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Für Dich soll’s rote Rosen regnen – Muttertag in der App

Ein erster virtueller Blumenstrauß beim Aufwachen: „Feliz Día de la Madre!“ WhatsApp ist zum festen Bestandteil unseres Lebens geworden. Oder nein: Es ist das Leben. Brot oder indisches Essen bestellen, Friseurtermin reservieren, die Katze in der Tierklinik anmelden – längst Gewohnheit. Im Archiv des Außenministeriums nachfragen, ob die gesuchte Akte zu einer in den Sechziger Jahren ins Ausland emigrierten Wissenschaftlerin gefunden wurde – nur über den direkten Kontakt zum Handy der Archivarin. Vor einigen Monaten wollte ich für unsere lokale Hilfsorganisation einen Termin mit einer Kirchengemeinde im Süden Quitos vereinbaren und erhielt binnen kurzem eine WhatsApp-Nachricht des Erzbischofs persönlich: Ob ich bitte rasch einmal anrufen könne?

Am heutigen Muttertag gibt das Smartphone gar keine Ruhe. In allen Chatgruppen strömen sie herein, die Bouquets, Gedichte, Grußkarten und Glückwünsche. Der Reitstall gratuliert ebenso wie die Schule, die Gemeinde, die Kollegen, die Nachbarn. Gewiss, auch am Tag des Lehrers und dem des Kindes ist viel Bewegung auf dem Handy, aber der Tag der Mutter, das ist in Ecuador eine Ikone. Ein Tag, der alle angeht, der die Herzen höher schlagen und die Familien zusammenkommen lässt. Der in normalen Jahren den Einzelhandel glücklich macht und die Restaurants zum Bersten füllt. 

Ohne Mariachi kein Muttertag, auch nicht in der Pandemie

Nicht so in diesen Tagen, in denen am Wochenende in sechzehn Provinzen des Landes strenge Ausgangssperre herrscht. Muttertagstechnisch ein Desaster. Keine Besuche bei der Familie, es sei denn, man hat  schon am Freitag Abend Mutter, Ehemann, Kinder und Cousins samt den benötigten Lebensmitteln und Alkoholika in den Pick-up gepackt und ist auf die Hacienda gefahren. Geplante Rückkehr in die Stadt am Montagmorgen. Aber halt, ein Zugeständnis gibt es, vom nationalen Notstandskomitee in letzter Minute gewährt: Die traditionell zum Muttertag angeheuerten Sängergruppen der „Mariachi“ dürfen auch in diesem Jahr den Müttern zu Ehren ihre Ständchen bringen, solange sie auf der Straße bleiben und nicht länger als dreißig Minuten vor dem Haus verweilen. Ein Besuch auf der zentralen Website, eine Nachricht an die dort genannte Nummer, und schon ist der musikalische Gruß an die Mutter in Auftrag gegeben.

Blumen darf man ebenfalls per App nach Hause ordern, ausnahmsweise an diesem Sonntag. Und das Restaurant um die Ecke liefert, irgendwie, wir sprechen mal nicht darüber. Die Nummer der Eigentümerin, wo war die noch…? Die Tageszeitung macht reich bebildert auf mit „Fünf Mütter, fünf Leben“, und kündigt zur Feier des Tages eine vierseitige Sonderbeilage an. Direkt darunter, als wäre es Werbung für lokales Kunsthandwerk, ein nur unwesentlich kleinerer Text: „Spezialisten für Särge und Urnen haben in der Pandemie besonders viel Arbeit“. Diese dumme Realität, die einem immer nur für eine halbe Seite die Feiertagslaune gönnt.

Das größte Geschenk an die Mutter: die Impfung

In Kenntnis dieser Realität versuchten sich manche Ecuadorianer an einem den Umständen angemessenen Geschenk für die Mutter: dem Ergattern einer COVID-Impfung. Die staatliche Sozialversicherung IESS hatte vor wenigen Tagen angekündigt, dass nunmehr alle Bürger über 65 Jahre einen Termin in den sogenannten Impfzentren  reservieren könnten. Da das mit dem Reservieren online oder per Telefon aber oft nicht so recht klappen will, nahmen viele Söhne und Töchter die Dinge entschlossen selbst in die Hand: „Ich werde am Samstag mit meiner Mutter losgehen und schauen, dass sie die Impfung bekommt, egal wie“, verkündete eine Bekannte vor wenigen Tagen. Am 4. Mai sind angeblich 100.000 Dosen Biontech am Flughafen in Quito angekommen, also neues Spiel, neues Glück. Und irgendjemand sagte doch etwas von einer halben Million Dosen Sinovac? Aktuelle Info liefert der Chat mit Freunden und Bekannten.

Wer nicht stundenlang in Sonne und strömendem Regen anstehen will und über das nötige Kleingeld verfügt, wählt die bequeme Variante: Den Flug in die USA. Eine vollkommen rationale Entscheidung: Da die Kosten einer hiesigen Krankenhausbehandlung trotz Versicherung schnell in die Zehntausende von Dollar gehen, scheint ein Flug nach Miami oder Atlanta auch ökonomisch die sinnvollste Lösung. Die Partygespräche (nein, natürlich keine Parties, nur Treffen im Garten unter strengster Einhaltung der Abstandsregeln) dieser Tage sind voll davon: „Wir sind dann einfach von Ort zu Ort gefahren, um zu gucken, wo wir drankommen. Die Kinder in der einen Stadt, mein Mann und ich im Nachbarort. Das war schon Arbeit, und es dauerte lange, aber schließlich hat es geklappt.“

Ein Leben ohne WhatsApp? Nicht denkbar in Ecuador

Koordinierung des familiären Impftermins über die interne WhatsApp-Gruppe, selbstverständlich. Mal so eben so zu einem anderen Anbieter wechseln? Gar ganz darauf verzichten? „Ohne Sinn“, würde unser Siebzehnjähriger dazu sagen. Datenschutz ist eine amüsante Idee in einem Land, in dem man nur die zehnstellige Personalausweisnummer eines Bekannten googeln muss, um beinahe alles über dessen Leben zu erfahren. In einer Zeit, in der man alle Regierungsbeamten im Homeoffice ausschließlich über die grüne App erreicht. Welcher befreundeten Mutter wollte ich noch Blumen schicken? Nie war es einfacher als heute.

Sonntag, 09. Mai 2021

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Mein Haus oder mein Grab

Der Chat unserer gutbürgerlichen Wohnsiedlung am Rande von Quito ist ein von den Nachbarinnen kontinuierlich genutztes Forum, um nach vermissten Haustieren zu fahnden, vor neuen Schlaglöchern zu warnen, die Predigt des Lieblingspfarrers zu teilen oder die vom Neffen vermarkteten Erdbeeren anzubieten. Seit zwei Wochen hat sich der Tonfall dort geändert. Wie legt man seine zwei Schutzmasken beim Verlassen des Hauses korrekt übereinander an? Wieviel Ivermectin sollte ich wann einnehmen? Zusätzlich zum hier weiter beliebten Chlordioxid? Gekrönt von der geradezu schon klassischen illustrierten Aufforderung:  „Du hast die Wahl: „encerrado“ (eingeschlossen) oder „enterrado“ (begraben), in immer neuen Varianten. 

Seit dem 23. April ist die Wahl eigentlich keine mehr: Absolute Ausgangssperre jeweils von Freitag 20.00 Uhr bis zum Montag 5.00 Uhr hat das Nationale Notstandskomitee COE angeordnet. Angesichts langer Wartelisten in den staatlichen Krankenhäusern und einer Übersterblichkeit, die sich allmählich der 100% – Marke im Vergleich zu den Vorjahren nähert. Während immer noch keine Tests zu erschwinglichen Preisen vorhanden sind, und der im Ausland bestellte Impfstoff weiterhin nur tröpfelt. Noch nicht zwei Millionen Impfdosen sind bisher ins Land gekommen, nur 1,2% der Bevölkerung sind vollständig geimpft.

