Freiwilligen in Ecuador. „Ich verliebte mich in das Land. Ich bin ja selbst aus den Bergen, und hier waren die Berge einfach unglaublich“, sagte er im Rückblick auf diese Zeit einmal in einem Interview. Es war aber nicht nur die Landschaft – es waren vor allem die indigenen Bewohner und ihre Sprachen, die Abram faszinierten. 

Von Sprachen fasziniert: Wilhelm von Humboldt und Matthias Abram

Das Haus in San Marcos, das Abram wohl 1985 erwarb, wurde in der kolonialen Zeit erbaut, auch wenn es auf den ersten Blick vor allem republikanische Elemente zeigt. Durch den grünen, säulenumstandenen Innenhof gelangt man über eine enge, dunkle Treppe in den ersten Stock. Beim Betreten des fensterlosen Arbeitszimmers von Matthias Abram fühle ich mich merkwürdigerweise an das viel luftigere, größere Studierzimmer Wilhelm von Humboldts in Schloss Tegel in Berlin erinnert. Vielleicht sind es die Schreibtische, die an beiden Orten so wirken, als sei ihr von der Sprachwissenschaft faszinierter Besitzer mitten in einem Gedanken aufgestanden und komme gleich zurück. 

Als Abram dieses koloniale Haus von dem Journalisten Benjamin Ortiz Brennan kaufte, lebte kein Ecuadorianer, der etwas auf sich hielt, im Zentrum von Quito. Die Gegend war heruntergekommen, galt als gefährlich, als Wohnort des Volkes und der Prostituierten, nicht der guten Gesellschaft. Matthias Abram suchte genau das – ein altes Haus mit Ausstrahlung und Geschichte, mitten im Leben. Zu dieser Zeit begann er für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) an einem Projekt für den bilingualen Schulunterricht indigener Kinder zu arbeiten, das zu seinen besten Zeiten 120.000 Kinder in rund 100 Schulen erreichen sollte. Abram selbst sprach fließend Kichwa; in Guatemala, wo er in den Neunziger Jahren arbeitete, lernte er später Maya und weitere indigene Sprachen. Er bildete Lehrer aus, besuchte Schulen, schrieb Lehrbücher. Und vor allem sammelte er: Sprachen, Bücher, Landkarten, Kunst.

Berichte von Reisenden in und nach Lateinamerika

In der Bibliothek seines Hauses ist eine ganze Wand der Sprachwissenschaft und den Sprachen Lateinamerikas gewidmet. Und vor allem gibt es Reiseberichte: Originalausgaben der Beschreibungen, die europäische Reisende seit dem 16. Jahrhundert über ihre Erfahrungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent verfasst haben. Das Buch „In den Hoch-Anden von Ecuador“ des deutschen Geografen Hans Meyer (1907) liegt dort, die „Reise nach Amazonien“ von Gaetano Osculati, einem italienischen Abenteurer des 19. Jahrhunderts, und Joseph Kolbergs „Nach Ecuador – Reisebilder“ in einer Ausgabe von 1900. Welches Projekt Abram im Sinn hatte, als er diese Bücher auf seinem Schreibtisch unter dem Bild des Lateinamerika-Befreiers Simón Bolívar versammelte, ist bisher nicht bekannt.

Matthias Abram in seiner Bibliothek (© El Comercio)

Nach einigen Jahren in Guatemala, in denen er sich für die GIZ ebenfalls der Verankerung zweisprachiger Bildung im dortigen Schulsystem widmete, kehrte Matthias Abram in sein Haus nach Quito zurück. Er begann, die Zeitschrift „Pueblos indígenas y educación“ (Indigene Völker und Schulbildung) herauszugeben – eine wissenschaftliche Publikation, an der vornehmlich Forscher aus Deutschland und Lateinamerika mitwirkten, und die bis zur Nummer 66 im Jahr seines Todes alle sechs Monate erschien. Ein unwirklich scheinendes Projekt in diesem Land, in dem wissenschaftliche Literatur keinen kommerziellen Markt besitzt und im wesentlichen unter Freunden verteilt wird. Er kuratierte gemeinsam mit dem Kunstsammler Iván Cruz die ständige Ausstellung präkolumbianischer Kunst in der 2010 neueröffneten Casa del Alabado in Quito, er nahm an unzähligen Konferenzen als Vortragender teil, er veröffentlichte Schriften zu Forschungsreisenden früherer Jahrhunderte. Und er suchte und fand die Karten, die diese Reisenden zur Verfügung hatten oder selbst erstellten.

Die größte Kartensammlung Ecuadors

Der Kartenraum im Wohnhaus von Quito ist beeindruckend. Hier befindet sich, darin sind sich ecuadorianische Wissenschaftler einig,  die größte und wichtigste Kartensammlung Ecuadors. Karten überall an den Wänden und auf den Tischen, Darstellungen Lateinamerikas aus dem 16. bis 20. Jahrhundert. Aus einem nachlässig auf dem Boden platzierten Bilderrahmen schaut Alexander von Humboldt den staunenden Besuchern zu, und wie schon im Arbeitszimmer werde ich auch hier das Gefühl nicht los, als habe der Hausherr in seiner Arbeit am Kartentisch nur kurz innegehalten und wolle gleich wieder zurückkehren.