Alternativlos?

An diesem ersten Wochenende zwischen Gemüsegarten, Gesellschaftsspielen und gemeinschaftlichem Fernsehen kommen Erinnerungen an die drei Monate des vergangenen Jahres auf, in denen das Verlassen des Hauses nur einmal in der Woche erlaubt war. Nicht einmal das Ausführen des Hundes ist ein genehmigter Grund, auf die Straße zu gehen. Kein Auto zu hören. Keine Musik aus den Gärten. Nur die Tischtennis spielenden Nachbarn in der Garage. Ob das wirklich nur die Kernfamilie ist…?

Familientreffen als Hauptinfektionsherde

Denn die übliche COVID-Erzählung in Ecuador geht so: „Meine Tante ist letzte Woche am Virus gestorben. Aber meine Mutter hatte es auch, und meine Geschwister, und dann natürlich der Kleine; der Schwiegervater hat es glücklicherweise gut überstanden“. Wie hieß es doch damals in dem Eltern-Chat der Klasse eines meiner Kinder, als die Schulen bereits monatelang geschlossen waren: „In diesem Jahr haben wir gelernt, was wirklich zählt: Familie und Gesundheit“. Nur, dass das eine in Ecuador nicht gemeinsam mit dem anderen zu haben ist. Der neue wochenendliche Lockdown wurde  vor allem verhängt, um die großen Familientreffen und Parties zu verhindern.

Die Seuche hat nun auch die Wohlhabenden mit Macht erreicht. Familien, die mit vier Generationen gemeinsam auf einem riesigen Grundstück leben, sich aber beim sonntäglichen Mittagessen so selbstverständlich nahekommen, wie man es unter Verwandten eben tut. Familien, die die Urgroßmutter mit Symptomen erst nach sieben Tagen in ein Krankenhaus bringen, und sie anschließend wieder in ihre Wohnung holen, um ihr einen würdigen Tod zu bereiten. Familien, die ihre Teenager-Kinder mit Cousins und Freunden abends entspannt feiern lassen, um ihnen die Sozialkontakte zu ermöglichen, die sie für wichtiger und sicherer als Schulunterricht in einem kotrollierten Ambiente halten.  Familien, die aber notfalls auch noch einen Platz im privaten Krankenhaus ergattern oder zum Impfen in die USA fliegen können.

Noch schnell das Notwendigste für die drei Tage zu Hause besorgen

Freitag Abend 18.00: Das Zentrum des Städtchens Cumbayá ist voll von Einkäufern. Noch schnell Öl, Zucker und Kochbananen besorgen, Hundefutter, Getränke. An den Bushaltestellen Trauben von Menschen, Plastiktüten in der Hand. Die Busse nach wie vor gerne mit geschlossenen Fenstern. Vor mir ein offener Lastwagen mit weißen Sauerstoffflaschen, großen und kleinen. Die Listen, wo notfalls Nachschub erhältlich ist, zirkulieren bereits im Netz, Indien lässt grüßen. Die Zahl der bettelnden venezolanischen Flüchtlingsfamilien an der Kreuzung scheint größer als je zuvor – wovon werden sie in den kommenden Tagen leben?

Auch nach einem Jahr Pandemie ist es fast unmöglich, auf offiziellem Wege an verwertbare Daten zu Infizierten und Verstorbenen zu gelangen. Aber es ist zu vermuten, dass die Mehrheit der Corona-Kranken Ecuadors nach wie vor zu Hause stirbt, ohne je einen Test gemacht oder einen Arzt gesehen zu haben. Keine Überraschung, da vor den Toren der großen staatlichen Krankenhäuser dieser Tage oft mehr als 100 Patienten warten. Offiziell wird die Zahl der getesteten und vermuteten Corona-Toten seit Beginn der Pandemie mit etwa 18.000 angegeben; aber allein für das Jahr 2020 verzeichnete das statistische Amt mehr als 40.000 zusätzliche Todesfälle im Vergleich zu 2019. Sterben tun in Ecuador vor allem diejenigen, die keinen Arbeitsvertrag, keine Gesundheitsversorgung, wenig zu essen und keine Lobby haben. Aber eben nicht nur sie.

Nicht einzudämmen: Heimliche Tauffeiern und Geburtstagsfeste

Die Bilanz des ersten Wochenendes zu Hause in den trockenen Zahlen des Notstandskomitees: fast 1500 heimliche Feste aufgelöst, 117 Personen festgenommen, 7% weniger Menschenansammlungen. Und in der jetzt beginnenden Woche, die den auf Freitag vorgezogenen Maifeiertag einschließt, sollten alle Bürger bereits ab Donnerstag Abend in den Häusern bleiben. Aber halt, schon macht die Regierung eine Rolle rückwärts und verkündet für den Feiertag freie Fahrt für freie Bürger. Nur bis acht Uhr Abends, dann schließen sich bis zum Montag wieder die Haustüren, so lange niemand hinschaut. 

Die Leser der vor allem im weißen, bürgerlichen Milieu beliebten Tageszeitung „El Comercio“, zeigen sich in einer Online-Umfrage dementsprechend skeptisch, was die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen angeht.  „Nur im gemeinsamen Gebet werden wir geheilt“, sagt der Nachbarinnenchat. Und durch Händewaschen dreimal am Tag, ja, natürlich.

26. April 2021

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Ausnahmen vom Ausnahmezustand

Sieben Uhr abends am Karsamstag, Im überdachten Hinterhof eines typischen alten Stadthauses in Cuenca, der drittgrößten Stadt Ecuadors, spielt Musik. Auf der Bühne des Restaurants ein singender Gitarrist und ein Saxophonspieler, die die zumeist jungen Gäste mit eigenen Arrangements erfreuen. Es wird geklatscht und gelacht, gut gegessen und der ein oder andere Cocktail genossen. Zwar stehen die wenigen Tische mit Abstand, tragen die Kellner Maske, sind ohnehin nicht allzuviele Menschen da, aber dennoch: Ein unwirkliches Ambiente. Je weiter der Zeiger der Uhr vorrückt, desto mehr. Während wir vorsichtig berechnen, ob die Zeit bis zur Sperrstunde um acht Uhr noch für einen Nachtisch reicht, beruhigt uns der Kellner: „Keine Eile, wir machen dann nur die Türen nach draußen zu. Die Taxis fahren eh auch noch später.“

In der Nacht zu Karfreitag beschloss die Regierung von Präsident Lenin Moreno, nicht nur alle Strände und Nationalparks über die Feiertage zu schließen, sondern mit unmittelbarer Wirkung in acht Provinzen des Landes wieder den Ausnahmezustand zu verhängen: Sperrstunde ab 20.00 Uhr, Autofahren nur an jedem zweiten Tag je nach Kennzeichen, Weiterführung des verpflichtenden Home Office für alle Staatsbediensteten, Fortsetzung der seit März 2020 bestehenden Schulschließungen. Treffen mit Personen außerhalb der Familie seien verboten, ebenso wie der Verkauf von Alkohol am Abend und an den Wochenenden. Das Militär werde die Einhaltung der Maßnahmen überwachen, deren Dauer noch ungewiss sei.

Als die Ecuadorianer am Karfreitag Morgen aufwachten, rieben sie sich verwundert die Augen, und wandten sich wieder ihrem Tagesgeschäft zu. Nach der gängigen Devise, dass in diesem Land nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird.  Auf den Landstraßen waren an diesem Feiertag tatsächlich nur wenige Fahrzeuge unterwegs, aber deren Kennzeichen endeten auf alle nur denkbaren Ziffern. Bis zum Abend erreichten das gegenüber der Regierung und ihren Verlautbarungen weitgehend gleichgültig gewordene Volk immer neue Versionen der Empfehlungen des nationalen Notstandskomitees und des begleitenden Präsidentendekrets.

Ein Präsidentendekret und seine Umsetzung in der Wirklichkeit

Samstag Morgen gegen neun Uhr brechen wir in die Innenstadt von Cuenca auf, und der Spuk scheint vergessen.  In der Kathedrale am Hauptplatz beten die Gläubigen weit verstreut im riesigen Gebäude; davor haben die Verkäufer von Kerzen, Weihrauch und Kochbananenchips ihre üblichen Stände neben den Schuhputzern aufgebaut. Die Autos drängeln sich in den engen Straßen, das Geschäft auf dem Blumenmarkt floriert, und das in einer ehemaligen Entzugsanstalt untergebrachte städtische Museum für Moderne Kunst kann sich über Besuchermangel nicht beklagen. Auch dort die typischen, ineinander übergehenden Innenhöfe, offenen Durchgänge, luftigen Räume. Im gegenüberliegenden Kaffee entspannen junge Familien in der Sonne, studieren Studenten bei einem frischen Obstsaft, teilen Paare das Eis mit dem Hündchen auf dem Schoß.

Mittags sind wir bei einer befreundeten Familie im Garten zum Essen eingeladen. Wo man vorher noch schnell eine gute Flasche Wein bekommen könne, fragen wir die Empfangsdame im Hotel? Der von ihr empfohlene Supermarkt erweist sich als Fehlschlag: Gelbes Klebeband ziert das Weinregal, und die zur Bewachung abgestellte Verkäuferin erinnert uns an die „Ley seca“, das „Gesetz zum Trockenbleiben“, das heute doch gelte. Also Schokolade statt Wein mitbringen. Oder doch nicht? Es klopft an der Tür unseres Hotelzimmers: „Falls Sie eine Flasche brauchen, meine Schwester könnte Ihnen da helfen…“

Wo Tests und Impfungen unerreichbar sind, wird Corona in den Alltag integriert

Seit dem 17. März 2020 lebt Ecuador mit den Maßnahmen zur Bekämpfung von Corona – und um sie herum. Mal mit, mal ohne Ausgangssperre. Mal mit, mal ohne Alkohol. Mit ständig wechselnden Regelungen zum Autofahren. Einige Museen sind geschlossen, andere geöffnet. Restaurants und Hotels dürfen 50% ihrer Plätze besetzen, aber das ist ein dehnbarer Begriff. Auf wenige Dinge kann man sich verlassen: Familien dürfen sich in jeder beliebigen Größe treffen unter Einschluss aller Cousins und der Urgroßeltern; die Regierung und ihre Beamten arbeiten von zu Hause über WhatsApp, und die Schulen bleiben geschlossen. Kostenlose Tests und Impfungen sind für den Großteil der Bevölkerung Ecuadors eine Fata Morgana: Seit Beginn dieses Jahres hat das Land 455.000 Impfdosen erhalten, von denen kaum 250.000 bisher ausgegeben wurden. Schnelltests? Außerhalb des Flughafens von Quito, wo jeder Einreisende verpflichtend getestet wird, ein unbekanntes Wort.

Es ist viertel vor acht an diesem Abend. Wir zahlen, treten auf die dunkle Straße. Am Bremsverhalten der Autofahrer ist leichte Nervosität zu erkennen. Polizei ist keine zu sehen. Wir laufen dennoch zügigen Schrittes Richtung Hotel. Durchqueren die Halle. Zimmertür zu, Maske ab.  Wenn uns Corona eines bisher gelehrt hat ist es, mit Widersprüchlichkeiten zu leben.

3. April 2021

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Einfach mit dem Kind zum Arzt gehen

Daniel Regalado ist ein Gummiball. Veranstaltungsorganisator, Koch, Schauspieler – und seit 2017 Vorsitzender der Vereinigung „Venezuela en Ecuador“. Als er vor elf Jahren aus Caracas nach Quito kam, war die Zahl der Venezolaner vor Ort überschaubar, ihr Verein klein. Aufgrund des nunmehr seit Jahren nicht abreißenden Flüchtlingsstroms aus Venezuela leben mittlerweile rund 435.000 venezolanische Staatsangehörige in Ecuador, davon geschätzte 28.000 in der Hauptstadt Quito. Viele von ihnen haben Kinder. An allen Straßenecken sieht man sie: Familien mit zwei und drei Geschwistern, Eis verkaufend, bettelnd, Schularbeiten machend, schlafend.

Binnen eines Jahr mit Corona ist der Anteil der Armen und Bitterarmen an der Bevölkerung Ecuadors wieder auf das Niveau von 2010 geklettert. Das statistische Amt konstatiert in seinem jüngsten Bericht, dass 32% der Bewohner zur Zeit von weniger als 2,80$ am Tag leben. Das ist etwa so viel, wie ein Liter Öl im Supermarkt kostet. Die allermeisten venezolanischen Flüchtlinge zählen zu den etwa 60% der Bevölkerung, die als „informales“ von der Hand in den Mund leben, ohne Arbeitsvertrag, ohne Krankenversicherung, oft ohne Papiere.

Das Ziel: Eine Arztpraxis für Flüchtlinge und Einheimische

Daniel Regalado hat einen Traum, der gerade Wirklichkeit wird: Mit mehreren befreundeten Ärzten will er eine Arztpraxis für Bedürftige aufbauen, mitten im Zentrum Quitos, im Sektor El Ejido. Einen Ort, wo Mütter mit ihren Kindern zu den Vorsorgeuntersuchungen kommen können; wo Menschen mit geringem oder keinen Einkommen die ärztliche Betreuung finden, die das staatliche Gesundheitssystem nicht leisten kann oder will. Dafür hat er sein ganzes Kontaktnetzwerk in Bewegung gesetzt und zwei gut gelegene Räume preisgünstig angemietet:  „Schauen Sie, die Möbel haben wir als Spende bekommen! Eine amerikanische Kirche hat uns die Farbe für die Wände gestiftet; und eine Textilfirma gibt uns die Kittel. Medikamente bekomme ich von befreundeten Ärzten und von verschiedenen Laboratorien. Noch zwei Wochen, dann sieht das hier alles wunderbar aus!“

In den zwei hellen Zimmern im zweiten Stock eines fast leerstehenden Hauses haben die Initiatoren sich heute getroffen: eine erfahrene Krankenschwester, ein Kinderärzteehepaar, vor drei Jahren als von der Regierung Verfolgte aus Venezuela geflohen: „Wovon wir geträumt haben, das bekommt jetzt eine Form, einen Ort.“ Dank ihrer Ausbildung und Arbeitserfahrung haben sie alle es geschafft, auf dem schwierigen ecuadorianischen Arbeitsmarkt eine Anstellung zu finden. Alle wollen sie nach ihrer Fluchterfahrung jetzt anderen helfen: „Wir haben bisher, auch aufgrund der Pandemie, Diagnosen oft per Telefon gestellt, wir machen Hausbesuche, bieten Beratungstage im Park an – aber es sind einfach zu viele Leute, die medizinische Hilfe brauchen“, sagt die Kinderchirurgin Ximena (Name geändert). 