„Matthias hat sich das Viertel von San Marcos zu Eigen gemacht“, heißt es in dem schon erwähnten Artikel der Zeitschrift Ñan. Abrams unermüdlicher Einsatz für die Belange seines Stadtviertels machte ihn für die Nachbarn unwidersprochen zu „einem von uns“.Viele Weggefährten gehen weiter: Dem Reisenden zwischen zwei Welten – zuletzt lebte Matthias Abram jeweils ein halbes Jahr in Bozen, ein halbes Jahr in Ecuador – sei es gelungen, ein Teil dessen zu werden, was Quito ausmacht. Der Anwalt der Indigenen und ihrer Sprachen hatte keine Berührungsängste gegenüber der sogenannten „guten Gesellschaft“; der Liebhaber einheimischer Musikkneipen konnte sich auch über die Zerstörung einer historischen Orgel als Folge der Bodenerschütterung durch den zunehmenden Straßenverkehr in Quito öffentlich aufregen. Sein offenes Umgehen mit der eigenen Homosexualität beförderte die bis dato sehr zögerliche Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Beziehungen in Ecuador.

Was wird aus dem Haus und den Sammlungen?

Die Zukunft des Hauses „im Schatten des Magnolienbaumes“, so der Titel eines in eben diesem Hause spielenden Romans von Benjamin Ortiz Brennan, ist bisher unklar. Sicher ist, dass es zuerst einer Katalogisierung des umfangreichen Bestands an Büchern, Karten, Bildern und Kunstgegenständen bedarf. Ein „totaler, ein der Gemeinschaft zugewandter, solidarischer Mensch“ sei Matthias Abraham gewesen, hieß es in einem Nachruf. Es wäre San Marcos, Quito und Ecuador zu wünschen, dass das Erbe dieses totalen und unendlich wissensdurstigen Forschers so bald wie möglich auch anderen Menschen zugänglich gemacht werden kann.

23. November 2020

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Ecuador Leben und Gesellschaft

Kartoffeln, dicke Bohnen und Lupinen – Überleben in den Bergdörfern Ecuadors

An der Wand des einfachen Hauses aus Lehmziegeln mit dem gestampften Boden hängen an Haken die Kleider eines alten Mannes. Im Halbdunkel erahnt man das ordentlich gemachte Bett. „Hier wohnt mein Großvater; ich lebe dort hinten in dem Haus“, sagt die junge Frau, die uns den Hügel hinaufgeführt hat, und zeigt auf ein einfaches Betonhäuschen, vor längerer Zeit einmal bunt angestrichen. Monteserín Alto heißt das Dorf, in dem wir uns befinden, mit dem Auto eine gute Dreiviertelstunde entfernt von Ascázubi, dem nächsten größeren Ort; rund anderthalb Stunden von Ecuadors Hauptstadt Quito. Eine sogenannte „Comunidad“, eine Siedlung mit vierundzwanzig Familien und 70 Personen, davon ein Drittel Kinder. 

Am 17. März dieses Jahres wurde zur Bekämpfung der Corona-Pandemie in Ecuador der Ausnahmezustand verhängt; von einem Tag auf dem anderen brach der informelle Arbeitsmarkt, in dem gut die Hälfte aller Ecuadorianer ihr Geld verdient, zusammen. Wie viele Arbeitnehmer mit einer regulären Stelle seitdem ihre Anstellung verloren haben, ist den offiziellen Statistiken nicht glaubwürdig zu entnehmen; bekannt ist, dass schon Anfang August dieses Jahres ein Zehntel der 16 Millionen Ecuadorianer zum Überleben auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen waren,  und dass die Zahl der Armen laut Angaben der Vereinten Nationen im vergangenen Jahr von 4,2 auf 6,3 Millionen gestiegen ist. 

Ein großes Problem – Autofahren und Transport in Corona-Zeiten

Seit dem Mai, als die Not im Lande immer größer wurde,  haben wir mit einigen Mitgliedern der „Damas Alemanas“, eines Zusammenschlusses deutschsprachiger Frauen in Quito, regelmäßig Nahrungsmittelpakete für Hungernde gepackt. Aber wie die notleidenden Familien erreichen, wenn, wie viele Monate lang der Fall, strenge Ausgangssperre herrscht und Autofahren eigentlich nur an einem Vormittag in der Woche erlaubt ist? Allein die großen kirchlichen Organisationen, Klostergemeinschaften und Pfarrgemeinden verfügten aus Zeiten vor der Pandemie über enge Kontakte in ihre Sprengel hinein, wussten genau, welche Familien besondere Hilfe benötigten, und waren bereit, auch in schlimmsten Corona-Zeiten zu Fuß oder notfalls mit dem Maulesel 18 Kilogramm schwere Kisten mit Nahrung persönlich bei den Bedürftigen abzugeben. Und notfalls konnten sie auch eine Fahrerlaubnis organisieren.

So ergab sich in den vergangenen Monaten eine regelmäßige Zusammenarbeit der „Deutschen Damen“ unter anderem mit der Ordensgemeinschaft der Franziskaner. Pater Abelardo und Bruder Oscar leben und arbeiten gemeinsam mit einem dritten Bruder in Ascázubi. Sie haben die dreißig am Vortag von vier „Damen“ mit Obst, Gemüse, Käse, Nudeln und Reis, Seife und Alkohol bestückten Kisten mit grüner Wäscheleine auf ihrem Pick-Up befestigt und sind uns über die immer steiniger und schmaler werdende Straße voran gefahren. Hinein in die karge Páramo-Landschaft auf 3.500 Meter Höhe. Jetzt stehen wir inmitten einer Gruppe erwartungsvoller Dorfbewohner, Schals um den Mund geschlungen, Gummistiefel an den Füßen, kleine Kinder im Tuch auf den Rücken gebunden. José, der Vizepräsident der Dorfgemeinschaft, gibt Anweisungen, und wir machen uns als Karawane auf den Weg von Haus zu Haus.