Die staatlichen Gesundheitszentren sind überlastet

Die einfachen staatlichen Gesundheitszentren können diese Hilfe nicht anbieten: Sie sind mit den vielen Corona-Infizierten unter der ärmeren Bevölkerung beschäftigt, nehmen oft seit langem keine anderen Patienten mehr an. Selbst wo Raum wäre, bleiben die Kranken aus Angst vor einer Ansteckung im Sprechzimmer oder in der Klinik aus. Aufgrund der Wirtschaftskrise sind selbst die Standard-Impfstoffe oft nicht erhältlich. Damit ist „Vorsorge“ oder „Früherkennung“ für viele Menschen, die sich den Besuch in einer privaten Praxis nicht leisten können, zu einem Fremdwort geworden. 

Ab Mitte März soll das neue Zentrum solchen Familien eine Alternative bieten: Wenige Dollar nur müssen für eine normale Untersuchung bezahlt werden, ein wenig mehr für die Überweisung an einen der Spezialisten im Netzwerk. Wer nicht zahlen kann, wird umsonst behandelt. Woher weiß man, ob jemand Geld hat? „Ach, wir kennen hier alle. Und wir haben schon so viel gesehen – man merkt das einfach, ob jemand lügt.“ Ganz wichtig ist es allen Anwesenden, dass nicht unterschieden wird zwischen Venezolanern und Ecuadorianern. „Wir erleben täglich Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung. Aber wir wohnen hier, wir bleiben hier, wir müssen dem Land auch etwas zurückgeben“, sagt Daniel Regalado, der gute Kontakte zum Ombudsmann der Regierung pflegt.

Nach der Gesundheit kommt die Bildung

Sein nächster Wunsch: „Ein Pilotprojekt, um unsere Flüchtlingskinder besser in das hiesige Schulwesen zu integrieren; Nachhilfestunden für Bedürftige und Traumatisierte, in enger Zusammenarbeit mit Psychologen und Ärzten.“ Nur 13.643 venezolanische Kinder im Schulalter sind im Schuljahr 2020/2021 in hiesigen Institutionen eingeschrieben.  „Wir wollen keine Venezolaner mehr“, kann man auf der Mauer einer Schule in Quito lesen. Aber heute sitzen neben den Ärzten eine Grundschullehrerin und ein Englischlehrer, die bereits an einem Plan arbeiten. Die schon jetzt Eltern beraten bei allen Schulproblemen. „Solche Leute habe ich in allen Stadtteilen, in allen großen Städten Ecuadors.“ Wer Daniel Regalado kennt, zweifelt nicht daran, dass er auch dieses neue Projekt in kürzester Zeit Realität werden lassen wird.

3. März 2021

Ab dem 14. April 2021 nimmt die Arztpraxis Anmeldungen entgegen. Das Formular finden Interessierte hier.

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Angst vor Corona und vor der Zukunft – Wahltag in Ecuador

Die Menschenschlange ist unendlich. Sie windet sich um zwei Blocks herum, die Straße hinauf, auf der anderen Seite wieder  herunter und endet schließlich am Eingang der Schule „Benjamin Carrión“ im Stadtteil „Comité del Pueblo“ (Volkskomitee) im Norden von Quito. Um sieben Uhr haben die Wahllokale geöffnet; der nationale Wahlrat hat empfohlen, dass alle Ecuadorianer, deren Ausweisnummer auf eine gerade Zahl endet, bis zwölf Uhr wählen, all die mit einer ungeraden Endziffer dann am Nachmittag. Aber aus Angst, nicht rechtzeitig zum Wahllokal zu gelangen, das um Punkt 17.00 schließen muss, sind viele Wähler früh aufgestanden.

Und nun stehen sie seit zwei Stunden in der Schlange, teils ergeben in ihr Schicksal, teils laut schimpfend: „Wo sehen Sie hier irgendeinen Abstand, es ist eine Schande!“, beschwert sich eine junge Frau. „Hört zu, wir sind von der Stadtverwaltung: Falls Ihr nach der Wahl Symptome spürt, kommt in das Stadion von Calderón, dort führen wir gratis PCR-Tests durch“, rufen zwei in Arztkittel gekleidete Männer in die Menge. „Dies hier ist unmöglich“, fügen sie, zu mir gewandt, hinzu. Die überforderte Wahlleiterin in der Schule möchte am liebsten gar keine Wahlbeobachter in ihren Räumen haben und kann auf Nachfrage nicht sagen, wie viele Wahlpflichtige hier registriert sind. 

Zwischen Wahlpflicht und Angst vor Corona

In einem anderen Wahllokal sollen heute 14.000 Bürger ihre Stimme abgeben. Das bedeutet 1.400  Personen pro Stunde, verteilt auf diverse Wahlräume und Stimmkabinen. In Ecuador besteht Wahlpflicht; wer nicht abstimmt, muss eine Reihe von Behördengängen erledigen und 39,40 US-$ Strafe zahlen, ein Zehntel des Mindestlohns, um das begehrte Papier zu erhalten, das ihm Pflichterfüllung bescheinigt. Wer das Wahllokal verlässt, strebt häufig gleich zu einem der zahlreichen Stände mit Laminiermaschinen, um den ergatterten Schein für die nächste Zeit sicher einzuschweißen: Keine Kontoeröffnung, kein Autoverkauf ohne Wahlbestätigung. Auch wer seinen eigenen Kugelschreiber vergessen hat – neben Maske, Alkohol und Ausweis unabdingbares Requisit in diesen Zeiten – wird in einem der vielen kleinen Schreibwarenläden für 35 Cent fündig. 

Seit Donnerstag Abend ist Wahlwerbung verboten; dennoch hängt direkt neben dem Eingang zur Abendschule Benjamin Carrión noch ein Foto des Kandidaten Arauz; und damit der Wähler gleich weiß, wer die Kampagne von Arauz orchestriert, steht es in dicken Lettern dort: „Correa Liste 1“. Rafael Correa, diktatorischer Staatspräsident bis 2017, wegen Korruption rechtskräftig verurteilt, zur Zeit im Exil in Belgien. In den WhatsApp-Gruppen der reichen Oberschicht kursieren bereits am Nachmittag des Wahltags selbst gedrehte Filme, die dokumentieren sollen, dass in einzelnen Wahllokalen älteren Mitbürgern im Voraus zugunsten von Arauz ausgefüllte Stimmzettel ausgehändigt werden. 

Was kümmern mich die Chats meiner Nachbarn

Ecuador ist ein zutiefst gespaltenes Land, in dem der eine Teil der Gesellschaft nicht weiß, was der andere denkt, und dies auch gar nicht wissen will. Die Unternehmer, Anwälte und Ärzte in den grünen und großen Siedlungen am Rande von Guayaquil und Quito diskutieren bei einem Glas Wein auf der überdachten Terrasse, wohin man am besten emigrieren sollte, und wie man an einen europäischen Pass gelangt, sollte Arauz gewinnen. Die zahlreichen Kleinunternehmer und Ladenbesitzer der unteren Mittelschicht haben ganz andere Sorgen: „Ich verkaufe am Tag Waren im Wert von 40 bis 50 $. Das Gesetz verlangt, dass ich darauf sofort 2% Steuer zahle, nicht auf den Gewinn, sondern auf alle Einnahmen! Die sind verrückt, ich muss Strom, Wasser, Miete bezahlen – was soll ich essen?“, flucht ein Mann, der vor einem anderen Wahllokal auf seine dort wählende Mutter wartet. Und erklärt dem im Sand spielenden Sohn einer Mitwartenden: „Wir sind hier, um einen guten Präsidenten zu wählen. Einen der an das Volk denkt!“. 

7. Februar 2021

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„Diese Schule gehört nicht mir, sie gehört den Kindern“

Elisa ist fünfzehn Jahre alt. Mit ihren sechs Geschwistern und dem verwitweten Vater lebt sie sie auf der Straße: In einigen Autowracks, die am Straßenrand liegen, unter über Ziegelmauern gebreiteten Planen, auf dem noch unbebauten Grundstück daneben. Die Mutter ist vor sieben Jahren wohl an einem Hirntumor verstorben, der Vater arbeitet als Tagelöhner, teilt aber den Tagelohn nicht unbedingt mit seinen Kindern. 