 Fließendes Wasser gibt es nicht in Monteserín Alto. Vor der Tür eines Hauses trocknen die aus der feuchten Erde geernteten Kartoffeln direkt auf dem Boden, um die Erdkruste abzuwerfen; danach kommen sie in die weißen Säcke, die an allen Hauswänden im Dorf stehen. Gekocht wird auf Holzfeuern in großen, schweren Töpfen; die unzähligen Meerschweinchen teilen Küche und Wohnraum mit den menschlichen Bewohnern, bevor sie selbst in den Kochtopf wandern. Außer Kartoffeln werden dicke Bohnen angebaut, und Chocho, eine andine Lupinenart, die in einer anderen ecuadorianischen Welt, die den Menschen hier so fern sein dürfte wie Disneyland, zur Herstellung von Fleischersatzprodukten für Vegetarier genutzt wird. 

10 Dollar für 50 Kilo Kartoffeln

Monteserín Alto lebt von der Hand in den Mund. Zehn US-Dollar erhalten die Bauern vom Zwischenhändler für 50 Kilo Kartoffeln oder Bohnen. Ab und zu wird ein Lamm geschlachtet, vielleicht auch einmal ein Huhn. Die Hühner legten in der Höhe und ohne richtiges Futter kaum Eier, sagen die Franziskanerbrüder. Die Folgen der einseitigen Ernährung sind geringes Wachstum und verlangsamte Entwicklung. Längst nicht alle Kinder im Dorf sind so wach und fröhlich wie das achtjährige Mädchen, das mir mit entschiedener  Stimme alle ihre Vor- und Nachnamen nennt, als sei sie gerade in der Schule aufgerufen worden. Die Zweijährige auf dem Arm ihrer Mutter spricht noch kein Wort und versteht nicht die Namen der Lebensmittel; der vierjährige Junge, der sich hinter den Kartons versteckt, wirkt, als sei er eigentlich zwei Jahre jünger. 

 Drei Wochen reiche ihrer Familie unsere Lebensmittelspende, sagt die alte Frau, die uns durch das ganze Dorf begleitet  hat, ihre Kiste schließlich mit Hilfe der Nachbarn in ein Tragetuch lädt und langsam nach Hause läuft. Auch in den nächsten Wochen wird es bei ihr Bohnen und Kartoffeln geben – aber vielleicht nur an jedem zweiten Tag. „Und zu Weihnachten braten wir ein Lamm – dann müsst Ihr wiederkommen!“.

Hilfe für Monteserín Alto und andere Notleidende in Ecuador:

Damas Alemanas Ecuador Deutschland e.V. , VR-Bank Dinkelsbühl , Stichwort „Coronahilfe“

BIC: GENODEF1DKV

IBAN: DE18 7659 1000 0008 9163 73 

31. Oktober 2020

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Leben und Gesellschaft

Das Leben umarmen – das Haus der Künstlerin Trude Sojka in Quito

„Sojka“ ist das tschechische Wort für Eichelhäher.  Trude Sojka liebte Vögel. Überall in ihrem Haus im Stadtteil La Floresta sind sie zu finden. Als in sich gekehrte, trauernde Skulptur aus Zement, Sojkas bevorzugtem Material; als Phoenix, der seinen Schnabel entschlossen gen Himmel reckt; als fröhlich davon fliegende Flatterwesen auf einem ihrer späten Bilder. 

Berlin, Prag, Auschwitz, Ecuador

Gertrud Herta Sojkova wurde im Jahr 1909 als Kind tschechisch-jüdischer Eltern in Berlin geboren. Sie studierte in den dreißiger Jahren an der Berliner Akademie der Bildenden Künste und zog 1938 nach ihrer Heirat mit Dezider Schwartz, einem tschechischen Staatsangestellten, nach Prag. Zu spät erkannten sie die Gefahr, die ihnen nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten dort drohte; beide wurden eventuell schon 1942, belegt aber 1944 in ein polnisches Zwangsarbeiterlager und anschließend in das Konzentrationslager Auschwitz verbracht. Dort verliert sich die Spur von Dezider Schwartz. Trude Sojka, die zu diesem Zeitpunkt schwanger war, wurde mehrfach in andere Lager verlegt, zuletzt nach Kleinschönau im Südwesten Polens, wo sie wenige Tage vor Kriegsende eine Tochter zur Welt brachte, die nur wenige Wochen lebte. 

Von den nahen Verwandten Sojkas überlebte den Krieg allein der ältere Bruder Walter, den die Universidad Central von Quito 1938 eingeladen hatte, dort Vorlesungen in Chemie zu halten, und der angesichts der sich zuspitzenden Lage in Europa in Ecuador geblieben war. Über den Suchdienst des Roten Kreuzes schrieb Walter im Februar 1944 an die Verwandten, die er am Leben hoffte, „Geht uns recht gut – eigene Fabrik – mitteilet sofort wann möglich, Euch Visum & Pasagen zu schicken“. Wie durch ein Wunder erhielt Trude Sojka nach Kriegsende diese Nachricht tatsächlich und erreichte 1946 die Hafenstadt Guayaquil, wo ihr Bruder sie gemeinsam mit einem Freund erwartete. 1948 heiratete sie diesen Freund, Hans Steinitz, der ebenfalls vor den Nationalsozialisten geflohen war; gemeinsam bauten sie ihr Haus in Quito. Für alle Fälle noch mit einer geheimen Kammer nahe dem Hauseingang, einem sicheren Versteck, falls dies erneut notwendig werden sollte.

Kunst als Therapie

Während Hans Steinitz als Geschäftsmann und Vertreter ausländischer Firmen in Ecuador sein Geld verdiente, begann Trude Sojka nach und nach wieder als Künstlerin zu arbeiten. Als Material wählte sie die ungewöhnliche Kombination aus schnelltrocknendem Zement, den sie auf einen hölzernen oder metallenen Untergrund auftrug, und Akrylfarbe. Gerne integrierte sie Bestandteile von Alltagsgegenständen in ihre Werke – Mülltonnendeckel wurden zur Basis für Gemälde, die Glashenkel von Bierhumpen zu den Rippen eines stilisierten Elefanten. Wie farbige Landschaftsreliefs wirken ihre Bilder; unverkennbar dabei der Einfluss des europäischen Expressionismus’, der ihr aus ihrer Studienzeit präsent war, und den sie mit indigenen Motiven aus ihrer neuen Heimat verband. 

Wie in einem Spiegel erkennt man an den Bildern in der „Casa Cultural Trude Sojka“, wie aus einer traumatisierten Holocaust-Überlebenden (Sojka sprach auch mit ihrer Familie niemals über das in den Kriegsjahren Erlebte) über die Jahrzehnte eine frohe, in sich ruhende Frau wurde. Von der Darstellung eines Todesmarsches über den schon erwähnten Phoenix und die von Chagall und Matisse inspirierten Tänzerfiguren zu der „Blauen Frau“, die die Welt und das Leben umarmt führt uns Anita Steinitz, die jüngste Tochter der Künstlerin, die das Museum heute leitet.

Erinnerung an einen „Gerechten unter den Völkern“

In der als Gedenkraum gestalteten Bibliothek von Hans Steinitz erinnert eine Tafel an José Ignacio Burbano, der als ecuadorianischer Konsul in Bremen dem späteren Mann von Trude Sojka 1938 ein Visum für Ecuador verschaffte und ihm damit die Flucht aus dem KZ Sachsenhausen ermöglichte. Berichtet wird auch über den in Yad Vashem als „Gerechten unter den Völkern“ anerkannten Konsul Ecuadors in Stockholm Manuel Antonio Borrero, der seinerseits mehreren Hundert Juden durch die Ausstellung von Visa zur Flucht verholfen haben soll. 

„Meine Mutter gehörte zu der Generation, die nicht über das Erlebte sprechen wollte. Meine eigene Generation stellte unaufhörlich Fragen, bekam aber keine Antworten. Und die Generation meiner Tochter Gabriela sucht ihre Antworten selbst“, fasst Anita Steinitz zusammen. Gabriela Steinitz, selbst Künstlerin, führt das Erbe ihrer Großmutter weiter, forscht nach der Vergangenheit und findet im Rahmen ihrer Kunst Möglichkeiten, Fragen und mögliche Antworten in die Gegenwart zu tragen.

Ihr Leben sei voll von Wundern gewesen, pflegte Trude Sojka zu sagen. Die Wunder können besichtigt werden:

Casa Cultural Trude Sojka, Pasaje Moeller, Quito (Stadteil La Floresta), Tel. /WhatsApp 00593 998 735 72 oder 00593 2 222 4072 (zur Zeit nur nach persönlicher Anmeldung).

28.10.2020

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Ecuador Leben und Gesellschaft

Lernen, soweit das Internet reicht – sieben Monate ohne Schule

Der Bildschirm des Handys, das mir René reicht, ist vielfach gebrochen. „Dies hier sind meine Kinder, der Junge ist sechs Jahre alt, das Mädchen fünfzehn!“. Schemenhaft erkenne ich Evelin und Cristopher, die am Esstisch der Familie ihre Schulaufgaben erledigen. Beide in Schuluniform, wie ihre Schule es verlangt, vor sich Schreibpapier und Bleistift. Wenn Vater und Mutter mit ihren Mobiltelefonen zu Hause sind, können die Kinder am virtuellen Unterricht teilnehmen – eine Stunde täglich für den Sechsjährigen, zwei bis drei Schulstunden für die Fünfzehnjährige. Zusätzlich erhalten die beiden Aufgaben über WhatsApp. Sie schreiben, fotografieren, schicken das Fotografierte der Lehrerin zurück, ebenso wie ihre jeweils rund 40 Klassenkameraden an einer staatlichen Schule im Süden Quitos, der Hauptstadt Ecuadors.

Der Weg zum digitalen Unterricht
Der Weg zur Schule – Renés Handy

Seit dem 13. März dieses Jahres sind alle Schulen in Ecuador geschlossen. Das neue Schuljahr begann im September so, wie das alte im Juni geendet hatte: Digital. „Wir lernen gemeinsam zu Hause“ – so lautet die Vorgabe des Schulministeriums, und die Zeitung „El Comercio“ veröffentlicht auf ihrer Titelseite Bilder von zufriedenen hellhäutigen Kindern, die vor dem Bildschirm Schulsport betreiben. Die Realität, vor allem in den ländlichen Regionen, sieht anders aus: Nur etwas über die Hälfte der ecuadorianischen Haushalte verfügt über einen Computer; weniger als 50% der Familien haben zu Hause einen Internetzugang, auf dem Land sind es kaum mehr als 20% der Lehrer und Schüler. Einem aktuellen Bericht des Fernsehsenders Teleamazonas zufolge haben 43% der Kinder in den ländlichen Gebieten seit sieben Monaten de facto keinen Schulunterricht. 

Während sich die Wohlhabenden Ecuadors, deren Kinder auf gut ausgestattete Privatschulen gehen, in ihrer virtuellen Welt eingerichtet haben, ist in weiten Regionen des Landes in den vergangenen Monaten ein paralleles Schuluniversum entstanden, das sich gefühlt täglich weiter ausdehnt. 