„Als Elisa zu uns kam, war sie beinahe wie ein wildes Tier – sie schaute niemanden an, sie sprach nicht, niemals ließ sie sich berühren“. Mónica Váca, die Leiterin der nach Johann Heinrich Pestalozzi benannten Grundschule in Otavalo im Norden Ecuadors umarmt das Mädchen dennoch. „Wo ist dein Bruder Fabian?“ Fabian musste mit dem Vater in die zwei Stunden entfernte Hauptstadt Quito – offenbar hatte er einen kleineren Unfall, aber das Krankenhaus in Otavalo nimmt zur Zeit nur Corona-Patienten an. „Können wir Deinen Vater anrufen, braucht er Hilfe?“ Nein, eine Telefonnummer hat sie nicht. Der ältere Bruder schaut in sein Handy, aber auch er weiß nicht, wie man den Vater erreichen kann.

Kein Ort für Homeschooling: Wo Elisa und Fabian wohnen.

Schulleiterin Mónica Vaca: Ich wollte eine inklusive Schule

Solche Szenen gehören zum Alltag von Mónica Vaca. Selbst aus Otavalo gebürtig, kam die Lehrerin und Psychologin mit praktischer Erfahrung in der Montessori-Pädagogik vor 26 Jahren in ihre Heimatstadt zurück. Nach mehreren Jahren sozialer und pädagogischer Arbeit in Quito hatte sie sich in den Kopf gesetzt, eine inklusive Schule zu gründen. Einrichtungen für Kinder mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen gab es damals in der Stadt nicht, und die Behörden erklärten sie schlichtweg für verrückt. Das Gebäude mietet sie von der Stadt; ein Gehalt bezieht sie nicht – die Schulleiterin lebt von ihrer Tätigkeit als Psychologin für private Patienten.

Mit zwölf Kindern und unendlich viel Eigeninitiative begann sie damals. Die Zahl der Kinder wuchs über die Jahre stetig, der eigene Beitrag, den die Leiterin und ihre Lehrkräfte leisteten ebenso. Sie sammelten bei Verwandten und Bekannten Möbel, strichen mit Hilfe der Eltern die Wände, richteten sogar eine kleine Bibliothek ein. „Vor drei Jahren hatten wir 93 Kinder, davon 43 mit Behinderungen“. Dann öffnete in Otavalo eine staatliche Schule für behinderte Kinder, und viele Eltern, die 30 Dollar Schulgeld im Monat ohnehin nur mit Mühe aufbringen konnten, wechselten mit ihren Kindern an die staatliche Einrichtung. „Aber das ist nicht dasselbe, dort werden die Kinder nur aufbewahrt, bei uns lernen sie, um später selbständig leben und arbeiten zu können.“

Fast unmöglich: Schule in der Pandemie

Jetzt sind es noch 32 Kinder. Aber seit März 2020 sind alle Schulen geschlossen in Ecuador. Fast alle Eltern sind mittlerweile arbeitslos. Mónica Vaca ist allein mit ihrer Tochter und einer weiteren Lehrerin. Sie versuchen, was menschenmöglich ist: Elisa und Fabian kommen drei- bis viermal in der Woche in ihren Klassenraum. Nur zwei kleine Pulte stehen dort, versehen mit ihren Namen, dazwischen ein gelbes Stühlchen für die Lehrerin. Andere Kinder werden von den Lehrerinnen zu Hause besucht, die ihnen den Stoff erklären. Wieder andere wohnen zu weit, bis zu zweieinhalb Stunden entfernt. Wenige sind über Internet zu erreichen: „Die meisten haben keinen Anschluss; fünf Dollar bezahlen sie wöchentlich, um beim Nachbarn ab und zu über WhatsApp unsere Arbeitsanleitungen herunterzuladen“. Ein informeller Tarif, der in Ecuador seit Beginn der Schulschließungen landesweit gilt, ob in den Bergen oder an der Küste.

Ein geschützter Raum für Kinder mit besonderen Bedürfnissen

Der achtjährige Dylan ist klein und dünn für sein Alter. Als er vor wenigen Jahren in die staatliche Schule kam, konnte er nicht sprechen, lernte nicht zu lesen, konnte nicht schreiben. wurde gehänselt. In der Pestalozzi-Schule und dem angegliederten Maria-Montessori-Zentrum hat er einen geschützten Raum gefunden, Sprechen, Lesen und Schreiben gelernt. „In den staatlichen Schulen gehen manche Eltern so weit, dass sie dem Lehrer Geld anbieten, wenn er Kinder wie Dylan nur irgendwie los wird“, berichtet Patricia, Mónicas Tochter. „Wenn immer wir von solchen Fällen hören, versuchen wir, sie bei uns unterzubringen“. Für viele dieser Kinder wird die Schule ihr Lebensmittelpunkt, ein Ort, an dem sie sich uneingeschränkt wohl fühlen. Die Lehrerin erzählt von zwei krebskranken Geschwistern, die darum baten, in ihrer Schuluniform, in der Schule sterben zu dürfen.

Der ecuadorianische Staat leistet keine Hilfe, auch nicht bei der Finanzierung der Schulspeisung, für viele Kinder die einzige Mahlzeit des Tages. Eine Abordnung von Lehrkräften an die Schule wurde zwar mehrfach seitens der Regierung versprochen – Wirklichkeit wurde sie nie. Zuweilen bittet die Leiterin bei Vereinen und Nichtregierungsorganisationen um Stipendien für die allerärmsten ihrer Kinder. Elisa, Fabian und Dylan werden zur Zeit von den Damas Alemanas aus Quito unterstützt. Aber am Ende sind es doch immer wieder die Lehrer selbst und ihre Familien, die den eigenen Gemüsegarten plündern, Schreibmaterial besorgen und die Toiletten reparieren. „Wir geben den Kindern ein neues Leben“, sagt Mónica Vaca dazu. So einfach ist das.

21. Januar 2021

aktuell zum Thema: „Fernab des Fernunterrichts“, FAZ.net vom 21.01.2021

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Mitten im Leben sind wir immer vom Tod umgeben

Zum ersten Mal hörte ich das Wort „Triage“ im Gespräch mit französischen Freunden in den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie benutzten es für etwas, das sie von uns Deutschen gelernt hatten: Mülltrennung. Das Bild der Container für unterschiedliche Wertstoffe bekomme ich nicht aus dem Kopf, und es verbindet sich auf merkwürdige Weise mit Eindrücken vom Leben und Sterben hier in Ecuador.

Vor wenigen Tagen starb in dem kleinen Städtchen Tumbaco bei Quito die siebenundzwanzigjährige Venezolanerin Vanessa. Sie starb umringt von Verwandten: Ihrer Mutter, ihrer Tante, ihrer Schwester, ihrer Nichte, zweien ihrer drei kleinen Kinder. Gemeinsam waren sie vor rund einem Jahr aus Venezuela über Kolumbien nach Ecuador gekommen. Der Vater der Kinder lebt noch in Kolumbien. Damals wusste die junge Frau schon, dass sie unter Gebärmutterhalskrebs litt.