Auf dem Land herrscht eine andere Realität

„Die Kinder meiner Verwandten auf dem Land gehen vormittags in den nächsten Ort, da haben sie Internet und Unterricht; nachmittags helfen sie dann in der Landwirtschaft“, erzählt der Vater von Evelin und Cristopher, der als Wächter für eine private Sicherheitsfirma arbeitet. „Ich weiß von Nonnen, die betreiben eine Art informeller Schule“, berichtet der Leiter eines Sozialzentrums in Portoviejo an der Küste. Engagierte Lehrer  in ländlichen Gemeinden gehen von Haus zu Haus, um ihre Schüler zu betreuen;  man hört von einer Polizeistation, die zum Lernzentrum wird, und aus Monte Sinai, einem Armenviertel im Norden Guayaquils, gibt es fast täglich neue Bilder und Berichte über Zwergschulen in privaten Höfen und Wohnzimmern. Fünf Dollar monatlich bezahlt man dem Nachbarn, um ab und zu sein Internet nutzen zu können – schon das ist zu viel für die meisten Familien. Inzwischen sprechen manche Beobachter offen von einer Bildungskatastrophe, die eine ganze Generation akademisch und wirtschaftlich um ihre Zukunft bringen wird.

Gleichzeitig sorgt eine Mischung aus Panik und Phlegma dafür, dass in der Bevölkerung gemischte Gefühle vorherrschen bei dem Gedanken an eine Rückkehr in die Schule: „Mein kleiner Bruder hatte einmal eine Lungenentzündung, wir befürchten, dass er sich in der Schule mit Corona anstecken könnte“, sagt Evelin. „Wir würden die Schulen ja öffnen, aber niemand möchte das – die Kinder haben sich an die Situation gewöhnt, die Lehrer sind zurückhaltend, und die Eltern haben Angst“ heißt es von Behördenseite in der ländlich geprägten Provinz Santo Domingo. 

„In meiner Stadt wird es bis zum Ende des Jahres keinen Präsenzunterricht mehr geben“, kündigte Cynthia Viteri, die Bürgermeisterin der Hafenstadt Guayaquil, der zweitgrößten Stadt des Landes im August an – und ließ im September sieben Schulen schließen, die ihre Schüler zu Prüfungen persönlich einbestellt hatten. Es wirkt wie Ironie, dass nun dieselbe Bürgermeisterin 300 Lehrer zur Betreuung der informellen Schulen in Monte Sinai anstellen möchte – ohne damit offiziell zur Präsenzschule zurückzukehren, versteht sich.

7. Oktober 2020

aktuell zum Thema: „Fernab des Fernunterrichts“, FAZ.net vom 21.01.2021

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Ecuador Leben und Gesellschaft

Den Blick nach vorne – als Venezolanerin in Ecuador

„Die neue Pizzeria? Mit den venezolanischen Eigentümern? Weiter unten an der Straße, gegenüber der Bäckerei!“ María Eugenia Socas, die mit ihrem Mann und Sohn das winzige Pizzarestaurant „Weston“ führt, ist einen Monat nach der Eröffnung bereits in der Straße bekannt. Keine wirkliche Überraschung, denn Maru, wie alle sie hier nennen, ist eine Persönlichkeit, an die sich jeder erinnert. Als ich das Lokal betrete, braucht sie wenige Sekunden, um sich den Teig von den Händen zu streichen, ihren Sohn mit der Betreuung wartender Gäste zu betrauen und mich mit strahlenden Augen über der Maske zu begrüßen. Schon sitzen wir auf den abgewetzten Stühlen und tauschen Neuigkeiten aus.

Heute gekündigt, morgen am neuen Ort

Warum sie ihre alte Pizzeria und Wohnung gegenüber dem Hauptplatz des Städtchens Tumbaco aufgeben musste? Sie konnte als Folge des Lockdowns die Miete für das Restaurant nicht mehr bezahlen, und gleichzeitig kündigte ihr die Eigentümerin der von der Familie gemieteten Wohnung wegen Eigenbedarfs, „und da ist bis heute niemand eingezogen, wie kann man so blöd sein – jemandem kündigen, der regelmäßig Miete bezahlt? In diesen Zeiten? Aber so geht es jetzt vielen Venezolanern.“ 

Maria Eugenia, die in Venezuela als Eventmanagerin arbeitete, ist mit ihrem Mann, der dort eine Autowerkstatt besaß, und dem erwachsenen Sohn in der Karwoche 2017 in die Hauptstadt Ecuadors gekommen. Zu Zeiten, in denen man als venezolanischer Flüchtling hier zwar nicht gerne gesehen war, aber doch noch gewisse Möglichkeiten hatte, sich ein neues Leben aufzubauen. Binnen drei Jahren hatte sich ihre Pizzeria in Tumbaco bei Quito zu einer Institution entwickelt – auch wegen der Pizza, aber vor allem wegen des unermüdlichen Einsatzes ihrer Eigentümer für die Belange aller Venezolaner im Städtchen. Probleme bei der Regelung des Aufenthaltsstatus’? Unter den WhatApp-Kontakten von Maria Eugenia findet sich jemand, der mit Behördengängen und Formularen hilft, notfalls auch in Nachtschichten. Einem Flüchtling ist sein Motorrad gestohlen worden, und die Polizei glaubt ihm nicht? Maru begleitet ihn zur Polizei. Ein Luxusrestaurant im Nachbarort beschäftigt Venezolaner ohne Vertrag, Arbeitszeitbegrenzung und weit unterhalb des Mindestlohns? Gleich wird eine Facebook-Kampagne gestartet und notfalls ein Lokalpolitiker eingeschaltet. 