Unser Hilfsverein deutschsprachiger Frauen, der „Damas Alemanas“, hörte vor einigen Wochen erstmals von Vanessa. Maria Eugenia, die Eigentümerin der kleinen Pizzeria „Weston“ in Tumbaco, hatte uns von ihr und ihrer Familie erzählt. „Maru“, wie man sie hier nennt, kennt scheinbar alle venezolanischen Flüchtlinge im Städtchen. Sie hatte um konkrete Hilfe gebeten: Hygieneartikel, Bettwäsche, ein wenig Essen. Aber sie hatte auch nicht zum ersten Mal von den Schwierigkeiten berichtet, denen Flüchtlinge hier in Ecuador oft ausgesetzt sind: Kein geregelter Status, keine reguläre Arbeit, kein Zugang zu Krankenversicherung oder staatlichen Hilfsleistungen.

In den letzten Tagen hatten sich die traurigen Nachrichten dann gehäuft: Morphium kann der Krebskranken nur im behandelnden Krankenhaus injiziert werden. Das aber liegt 20 km entfernt, die Kranke ist zu schwach für einen Transport im Taxi. Wenige Tage später: „Vanessa braucht sofort Sauerstoff“. Aber bei der Notrufnummer 911 heißt es lapidar, es gebe keinen Krankenwagen, um sie in die Klinik zu bringen. Endlich doch zu nächtlicher Stunde im Krankenhaus angekommen, ist die Auskunft: „Wir können hier nichts tun, nehmen Sie die Patientin wieder mit nach Hause“. Und schließlich die WhatsApp aus der Pizzeria: „Vanessa ist eben gestorben, kommen Sie bitte sofort, sonst nimmt die Polizei die Leiche mit zur Gerichtsmedizin“.

Die Finanzierung der Bestattung hatten wir mit der pragmatischen Maru Stunden vorher geklärt. Ich greife Tasche und Handy, fahre zur Pizzeria. Maria Eugenia wischt sich die Hände ab, stülpt sich den Motorradhelm über das Kopftuch, und führt mich mit dem Motorrad einige Straßen weiter. Vor dem Tor der Unterkunft, in der die Familie lebt, zwei Polizisten in neongelben Warnwesten – um sicherzustellen, dass bei der ausländischen Verstorbenen alles mit rechten Dingen zugeht. Ich versichere, dass das Bestattungsunternehmen informiert ist und für die Ausstellung des Totenscheins sorgen wird. Zur Sicherheit werden aber doch meine Pass- und Telefonnummer notiert. 

Im Innenhof Weihnachtsdekoration, Wäsche, Müll. Erst vor einem Monat ist die Familie hierhergezogen. Mehrere Türen führen zu einzeln vermieteten Zimmern. In dem ersten haben sich die Verwandten um die abgemagerte Tote versammelt, rund zehn weinende Menschen auf drei Betten, den einzigen Möbeln im fensterlosen Zimmer. Reingehen, draußenbleiben? Es ist in Corona-Zeiten noch schwerer als sonst, das Richtige zur richtigen Zeit zu tun. Mutter und Schwester die Hand und nicht nur das Geld geben? Dem einjährigen jüngsten Sohn der Toten über den Kopf streichen? 

„Jetzt, wo Vanessa nicht mehr da ist, hat die Familie mehr Geld zur Verfügung, kann vielleicht vorankommen“, sagt Maru. Was ist ein Menschenleben wert? Und wer bestimmt diesen Wert? Wer Geld oder die richtige Staatsangehörigkeit hat,  bekommt Morphium, der andere nicht. Wer im richtigen Land geboren ist, hat Zugang zu Wasser, Strom und Bildung, wer in in einem anderen zur Welt kommt, nicht. Das eine Staatsoberhaupt fühlt sich seinen Bürgern verantwortlich, das andere treibt sie in Armut, Krieg und Flucht. Die Trennung in Wertvolle und weniger Wertvolle ist da, jeden Tag, überall auf der Welt. Nicht nur auf der Corona-Intensivstation.

18. Dezember 2020

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Licht im Dunkel von Quito: Eurocine-Festival im Kino Ochoymedio

Den Freunden in Deutschland darf man zurzeit manche banalen Dinge nicht erzählen: Wir waren im Kino. Im Ochoymedio, dem 2001 gegründeten einzigen Programmkino Quitos und Ecuadors. Eine gute Woche vor der Eröffnung des 17. „Eurocine“-Festivals. Zusammen mit Charlie Chaplin, Audrey Hepburn und Blak, der Hauptfigur des ecuadorianischem Kultfilms „Blak Mama“ .

Kino in Zeiten von Corona ist anders. Das sehen wir sofort, als uns Mariana Andrade, die Direktorin des Ochoymedio („Achteinhalb“), durch die gerade mit finanzieller Unterstützung aus Deutschland umgestalteten Räume führt. Wie im hiesigen Supermarkt geht auch im Kino der Verkehr nur in eine Richtung, rot oder grün – was angesichts der engen Treppen und Gänge auch in normalen Zeiten noch hilfreich sein dürfte. Der kleinere Kinosaal, in dem heutzutage nur bis zu 16 Personen Platz nehmen dürfen, ist mit viel Fantasie als Wohnzimmer gestaltet worden  – alleine, zu zweit, zu dritt darf man sich dort in Sesseln oder auf dem Sofa niederlassen, Tischchen und Lampen garantieren das vorgeschriebene „distanciamiento social“ von anderen Besuchern.

Wir sind nicht allein im Saal

Im großen Saal „Blak“ belegen Puppen von bekannter Schauspielern, von Charakteren berühmter Filme oder auch schlichte Filmrollen bereits einen Teil der Sitze, damit die erlaubte Anzahl von 32 Zuschauern nicht überschritten wird. „Außerdem haben wir ein neues Lüftungssystem: die Luft bei uns wird permanent umgewälzt, extrahiert und mit Hilfe von Ozon gereinigt. Du kannst Dich hier wirklich entspannen“, erklärt die Kinodirektorin. Geschmackvoll und warm wirkt das Ambiente, so dass das Entspannen und die Konzentration auf „Les Misérables“ von Ladj Ly trotz Maske ziemlich gut gelingen.

„Seit Beginn des Lockdowns Mitte März dieses Jahres waren wir 200 Tage lang geschlossen. Jetzt leuchtet in unserem Stadtteil La Floresta wieder ein Licht“, sagt Mariana Andrade. Es leuchtet in der Tat: Das Kino und das ihm angeschlossene Café mit der künstlerisch gestalteten Litfaßsäule vor dem Eingang sind schon von Weitem zu erkennen, wenn man durch die ansonsten ruhige und dunkle Calle Valladolid spaziert. Licht auch im offenen Wintergarten des Cafés, wo man wieder wie früher mit echten Menschen Stärken und Schwächen des Filmabends diskutieren kann. 

Quito erwacht bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von 85 auf 100.000 Einwohner (gerechnet auf Basis der offiziellen Statistiken, Ecuador gesamt 40) allmählich aus der Schockstarre der vergangenen neun Monate. Viele der kleinen Kunsthandwerksbetriebe und privat betriebenen Lädchen im Viertel haben die lange Zeit der erzwungenen Schließung allerdings nicht überlebt, die „Zu-Verkaufen“-Schilder an zahlreichen Gebäuden sind omnipräsent. Das Kino blickt dennoch hoffnungsvoll in die Zukunft:  „Für die ersten Tage des Eurocine-Festivals sieht es gut aus mit den Reservierungen“, freut sich Daniel Nehm, der deutsche Programmdirektor des Ochoymedio. 

Vom 3.-13. Dezember zeigt das Haus zu drei bis vier Terminen täglich insgesamt 25 Filme aus Ländern der Europäischen Union und der Schweiz. Auch die Städte Cuenca, Guayaquil, Loja und Manta beteiligen sich am Festival. Deutschland ist mit „Baal“ (Volker Schlöndorff, 1977), „System Crasher“ (Nora Fingscheidt, 2019) und „Heimat ist ein Ort aus Zeit“ (Thomas Heise, 2018) dabei. 