Venezolanische Flüchtlinge sind besonders hart vom Lockdown betroffen

Die Zeiten der Ausgangssperre in Ecuador von März bis August dieses Jahres haben die rund 500.000 Flüchtlinge aus Venezuela besonders hart getroffen. Viele von denen, die Arbeit hatten, waren im informellen Sektor beschäftigt. Aber Eis verkaufen an der Straße, Autos waschen, Taxidienste verrichten, das alles ging über Monate nicht. Ohne Registrierung als Flüchtling und ohne Geld sind Arztbesuche nicht möglich; und wo sich zwei Dutzend Familien einen einzigen Kochherd teilen, ist es mit den Hygienemaßnahmen nicht weit her. Auch jetzt nach dem Ende der Ausgangssperre, wo sich die Wirtschaftskrise mit aller Macht zeigt, sieht es nur wenig besser aus. Deshalb läuft seit Monaten auch Nahrungsmittelhilfe für Bedürftige über die Pizzeria Weston – wer Maru unterstützen will, spendet ihr Geld, das sie dann über ihre Bekannten in preiswertes Obst und Gemüse vom Großmarkt umsetzt, in Tüten verpackt und gegen Unterschrift und Foto an diejenigen verteilt, bei denen die Not gerade besonders groß ist. „Aber wer mir ein Selfie schickt, auf dem er gerade mit seinem Kumpel Bier trinkt, muss gar nicht erst kommen – wenn er Geld für ein Bier hat, braucht er kein Essen!“

Nicht rückwärts blicken, weitermachen, ist die Devise von Maria Eugenia. „Uns geht es prima“, lacht sie, während sie die Hände in die Hüften stemmt. Drei Tage hatte sie im August Zeit, um ihr altes Lokal zu räumen, nachdem sie die dortige Vermieterin zuvor vergeblich um eine Senkung der Miete gebeten hatte. Seit Juli dürfen Lokale in Quito wieder Essen servieren, aber nur 30% ihrer Plätze besetzen. Fast unmöglich, damit genug zum Überleben zu  erwirtschaften. „Heute haben wir hier die erste Miete bezahlt. 400 Dollar statt 800 am alten Ort. Und schau, der Raum ist besser als vorher, mehr Fenster, die überdachte luftige Terrasse, mehr Laufkundschaft“. Zurzeit wohnt die dreiköpfige Familie in einem einzigen Zimmer hinter dem Restaurant. Aber die ersten Kunden stehen oft schon um sechs Uhr morgens vor der Tür, „und wenn alles gutgeht bis Dezember, suchen wir uns etwas Größeres zum Wohnen!“ 

18. September 2020

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„Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner“ oder die Internalisierung des Ausnahmezustandes

1-3-2-1-6-1-4-9. Ich notiere die letzten Ziffern der Autokennzeichen auf der Straße nach Mindo. Früher ein Spiel zur Verkürzung öder Autofahrten. In Zeiten von Corona laut dem Bürgermeister von Quito Jorge Yunda ein Zeichen bürgerlichen Mitdenkens. Am heutigen Sonntag, dem letzten Tag des von der ecuatorianischen Regierung vor sechs Monaten verhängten Ausnahmezustands, dürfen eigentlich nur Autos unterwegs sein, deren Kennzeichen auf einer geraden Ziffer endet. Ab morgen verabschiedet sich die Zentralregierung aus der Verantwortung für die meisten Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung und überlässt diese den Städten. Oder in den markigen Worten Yundas, verbreitet über halbseitige Zeitungsanzeigen, „Ab heute hängt dein Leben und das deiner Lieben von deiner eigenen Disziplin ab!“.

Nach sechseinhalb Monaten schwindet die Disziplin

Unsere Fahrt von der Hauptstadt Quito in das eintausend Meter tiefer gelegene Mindo mit seinen Nebelwäldern und Vogelparadiesen bietet eine gute Gelegenheit, den disziplinarischen Zustand der Bevölkerung zu begutachten. Die venzolanischen Eisverkäufer sind in großer Zahl an den Straßenrand zurückgekehrt, ebenso wie zahlreiche Bettler und die informellen Händler. Es ist Orangensaison, 12 Kilogramm für 5 Dollar, sobald man die wohlhabenderen Bezirke Quitos hinter sich gelassen hat. Der mit Pfosten abgetrennte Fahrradweg entlang der sechsspurigen Avenida Simón Bolivar war in meiner Erinnerung noch nie so belebt – zahlreiche Fahrradfahrer in Sportkleidung, Spaziergänger mit Hunden, ganze Familien nutzen mangels Alternativen diese Möglichkeit, ein wenig Bewegung zu bekommen in einer Zeit, in der Schulen, Sportplätze, Schwimmbäder, Fitnessstudios und zahlreiche städtische Parks weiterhin geschlossen sind. Notfalls zählt auch Telefonieren mitten auf der Fahrbahn als Unternehmung an der frischen Luft. 

In der Unterkunft im Nebelwald herrschen strenge Vorschriften – die mobile Desinfektionseinheit mit Seife, Wasser und Desinfektionsgel sowie das omnipräsente alkoholische Schuhbad zur Beruhigung neurotischer Stadtbewohner begrüßen uns am Eingang, und unsere Wanderführer legen auch bei Nacht oder Hitze die Maske nicht ab. Der Kanister zum Abspritzen der Autoreifen dagegen steht mittlerweile ungenutzt im Gebüsch neben der Einfahrt, und dass Schuhe überall draußen bleiben müssen ist wohl eher dem schlammigen Urwaldboden als Corona geschuldet. 

Warten auf den 1. Oktober

Alle warten darauf, dass ab Montag das Leben anders wird. Auch der amerikanische Tischnachbar und Vogelliebhaber, der morgen mit Baumaßnahmen auf seinem nahegelegenen Grundstück beginnen will und dafür extra aus New York angereist ist. Wer nicht warten will, nimmt die neue Lebenswirklichkeit vorweg. In dem Dörfchen Nanegalito herrscht lebhaftes Treiben in den winzigen Geschäften und einfachen Restaurants. „Bei uns gab es keinen einzigen Corona-Fall“, erzählt uns Fabian Luna, Eigentümer des kleinen Alambi Cloud Forest – Reservats, der selbst in dem Ort wohnt. Vor den Gaststätten entlang der Landstraße stehen zahlreiche Autos; selbst auf den sandigen Parkplätzen schlichterer Etablissements, die oft gute Hühnersuppe und eher zähes Grillfleisch anbieten, herrscht Gedränge. 

„Halte mindestens zwei Meter Abstand – nur so überlebst Du“, verkündet Yunda von der Plakatwand. Er hat bereits vermeldet, was ab Montag in Quito und Umgebung gilt, nämlich de facto weiterhin der Ausnahmezustand, streng überwacht durch Polizei und Militär. Alle Ausnahmegenehmigungen für Autofahrten unabhängig vom Kennzeichen müssen neu beantragt werden; Restaurants dürfen unabhängig von ihrer Größe nur 50% ihrer Plätze besetzen, jeder Verstoß gegen die Maskenpflicht, auch zum Rauchen, Telefonieren oder Joggen, wird mit 100 US-Dollar sanktioniert.  

Alle Schulgebäude sind auf Entscheidung der Zentralregierung weiterhin geschlossen, ebenso wie die Universitäten; aller Unterricht im Land soll weiter virtuell erfolgen. Interessierte Institutionen beim können Nationalen Komitee für die Organisation der Notfallmaßnahmen (COE) einen Antrag auf Zulassung als „Pilotschule“ für semipräsentiellen Unterricht einreichen. Aber die letzte Entscheidung hängt von den zuständigen Stadtoberhäuptern ab – in der größten Stadt Guayaquil ließ die Bürgermeisterin unlängst eine Schule, die Pilotunterricht plante, mit städtischen Lastwagen blockieren. Mehrfach haben wir schon von informellen Schulen gehört, die sich in den ländlichen und ärmeren Regionen bilden. Wo bestenfalls ein Handy im Haushalt vorhanden ist, oder es gar kein Internet gibt, suchen sich die Menschen Möglichkeiten, die näher an ihrer Lebenswirklichkeit liegen.

77415704. Die Welt als Wille und Vorstellung. „Ich kann nicht hinter jeden Menschen einen Polizisten stellen“, sagt Yunda dazu.

13. September 2020

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Ecuador Leben und Gesellschaft

Wo früher die Touristen flanierten – Quito in der Pandemie

„Sehr lau“ sei das Geschäft, murmelt der junge Kellner durch seine Maske, während er unser Essen serviert. Wir haben uns neben dem 1933 noch im Jugendstil erbauten Teatro Bolivar im Zentrum Quitos an dem einzigen draußen platzierten Tisch niedergelassen. Tatsächlich sind wir an diesem Mittwoch gegen 13.00 Uhr die ersten Gäste des Tages. Von unseren Plätzen aus haben wir einen guten Blick auf die früher stets belebte Calle Espejo. 

Das kleine Lädchen schräg gegenüber hat geöffnet, auch ein kleines Restaurant mit einfachem Mittagstisch. Stühle auf der Straße gibt es außer unseren nirgendwo. Frauen mit den Einkäufen für den Tag in einer Plastiktüte gehen vorbei, ein älterer Mann mit Hund in vollständiger Schutzkleidung, eine Mutter mit Kind an der Hand. Als sich zwei Polizistinnen nähern, überlege ich kurz, ob ich trotz des vollen Tellers vor mir meine Mund-Nasen-Bedeckung wieder aufsetzen muss – 100 Dollar Strafe sind bei Verstoß gegen die auch auf der Straße und im Auto geltende Maskenpflicht fällig. 

Die Angst der Regierenden vor dem Volk

Nur wenige Meter weiter in Richtung Plaza Grande, des Sitzes des Präsidenten, des Bürgermeisters und des Erzbischofs, stehen die ersten metallenen Absperrungsgitter, garniert mit NATO-Stacheldraht. Noch kann man daran vorbeigehen, aber man spürt das Bedürfnis von Staats- und Kommunalregierung, sich für den Ernstfall vorzubereiten. 

Masken statt Souvenirs

Die Stimmung ist nicht gut in Quito und in Ecuador. Binnen eines Jahres ist der Anteil jener arbeitenden Ecuadorianer, die mehr als den gesetzlichen Mindestlohn von 400 US-Dollar verdienen, von 37,9% auf 16,7 % gefallen. Mehr als 1,8 Millionen Menschen der Gesamtbevölkerung von 17,3 Millionen haben ihre Arbeit verloren. Und der Staat ist bankrott – das Gehalt für Juli wurde den Staatsbediensteten erst jetzt Mitte August ausgezahlt. Wie wir bei unserem Gang durch das historische Zentrum, in dem sich in früheren Zeiten die ausländischen Touristen tummelten, sehen können, ist gut ein Drittel der kleinen Geschäfte geschlossen, fast keines der zahlreichen Restaurants hat geöffnet. Die teils prächtigen kolonialen Kirchen sind geschlossen, die Museen ebenso. Die Souvenirhändler von einst verkaufen jetzt Masken zu einem Dollar das Stück. Die Polizei ist omnipräsent, aber auch sie lässt inzwischen einige der fliegenden Händler und Marktfrauen, die sich mit wenigen Waren auf dem Boden der Seitenstraßen niedergelassen haben, gewähren. 