Ochoymedio, Valladolid N24-353 / Vizcaya, La Floresta, Quito, Tel.: 00593-2-290 47 21, 00593-2-290 4720, Ticketreservierung: reservas@ochoymedio.net

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Leben und Gesellschaft

Ein totaler Mensch – der Sprachforscher Matthias Abram und sein Haus in San Marcos

 Zwei bronzene Löwenköpfe zieren die Tür des rosafarbenen Hauses in der Calle Junín. Der Löwe als Symbol des Evangelisten Markus war selbstgewähltes Programm des studierten Theologen und Philosophen Matthias Abram: Dieses Haus und sein Besitzer gehörten hierher, in das Stadtviertel San Marcos in der historischen Altstadt von Quito. Ein Bild der Zeitschrift Ñan, erschienen nur wenige Wochen nach seinem Tod im März 2019, zeigt Abram in seiner Straße, vor seinem Haus, mit ausgebreiteten Armen, ein Mann in seinem Element.

Matthias Abram, geboren 1943 und aufgewachsen in einer deutschsprachigen Familie in Südtirol, kam im Jahr 1970 erstmals nach Lateinamerika. In Chile beobachtete er mit einer Gruppe deutscher Freiwilliger die Wahlen, begleitete die Kandidaten während ihrer Kampagne bis zum Wahlsieg Salvador Allendes. 1976 wurde er Koordinator des Deutschen Entwicklungsdienstes für die damals etwa 80 deutschen Freiwilligen in Ecuador. „Ich verliebte mich in das Land. Ich bin ja selbst aus den Bergen, und hier waren die Berge einfach unglaublich“, sagte er im Rückblick auf diese Zeit einmal in einem Interview. Es war aber nicht nur die Landschaft – es waren vor allem die indigenen Bewohner und ihre Sprachen, die Abram faszinierten. 

Von Sprachen fasziniert: Wilhelm von Humboldt und Matthias Abram

Das Haus in San Marcos, das Abram wohl 1985 erwarb, wurde in der kolonialen Zeit erbaut, auch wenn es auf den ersten Blick vor allem republikanische Elemente zeigt. Durch den grünen, säulenumstandenen Innenhof gelangt man über eine enge, dunkle Treppe in den ersten Stock. Beim Betreten des fensterlosen Arbeitszimmers von Matthias Abram fühle ich mich merkwürdigerweise an das viel luftigere, größere Studierzimmer Wilhelm von Humboldts in Schloss Tegel in Berlin erinnert. Vielleicht sind es die Schreibtische, die an beiden Orten so wirken, als sei ihr von der Sprachwissenschaft faszinierter Besitzer mitten in einem Gedanken aufgestanden und komme gleich zurück. 

Als Abram dieses koloniale Haus von dem Journalisten Benjamin Ortiz Brennan kaufte, lebte kein Ecuadorianer, der etwas auf sich hielt, im Zentrum von Quito. Die Gegend war heruntergekommen, galt als gefährlich, als Wohnort des Volkes und der Prostituierten, nicht der guten Gesellschaft. Matthias Abram suchte genau das – ein altes Haus mit Ausstrahlung und Geschichte, mitten im Leben. Zu dieser Zeit begann er für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) an einem Projekt für den bilingualen Schulunterricht indigener Kinder zu arbeiten, das zu seinen besten Zeiten 120.000 Kinder in rund 100 Schulen erreichen sollte. Abram selbst sprach fließend Kichwa; in Guatemala, wo er in den Neunziger Jahren arbeitete, lernte er später Maya und weitere indigene Sprachen. Er bildete Lehrer aus, besuchte Schulen, schrieb Lehrbücher. Und vor allem sammelte er: Sprachen, Bücher, Landkarten, Kunst.

Berichte von Reisenden in und nach Lateinamerika

In der Bibliothek seines Hauses ist eine ganze Wand der Sprachwissenschaft und den Sprachen Lateinamerikas gewidmet. Und vor allem gibt es Reiseberichte: Originalausgaben der Beschreibungen, die europäische Reisende seit dem 16. Jahrhundert über ihre Erfahrungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent verfasst haben. Das Buch „In den Hoch-Anden von Ecuador“ des deutschen Geografen Hans Meyer (1907) liegt dort, die „Reise nach Amazonien“ von Gaetano Osculati, einem italienischen Abenteurer des 19. Jahrhunderts, und Joseph Kolbergs „Nach Ecuador – Reisebilder“ in einer Ausgabe von 1900. Welches Projekt Abram im Sinn hatte, als er diese Bücher auf seinem Schreibtisch unter dem Bild des Lateinamerika-Befreiers Simón Bolívar versammelte, ist bisher nicht bekannt.

Matthias Abram in seiner Bibliothek (© El Comercio)

Nach einigen Jahren in Guatemala, in denen er sich für die GIZ ebenfalls der Verankerung zweisprachiger Bildung im dortigen Schulsystem widmete, kehrte Matthias Abram in sein Haus nach Quito zurück. Er begann, die Zeitschrift „Pueblos indígenas y educación“ (Indigene Völker und Schulbildung) herauszugeben – eine wissenschaftliche Publikation, an der vornehmlich Forscher aus Deutschland und Lateinamerika mitwirkten, und die bis zur Nummer 66 im Jahr seines Todes alle sechs Monate erschien. Ein unwirklich scheinendes Projekt in diesem Land, in dem wissenschaftliche Literatur keinen kommerziellen Markt besitzt und im wesentlichen unter Freunden verteilt wird. Er kuratierte gemeinsam mit dem Kunstsammler Iván Cruz die ständige Ausstellung präkolumbianischer Kunst in der 2010 neueröffneten Casa del Alabado in Quito, er nahm an unzähligen Konferenzen als Vortragender teil, er veröffentlichte Schriften zu Forschungsreisenden früherer Jahrhunderte. Und er suchte und fand die Karten, die diese Reisenden zur Verfügung hatten oder selbst erstellten.

Die größte Kartensammlung Ecuadors

Der Kartenraum im Wohnhaus von Quito ist beeindruckend. Hier befindet sich, darin sind sich ecuadorianische Wissenschaftler einig,  die größte und wichtigste Kartensammlung Ecuadors. Karten überall an den Wänden und auf den Tischen, Darstellungen Lateinamerikas aus dem 16. bis 20. Jahrhundert. Aus einem nachlässig auf dem Boden platzierten Bilderrahmen schaut Alexander von Humboldt den staunenden Besuchern zu, und wie schon im Arbeitszimmer werde ich auch hier das Gefühl nicht los, als habe der Hausherr in seiner Arbeit am Kartentisch nur kurz innegehalten und wolle gleich wieder zurückkehren.

„Matthias hat sich das Viertel von San Marcos zu Eigen gemacht“, heißt es in dem schon erwähnten Artikel der Zeitschrift Ñan. Abrams unermüdlicher Einsatz für die Belange seines Stadtviertels machte ihn für die Nachbarn unwidersprochen zu „einem von uns“.Viele Weggefährten gehen weiter: Dem Reisenden zwischen zwei Welten – zuletzt lebte Matthias Abram jeweils ein halbes Jahr in Bozen, ein halbes Jahr in Ecuador – sei es gelungen, ein Teil dessen zu werden, was Quito ausmacht. Der Anwalt der Indigenen und ihrer Sprachen hatte keine Berührungsängste gegenüber der sogenannten „guten Gesellschaft“; der Liebhaber einheimischer Musikkneipen konnte sich auch über die Zerstörung einer historischen Orgel als Folge der Bodenerschütterung durch den zunehmenden Straßenverkehr in Quito öffentlich aufregen. Sein offenes Umgehen mit der eigenen Homosexualität beförderte die bis dato sehr zögerliche Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Beziehungen in Ecuador.