Die als UNESCO-Kulturerbe registrierte Altstadt mit ihren geschlossenen Straßenzügen an kolonialen und postkolonialen Gebäuden ist in den vergangenen Wochen zur Corona-Hochburg innerhalb Quitos geworden. Die Wohnungen sind eng, die Verdienstmöglichkeiten ohne Tourismus karg, und spätestens ab 17.00 Uhr, wenn die Parkhäuser schließen, anschließend auch die wenigen Gaststätten zumachen müssen und die Sperrstunde beginnt, ist dies kein Ort mehr zum Bleiben. 

Lähmend: die unendlich große Angst vor dem unsichtbaren Virus

Schlimmer als die in der Stadt herrschende wirtschaftliche Depression aber ist die Angst. Die Angst vor einem unsichtbaren Virus, der nach weit verbreitetem Glauben über Schuhe, Geldscheine und Autoreifen übertragen wird; einem Virus, vor dem man sich in die engen Häuser flüchtet, anstatt an die Luft zu gehen; einem Virus, durch den man vor allem die Kinder gefährdet sieht, die deshalb nicht auf die Straße und unter gar keinen Umständen in naher Zukunft wieder in eine Schule gehen dürfen. „Wir wollen auch diese Impfung, die die Deutschen haben“ (sic) ist ein Wunsch, den eine Bekannte unlängst in den sozialen Medien entdeckte. Das ersehnte Licht am Ende des Tunnels scheint hier noch sehr weit.

22. August 2020

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Nach sieben Wochen Quarantäne: Das erste Mal

Sieben Wochen lang habe ich ihn aufgeschoben, den Besuch im Supermarkt. So lange schon herrscht in Ecuador Ausgangssperre jeweils ab 14.00 Uhr. Außer Einkaufen und Arztbesuchen ist in der Zeit davor nichts erlaubt; einen Vormittag in der Woche darf mein Auto auf die Straße, mein Kennzeichen endet auf 0, das heißt: Freitag. Bisher reichte immer der ausgiebige Besuch im Gemüseladen um die Ecke, der notfalls auch Katzenfutter für unsere neuen Gartenbewohner hat, und ganz bestimmt Klopapier, das hier ein Luxusgut ist, also nie knapp wird. Und wo es morgens um viertel vor sieben sicher noch keine Schlangen gibt.

Heute standen auf der Liste Backschokolade, Currypulver und Salami – keine Chance im Lädchen. Strategische Überlegungen, dann die Entscheidung, kurz vor Toresschluss gegen zwölf Uhr in den Supermarkt im Nachbarort zu fahren (Berechnung: Die Angestellten müssen um 14.00 selbst zu Hause sein, also macht der Laden spätestens um 13.00 zu). Also Maske an, Handschuhe in die Tasche, und raus mit dem Auto, auf die menschenleere Straße. Das Schlagloch um die Ecke ist mit der Regenzeit noch größer geworden, der zur Warnung davorstehende Plastikkegel halb geschmolzen und in sich zusammengesunken. Nachdem ich einmal aus der Siedlung heraus bin, sehe ich viele Wagen, die eigentlich heute nicht dürfen, das System erodiert zusehends.

Einfach so in den Supermarkt – von wegen

Am Einkaufszentrum keine wartenden Autofahrer – die erste Hürde ist genommen. Der eigentliche Spaß beginnt einen Stock höher, vor der Tür zum Lebensmittelparadies: Anstellen auf den aufgemalten Farbpunkten. Ein Mitarbeiter fragt mich nach meinem Namen, notiert ihn. Nur den Vornamen, kein Telefon. Merkwürdig. Einen Schritt weiter: Fiebermessen. Mit den Schuhen durch die Alkoholwanne. Erinnerungen an den Flughafen: „Bitte einmal die Arme hoch“, aber anstatt des Metalldetektors eine Sprühpistole, ich frage lieber nicht, mit was ich hier gerade durchfeuchtet werde. Jetzt noch einmal Desinfektionsgel auf die Hände, und ich bin drin. Bekomme einen Wagen zugeteilt und laufe an der etwas abgegrasten Fleischtheke entlang. 

Sprechen beim Einkaufen nicht erwünscht

Wie immer, wenn ich dieser Tage einkaufe, treffe ich einen Bekannten – schließlich müssen wir alle innerhalb eines kleinen Zeitfensters das besorgen, was für die nächsten acht Tage benötigt wird. Aber die Freude darüber, aus zwei Meter Abstand mit einem Menschen aus Fleisch und Blut sprechen zu können, währt kurz.  „Keine Unterhaltungen bitte“, herrscht uns ein Mitarbeiter an – zu gefährlich. „Señorita, sie laufen in die falsche Richtung. Sehen Sie die Pfeile nicht?“. Hatte ich nicht gesehen, wieder Regelverstoß. Einkaufen kann ziemlich spaßfrei sein.  Auch an der Kasse: „Ihre Ausweisnummer bitte.“ Habe ich als Ausländerin nicht, aber die Kundenkarte rettet mich. Und dann doch ein fast komischer Moment, als sich vier Angestellte auf engstem Raum bemühen, meine Einkäufe in die mitgebrachten Stofftaschen zu füllen. Die Hoffnung auf ein Trinkgeld macht alles Bemühen um Distanzwahrung plötzlich zunichte. 

Die Heimfahrt ist fast Routine. Anstelle der früher überall wartenden Obst- und Gemüseverkäufer am Straßenrand stehen dort jetzt junge Männer, die anbieten, mein Auto zu desinfizieren. Den Zuschlag erhält erst der Wächter an der Einfahrt zur Siedlung – der wusste zwar auch früher schon nicht, mit was er da meine Reifen so sorgfältig abspritzt, aber Pflicht ist Pflicht. Seit meinem Aufbruch ist gerade einmal eine Stunde vergangen. Nächster Ausgang am nächsten Freitag.

08. Mai 2020

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