Was wird aus dem Haus und den Sammlungen?

Die Zukunft des Hauses „im Schatten des Magnolienbaumes“, so der Titel eines in eben diesem Hause spielenden Romans von Benjamin Ortiz Brennan, ist bisher unklar. Sicher ist, dass es zuerst einer Katalogisierung des umfangreichen Bestands an Büchern, Karten, Bildern und Kunstgegenständen bedarf. Ein „totaler, ein der Gemeinschaft zugewandter, solidarischer Mensch“ sei Matthias Abraham gewesen, hieß es in einem Nachruf. Es wäre San Marcos, Quito und Ecuador zu wünschen, dass das Erbe dieses totalen und unendlich wissensdurstigen Forschers so bald wie möglich auch anderen Menschen zugänglich gemacht werden kann.

23. November 2020

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Leben und Gesellschaft

Kartoffeln, dicke Bohnen und Lupinen – Überleben in den Bergdörfern Ecuadors

An der Wand des einfachen Hauses aus Lehmziegeln mit dem gestampften Boden hängen an Haken die Kleider des alten Mannes. Im Halbdunkel erahnt man das ordentlich gemachte Bett. „Hier wohnt mein Großvater; ich lebe dort hinten in dem Haus“, sagt die junge Frau, die uns den Hügel hinaufgeführt hat, und zeigt auf ein einfaches Betonhäuschen, vor längerer Zeit einmal bunt angestrichen. Monteserín Alto heißt das Dorf, in dem wir uns befinden, mit dem Auto eine gute Dreiviertelstunde entfernt von Ascázubi, dem nächsten größeren Ort; rund anderthalb Stunden von Ecuadors Hauptstadt Quito. Eine sogenannte „Comunidad“, eine Siedlung mit vierundzwanzig Familien und 70 Personen, davon ein Drittel Kinder. 

Am 17. März dieses Jahres wurde zur Bekämpfung der Corona-Pandemie in Ecuador der Ausnahmezustand verhängt; von einem Tag auf dem anderen brach der informelle Arbeitsmarkt, in dem gut die Hälfte aller Ecuadorianer ihr Geld verdient, zusammen. Wie viele Arbeitnehmer mit einer regulären Stelle seitdem ihre Anstellung verloren haben, ist den offiziellen Statistiken nicht glaubwürdig zu entnehmen; bekannt ist, dass schon Anfang August dieses Jahres ein Zehntel der 16 Millionen Ecuadorianer zum Überleben auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen waren,  und dass die Zahl der Armen laut Angaben der Vereinten Nationen im vergangenen Jahr von 4,2 auf 6,3 Millionen gestiegen ist. 

Ein großes Problem – Autofahren und Transport in Corona-Zeiten

Seit dem Mai, als die Not im Lande immer größer wurde,  haben wir mit einigen Mitgliedern der „Damas Alemanas“, eines Zusammenschlusses deutschsprachiger Frauen in Quito, regelmäßig Nahrungsmittelpakete für Hungernde gepackt. Aber wie die notleidenden Familien erreichen, wenn, wie viele Monate lang der Fall, strenge Ausgangssperre herrscht und Autofahren eigentlich nur an einem Vormittag in der Woche erlaubt ist? Allein die großen kirchlichen Organisationen, Klostergemeinschaften und Pfarrgemeinden verfügten aus Zeiten vor der Pandemie über enge Kontakte in ihre Sprengel hinein, wussten genau, welche Familien besondere Hilfe benötigten, und waren bereit, auch in schlimmsten Corona-Zeiten zu Fuß oder notfalls mit dem Maulesel 18 Kilogramm schwere Kisten mit Nahrung persönlich bei den Bedürftigen abzugeben. Und notfalls konnten sie auch eine Fahrerlaubnis organisieren.

So ergab sich in den vergangenen Monaten eine regelmäßige Zusammenarbeit der „Deutschen Damen“ unter anderem mit der Ordensgemeinschaft der Franziskaner. Pater Abelardo und Bruder Oscar leben und arbeiten gemeinsam mit einem dritten Bruder in Ascázubi. Sie haben die dreißig am Vortag von vier „Damen“ mit Obst, Gemüse, Käse, Nudeln und Reis, Seife und Alkohol bestückten Kisten mit grüner Wäscheleine auf ihrem Pick-Up befestigt und sind uns über die immer steiniger und schmaler werdende Straße voran gefahren. Hinein in die karge Páramo-Landschaft auf 3.500 Meter Höhe. Jetzt stehen wir inmitten einer Gruppe erwartungsvoller Dorfbewohner, Schals um den Mund geschlungen, Gummistiefel an den Füßen, kleine Kinder im Tuch auf den Rücken gebunden. José, der Vizepräsident der Dorfgemeinschaft, gibt Anweisungen, und wir machen uns als Karawane auf den Weg von Haus zu Haus.

 Fließendes Wasser gibt es nicht in Monteserín Alto. Vor der Tür eines Hauses trocknen die aus der feuchten Erde geernteten Kartoffeln direkt auf dem Boden, um die Erdkruste abzuwerfen; danach kommen sie in die weißen Säcke, die an allen Hauswänden im Dorf stehen. Gekocht wird auf Holzfeuern in großen, schweren Töpfen; die unzähligen Meerschweinchen teilen Küche und Wohnraum mit den menschlichen Bewohnern, bevor sie selbst in den Kochtopf wandern. Außer Kartoffeln werden dicke Bohnen angebaut, und Chocho, eine andine Lupinenart, die in einer anderen ecuadorianischen Welt, die den Menschen hier so fern sein dürfte wie Disneyland, zur Herstellung von Fleischersatzprodukten für Vegetarier genutzt wird. 

10 Dollar für 50 Kilo Kartoffeln

Monteserín Alto lebt von der Hand in den Mund. Zehn US-Dollar erhalten die Bauern vom Zwischenhändler für 50 Kilo Kartoffeln oder Bohnen. Ab und zu wird ein Lamm geschlachtet, vielleicht auch einmal ein Huhn. Die Hühner legten in der Höhe und ohne richtiges Futter kaum Eier, sagen die Franziskanerbrüder. Die Folgen der einseitigen Ernährung sind geringes Wachstum und verlangsamte Entwicklung. Längst nicht alle Kinder im Dorf sind so wach und fröhlich wie das achtjährige Mädchen, das mir mit entschiedener  Stimme alle ihre Vor- und Nachnamen nennt, als sei sie gerade in der Schule aufgerufen worden. Die Zweijährige auf dem Arm ihrer Mutter spricht noch kein Wort und versteht nicht die Namen der Lebensmittel; der vierjährige Junge, der sich hinter den Kartons versteckt, wirkt, als sei er eigentlich zwei Jahre jünger. 

 Drei Wochen reiche ihrer Familie unsere Lebensmittelspende, sagt die alte Frau, die uns durch das ganze Dorf begleitet  hat, ihre Kiste schließlich mit Hilfe der Nachbarn in ein Tragetuch lädt und langsam nach Hause läuft. Auch in den nächsten Wochen wird es bei ihr Bohnen und Kartoffeln geben – aber vielleicht nur an jedem zweiten Tag. „Und zu Weihnachten braten wir ein Lamm – dann müsst Ihr wiederkommen!“.

Hilfe für Monteserín Alto und andere Notleidende in Ecuador:

Damas Alemanas Ecuador Deutschland e.V. , VR-Bank Dinkelsbühl , Stichwort „Coronahilfe“

BIC: GENODEF1DKV

IBAN: DE18 7659 1000 0008 9163 73 

31. Oktober 2020

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